Rückführung eines homosexuellen Gambiers verstösst gegen EMRK
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt in seinem Urteil in Sachen B. und C. gegen die Schweiz eine Verletzung des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK) fest für den Fall, dass der homosexuelle Beschwerdeführer zurück in sein Heimatland Gambia geschickt würde.
Der Beschwerdeführer reiste 2008 in die Schweiz und stellte in der Schweiz mehrere Asylgesuche. Er machte dabei jeweils geltend, dass eine Rückkehr in sein Heimatland Gambia wegen seiner sexuellen Orientierung mit grossen Risiken für sein Leib und Leben verbunden sei, da Homosexualität in Gambia bis heute unter Strafe gestellt werde. Sämtliche Asylgesuche wurden von den Schweizer Behörden abgewiesen. Seit 2014 lebte der Beschwerdeführer mit seinem Schweizer Partner in einer eingetragenen Partnerschaft.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass Rückführungen in ein Land, in dem Homosexualität unter Strafe steht, nicht per se eine Verletzung der EMRK darstellen. Entscheidend sei vielmehr, ob eine reale Gefahr bestehe, dass der Betroffene einer Behandlung ausgesetzt würde, die unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK wäre. In den Augen des Gerichtshofs hatten es die Schweizer Behörden unterlassen, angemessen zu prüfen, ob der Beschwerdeführer in Gambia eine solche unmenschliche Behandlung zu befürchten hätte und ob der gambische Staat in der Lage und gewillt wäre, den Beschwerdeführer vor Übergriffen durch Private zu schützen. Zudem hielt der EGMR fest, dass die sexuelle Orientierung ein fundamentaler Teil der Identität eines Menschen ist und dass niemand dazu verpflichtet werden darf, seine sexuelle Orientierung zu verstecken, um nicht verfolgt zu werden. Unabhängig davon, ob die sexuelle Orientierung des Beschwerdeführers den gambischen Behörden oder der gambischen Bevölkerung bereits bekannt gewesen sei, bestehe die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei seiner Rückkehr entdeckt würde. Gemäss Angaben des UK Home Office sowie des UNHCR seien die gambischen Behörden nicht bereit, LGBTI-Personen Schutz zu gewähren, und es sei angesichts der anhaltenden Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen in Gambia unzumutbar, von einer LGBTI-Person zu erwarten, dass sie bei den dortigen Behörden Schutz sucht.
Urteil 889/19 und 43987/16 der dritten Kammer des EGMR, B. und C. c. Schweiz vom 17.11.2020
Keine Verletzung der EMRK durch Landesverweis eines in der Schweiz Geborenen
Mit Urteil vom 8. Dezember 2020 in Sachen M.M. gegen die Schweiz stellte der EGMR fest, dass die Schweiz mit dem strafrechtlichen Landesverweis eines in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Spaniers nicht gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art.8 EMRK) verstossen hat. Damit stützt der EGMR erstmals eine auf Art. 66a StGB basierende Landesverweisung.
Der 40-jährige Beschwerdeführer war im Jahr 2018 wegen sexueller Handlungen mit Kindern und Betäubungsmittelmissbrauchs zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt worden. Nach einer Berufung der Staatsanwaltschaft sprach das Neuenburger Kantonsgericht eine zusätzliche Landesverweisung von fünf Jahren gemäss Art. 66a StGB aus. Dieses Urteil wurde vom Bundesgericht bestätigt, woraufhin der Spanier vor den EGMR gelangte.
Der Gerichtshof hielt in seinem Urteil zunächst fest, dass Art. 66a StGB trotz seiner Überschrift «obligatorische Landesverweisung» keinen Automatismus für die Ausschaffung straffällig gewordener Ausländer ohne richterliche Prüfung der Verhältnismässigkeit vorsehe. Ein solcher Automatismus wäre mit Art. 8 EMRK nicht vereinbar gewesen. Die Auslegung der Ausnahmeklausel gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB, nach der die «besondere Situation von Ausländern, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind, Rechnung zu tragen ist», sei vorliegend grundsätzlich konventionskonform erfolgt und erfülle die durch den EGMR aufgestellten Kriterien an eine Einzelfallprüfung.
Die verhängte Strafe sei zwar relativ milde, dennoch sei sie härter als etwa im Fall Shala gegen die Schweiz (Nr. 52873/09, 15. November 2012, bedingte Strafe von fünfeinhalb Monaten). In diesem Fall habe der EGMR die Auffassung vertreten, dass die Ausweisung aus der Schweiz für zehn Jahre trotz der relativen Milde der Strafe keine Verletzung von Art. 8 EMRK darstelle. Im vorliegenden Fall gehe es um die Ausweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz für fünf Jahre, was die in Art. 66a StGB vorgesehene Mindestsanktion darstelle. Das Bundesgericht habe des Weiteren erwogen, dass es sich vorliegend um schwere Straftaten gehandelt habe, was mithin zu einer schweren Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führe. Auch sei die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit hoch.
Was schliesslich die familiäre Situation des Beschwerdeführers anbelange, so sei er ein alleinstehender Erwachsener ohne Kinder. Sein Vater sei verstorben, seine Mutter lebe in der Schweiz, aber er habe keine Beziehungen zu ihr oder anderen Mitgliedern ihrer Familie. Der Beschwerdeführer könne auch keine besonderen sozialen, kulturellen, familiären oder beruflichen Bindungen geltend machen. Seine Aussichten auf soziale Wiedereingliederung schienen nicht sehr vielversprechend, da er im Alter von 38 Jahren noch nie gearbeitet oder eine Ausbildung absolviert habe. Hingegen verfüge er über gewisse Spanischkenntnisse und habe in Spanien einige entfernte Verwandte.
Insgesamt hätten die Schweizer Gerichte eine ernsthafte Prüfung der persönlichen Situation des Beschwerdeführers und der verschiedenen auf dem Spiel stehenden Interessen vorgenommen. Sie hätten daher gute Gründe angeführt, um die Landesverweisung des Beschwerdeführers für einen begrenzten Zeitraum zu rechtfertigen.
Urteil 59006/18 der dritten Kammer des EGMR, M.M. c. Schweiz vom 8.12.2020
Schweiz verletzt die Pressefreiheit der SRG nicht
Der EGMR stellt fest, dass die Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit (Art.10 EMRK) nicht verletzt hat, indem sie die SRG und die frühere Vermarktungsorganisation Publisuisse dazu verpflichtet hatte, einen Fernsehspot auszustrahlen, in dem der Sender selbst angegriffen wird.
2011 schaltete der «Verein gegen Tierfabriken» einen Fernsehspot, in dem gesagt wurde: «Was das Schweizer Fernsehen totschweigt.» Diesen Spot wollte SRF damals nicht senden, weil er geschäfts- und rufschädigend sei. Gegen diesen Entscheid klagte der Verein gegen Tierfabriken und bekam vor Bundesgericht recht: Die SRG wurde höchstrichterlich dazu verpflichtet, den Spot auszustrahlen. Daraufhin gelangten die SRG und Publisuisse an den EGMR.
Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil fest, dass die den Beschwerdeführenden auferlegte Verpflichtung, den streitigen Spot zu senden, keinen unverhältnismässigen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäusserung darstelle. Der Eingriff in die Meinungsfreiheit sei in Art. 35 Abs. 2 BV vorgesehen, wonach jeder, der eine Aufgabe im Auftrag des Staates wahrnimmt, verpflichtet ist, die Grundrechte zu achten und zu ihrer Verwirklichung beizutragen. Die fragliche Werbung liege ausserhalb des regulären kommerziellen Rahmens, der die Öffentlichkeit zum Kauf eines bestimmten Produkts anregt. Der Werbespot sei vielmehr Teil einer multimedialen Kampagne gewesen, mit welcher der Verein gegen Tierfabriken auf seine Website aufmerksam machen und Informationen über den Tierschutz verbreiten wollte.
Die SRG sei angesichts ihrer besonderen Stellung in der schweizerischen Medienlandschaft gehalten, kritische Meinungen zuzulassen und ihnen auf ihren Sendekanälen ein Ventil zu bieten, auch wenn es sich dabei um Informationen oder Ideen handle, die beleidigten, schockierten oder verstörten. Zudem sei es für die Fernsehzuschauer offensichtlich gewesen, dass der Werbespot die Meinung eines Dritten darstelle. Er sei zwar sehr provokativ dargestellt worden, aber es handele sich eindeutig um einen Werbespot, der nichts mit dem Programmangebot der SRG zu tun habe.
Urteil 41723/14 der dritten Kammer des EGMR, Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft und Publisuisse SA c. Schweiz vom 22.12.2020