Schweiz wegen nachträglicher Verwahrung verurteilt
In der Rechtssache W. A. gegen die Schweiz stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit), von Art. 7 Abs. 1 EMRK (keine Strafe ohne Gesetz) und von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 (Recht, nicht zweimal verurteilt oder bestraft zu werden) fest.
Der Fall betraf eine nachträgliche Anordnung der Verwahrung. W. A. hatte eine 20-jährige Freiheitsstrafe für zwei Morde verbüsst. Ein psychiatrisches Gutachten hielt bereits bei der Verurteilung fest, W. A. habe die Taten in verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen. Dennoch wurde damals keine Verwahrung angeordnet. Nach Verbüssung der Freiheitsstrafe wurde W. A. direkt in Sicherheitshaft genommen, um die mittlerweile im Strafgesetzbuch eingeführte nachträgliche Verwahrung zu prüfen. Die ursprünglichen Straftaten wurden nicht erneut untersucht. Das zuständige Bezirksgericht verwies auf ein aktuelles psychiatrisches Gutachten sowie auf die Voraussetzungen für die Verwahrung, die bereits im Zeitpunkt der Erstverurteilung erfüllt gewesen seien. Es stellte zudem fest, dass W. A. mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Gewalttaten begehen würde und dass es wenig Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie gebe. In der Folge wurde W. A. in der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies untergebracht, wo er bereits seine Gefängnisstrafe verbüsst hatte.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Anordnung der nachträglichen Verwahrung nicht die Anforderungen an eine eigenständige «Verurteilung» im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK erfüllte. Das Wiederaufnahmeverfahren habe keine ausreichende Verbindung zwischen der ursprünglichen Verurteilung und der anschliessenden Verwahrung hergestellt. Die ursprünglichen Straftaten seien nicht erneut geprüft und keine neuen Tatsachen oder Beweismittel über die Begehung der Straftat oder das Ausmass der Schuld festgestellt worden – sondern nur, ob W. A. die Voraussetzungen für die Verwahrung erfülle. Somit sei die Verwahrung als zusätzliche Strafe anzusehen. Zudem sei der Beschwerdeführer zwar als «psychisch Kranker» im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK einzustufen, welche grundsätzlich verwahrt werden könnten. Jedoch hätte er in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden müssen, auch wenn er als nicht behandlungsfähig gelte.
Sodann erwog das Gericht, dass es zum Zeitpunkt der Straftaten (also im Jahr 1995) nicht möglich gewesen sei, jemanden nachträglich zu verwahren. Zudem sei aufgrund der Tatsache, dass die verhängte Freiheitsstrafe gemäss neuem Strafgesetz vor der Anordnung der Sicherungsverwahrung vollstreckt werde, heute mit einer längeren Haftdauer zu rechnen. Es liege daher eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK vor.
Schliesslich wies der EGMR darauf hin, dass die EMRK es ausdrücklich erlaube, Strafsachen wiederaufzunehmen, wenn neue Tatsachen auftauchen, die so bedeutsam sind, dass sie den «Ausgang des Falles» beeinflussen können. Da vorliegend keine neuen Tatsachen festgestellt worden seien, liege eine Verletzung von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 vor.
Urteil 38958/16 vom 2.11.2021, W. A. c. Schweiz
Staatenimmunität des Vatikans in Missbrauchsprozess bestätigt
In seinem Urteil in der Rechtssache J. C. u. a. gegen Belgien befasste sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zum ersten Mal mit der Immunität des Heiligen Stuhls und entschied, dass die Europäische Menschenrechtskonvention belgische Gerichte nicht verpflichtet, sich mit Klagen gegen den Heiligen Stuhl auseinanderzusetzen.
24 belgische, französische und niederländische Staatsangehörige klagten gegen den Heiligen Stuhl, den Erzbischof der katholischen Kirche in Belgien und dessen beide Vorgänger, mehrere Bischöfe sowie zwei Ordensvereinigungen. Sie legten dabei dar, dass sie als Kinder Opfer sexueller Missbräuche durch katholische Priester geworden seien. Vor belgischen Gerichten beschwerten sie sich in einer Sammelklage über die strukturell mangelhafte Art und Weise, in der die Kirche mit dem Problem des sexuellen Missbrauchs umging. Dabei stützten sie sich auf belgisches Haftpflichtrecht. Unter anderem machten sie geltend, der Heilige Stuhl sei als Auftraggeber für die Handlungen und Unterlassungen der Bischöfe haftbar und könne daher indirekt für die von ihnen begangenen Delikte verantwortlich gemacht werden.
Alle Klagen wurden im innerstaatlichen Verfahren abgewiesen. Die belgischen Gerichte erklärten sich gegenüber dem Heiligen Stuhl für unzuständig und stützten sich dabei auf dessen Immunität als ausländischer Souverän mit den gleichen Rechten und Pflichten wie ein Staat. Die Kläger gelangten in der Folge an den EGMR und machten geltend, dass ihnen der Zugang zu einem Gericht verwehrt worden sei (Art. 6 Abs. 1 EMRK).
Der Gerichtshof stellte zunächst fest, dass der Heilige Stuhl Vertragspartei einiger wichtiger internationaler Verträge sei, Abkommen mit anderen souveränen Einheiten unterzeichnet habe und diplomatische Beziehungen zu etwa 185 Staaten unterhalte. Ihm könnten daher Eigenschaften zuerkannt werden, die mit denen eines Staates vergleichbar seien, weshalb die belgischen Gerichte zu Recht gefolgert hätten, dass es sich um eine souveräne Macht handle, die sich auf die Staatenimmunität berufen könne.
Der EGMR wies darauf hin, dass er anerkannt habe, dass die Gewährung der Staatenimmunität in Zivilverfahren das legitime Ziel verfolge, das Völkerrecht im Interesse der guten Beziehungen zwischen den Staaten einzuhalten. Sodann hätten die belgischen Gerichte die von den Klägern geltend gemachte Ausnahme von der Anwendung der Staatenimmunität hinreichend erwogen.
Die Kläger hatten vorgebracht, dass die Staatenimmunität bei Verfahren, die sich auf eine Klage auf Entschädigung bei Personen- oder Sachschaden beziehen, nicht greife (vgl. Art. 12 des UN-Übereinkommens über die Staatenimmunität aus dem Jahr 2004). Die Anwendung der Ausnahme wurde indes von den belgischen Gerichten abgelehnt mit der Begründung, dass das den belgischen Bischöfen vorgeworfene Fehlverhalten nicht dem Heiligen Stuhl zugerechnet werden könne, da der Papst im Verhältnis zu den Bischöfen nicht Auftraggeber sei.
Die Bischöfe hätten ihre Entscheidungen über den Umgang mit dem Missbrauch eigenständig getroffen, ohne dass der Heilige Stuhl hierfür verantwortlich gemacht werden könne. Des Weiteren sei das dem Heiligen Stuhl unmittelbar zugerechnete Fehlverhalten nicht auf belgischem Hoheitsgebiet, sondern in Rom begangen worden. Gemäss EGMR sei diese Beurteilung durch die belgischen Gerichte weder willkürlich noch offensichtlich unangemessen.
Urteil 11625/17 vom 12.10.2021, J.C. u.a. c. Belgien