Schweiz diskriminiert Witwer bei der Hinterlassenenrente
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Schweiz in Sachen B. gegen die Schweiz wegen einer Verletzung des Verbots der Diskriminierung (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit einer Verletzung des Anspruchs auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK).
Im Verfahren ging es um die Hinterlassenenrente des verwitweten Beschwerdeführers B., die von der zuständigen Ausgleichskasse des Kantons Appenzell Ausserrhoden gestrichen wurde, als dessen jüngstes von zwei Kindern volljährig wurde. B. zog den Entscheid bis vor Bundesgericht. Dieses hielt in seinem Urteil fest, der Gesetzgeber habe im Bundesgesetz über die Alters- und Hinterlassenenversicherung bewusst eine geschlechtsspezifische Unterscheidung vorgenommen. Er sei von der Annahme ausgegangen, dass der Ehemann in der Regel für den Unterhalt der Ehefrau aufkomme – weshalb sie beim Tod des Ehemanns lebenslang auf die Rente angewiesen sei –, während Ehemänner nach dem Tod ihrer Ehefrau für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen könnten. Entsprechend sieht die Regelung im AHV-Gesetz vor, dass ein verwitweter Vater keine Rente mehr erhält, sobald seine Kinder erwachsen sind (Art. 24 Abs. 2 AHVG). Eine verwitwete Mutter erhält ihre Rente ein Leben lang.
Der EGMR hielt in seinem Urteil zunächst fest, dass die Angelegenheit in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK falle, weil der Zweck der Hinterlassenenrente sei, dem überlebenden Ehegatten die Organisation des Familienlebens zu ermöglichen. Auch sei vorliegend der Beschwerdeführer B. im Zeitpunkt des Rentenentscheids bereits 57 Jahre alt gewesen, womit ihm eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt – nach über 16 Jahren, in denen er seine beiden Kinder betreut hatte – schwer gefallen wäre. Des Weiteren entschied der EGMR, dass die Gesetzgebung nicht mehr den heutigen Gegebenheiten entspricht und die Regelung den Beschwerdeführer aufgrund seines Geschlechts diskriminiert. Zwar sei nicht auszuschliessen, dass im Jahr 1948, in dem das AHV-Gesetz erlassen worden ist, eine Bevorzugung bei der Witwenrente der damaligen Rolle der Frau in der Gesellschaft angemessen gewesen sei. Die EMRK sei jedoch ein «lebendiges Instrument», das im Lichte der heutigen Verhältnisse ausgelegt werden müsse. Die Annahme, dass ein Ehemann in jedem Fall finanziell für den Bedarf seiner Ehefrau aufkomme, insbesondere wenn sie Kinder hätten, könne nicht länger gelten und es lägen keine «besonders gewichtigen Gründe» vor, die eine derart unterschiedliche Behandlung der Geschlechter rechtfertigen könnten.
Die Vorlage für die nächste Reform der AHV sieht zurzeit keine Anpassung der gesetzlichen Regelungen der Hinterlassenenrente vor. Eine Angleichung müsste nun im Lichte des EGMR-Urteils Eingang in die Vorlage finden. Offen bleibt, in welche Richtung sie erfolgen müsste: Kürzung der Witwenrente oder Erweiterung der Witwerrente.
Interessanterweise äusserte die Schweizer Richterin Helen Keller eine abweichende Meinung. Darin vertritt sie die Ansicht, dass die Beschwerde im Wesentlichen finanzieller Natur sei, da sie die Zahlung einer Sozialleistung betreffe, und damit gemäss Praxis des EGMR in den Anwendungsbereich von Art. 1 des Protokolls Nr. 1 (dem Schutz des Eigentums) und nicht von Art. 8 EMRK falle. Die Schweiz habe sich gegen die Ratifizierung des Protokolls Nr. 1 entschieden und könne nun nicht durch eine weite Auslegung von Art. 8 EMRK für Verletzungen von Rechten verantwortlich gemacht werden, die eigentlich durch das Protokoll Nr. 1 geschützt werden. Ganz allgemein müsse die Frage nach dem Stellenwert der Protokolle bei der Auslegung der Konvention aufgeworfen und von der Grossen Kammer entschieden werden.
Urteil 78630/12 der dritten Kammer des EGMR B. c. Schweiz vom 20.10.2020
Quellenschutz der Medien: Die Schweiz verletzte die Meinungsfreiheit
Der EGMR verurteilt die Schweiz wegen einer Verletzung der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK). Im Fall Jecker gegen die Schweiz klagte eine Journalistin der Basler Zeitung gegen die ihr auferlegte Pflicht, während einer Strafuntersuchung eine Zeugenaussage zu machen und dabei die Identität ihrer Quelle für den Zeitungsartikel «Zu Besuch bei einem Dealer» über einen Cannabishändler offenzulegen. Das Bundesgericht hatte im Beschwerdeverfahren geurteilt, dass sich Jecker nicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen könne, weil es sich beim Handel mit weichen Drogen gemäss Art. 19 Abatz 2 lit. c BetmG um eine qualifizierte Straftat im Sinne der in Art. 28a Abs. 2 StGB aufgezählten Ausnahmen vom Quellenschutz handle. Ohne ihr Zeugnis könne der Täter nicht gefasst werden. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung überwiege somit jenes des Quellenschutzes.
Der von Jecker am 9. Mai 2014 angerufene EGMR argumentierte hingegen, dass es sich beim journalistischen Quellenschutz um einen wichtigen Pfeiler der Pressefreiheit in einer demokratischen Gesellschaft handle. Eine Verpflichtung einer Journalistin, die Identität ihrer Quellen offenzulegen, sei nicht mit Art. 10 EMRK vereinbar, es sei denn, es stünden überwiegende öffentliche Interessen auf dem Spiel. Dies sei vorliegend nicht der Fall: Es reiche nicht aus zu argumentieren, dass ohne die Offenlegung der Identität der geschützten Quelle eine Strafverfolgung nicht möglich sei. Vielmehr müsse die Schwere der Straftat und das «drängende gesellschaftliche Bedürfnis» an der Strafverfolgung im konkreten Einzelfall in der Interessenabwägung berücksichtigt werden. Vorliegend sei lediglich eine abstrakte Abwägung anhand der Kategorie, in die die Straftat fällt, sowie der allgemein formulierten Gesetzesbestimmung erfolgt. Zudem hätte eine Offenlegung schädliche Auswirkungen auf die Zeitung, weil sich mögliche Quellen aus Angst um ihre Anonymität gegen eine öffentliche Stellungnahme entscheiden könnten.
Urteil 35449/14 der dritten Kammer des EGMR Jecker c. Schweiz vom 6.10.2020
Sicherheitshaft: Schweiz verletzte das Recht auf Freiheit
Der EGMR verurteilt die Schweiz wegen ihres Sicherheitshaftregimes. Der Fall I.S. gegen die Schweiz betraf die Klage eines türkischen Mannes, der erstinstanzlich von verschiedenen Vorwürfen, darunter der mehrfachen Vergewaltigung, freigesprochen worden war. Im Anschluss an das Urteil wurde er auf Antrag der Staatsanwaltschaft vom zuständigen kantonalen Gericht auf der Grundlage von Art. 231 Abs. 2 StPO in Sicherheitshaft versetzt. Das Bundesgericht lehnte ein Haftentlassungsgesuch ab, weil I.S. vom Berufungsgericht zweitinstanzlich zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden könnte, weshalb vorliegend erhebliche Fluchtgefahr bestehe.
Der EGMR hielt in seinem Urteil fest, dass die Sicherheitshaft während des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens von Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK gedeckt werde. Dies sei jedoch nicht der Fall für eine nach dem freisprechenden Urteil fortdauernde Sicherheitshaft. Die Argumentation der Schweiz, dass die Anordnung der Sicherheitshaft nach einem Freispruch nötig sein könne, um gefährliche Individuen von der Flucht oder der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten, weil sie «fälschlicherweise freigesprochen» worden sein könnten, liess der EGMR nicht gelten. Vorliegend seien keinerlei Anzeichen sichtbar, dass das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht fehlerhaft gewesen sei. Zudem müsse das nationale Recht weniger gravierende Massnahmen vorsehen, um das Erscheinen der betroffenen Person vor dem Berufungsgericht sicherzustellen. Als Beispiel erwähnt der Gerichtshof eine Ausweis- und Schriftensperre.
Im Hinblick auf das Vorbringen der Wiederholungsgefahr hielt der EGMR fest, dass im Falle des Vorliegens von spezifischen Verdachtsmomenten für eine erneute Tatbegehung, eine Inhaftierung nach Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK durchaus möglich wäre. Die alleinige Pflicht, keine Straftat zu begehen (die jedermann treffe), sei aber nicht genügend konkret und spezifisch, als dass sie eine präventive Inhaftierung zu rechtfertigen vermöge – dies mindestens so lange, als keine spezifische Massnahme wie die genannte Ausweis- und Schriftensperre gerichtlich angeordnet worden ist, die von der betroffenen Person in der Folge nicht eingehalten wird. Erst dann wäre eine Inhaftierung – diesmal gemäss Art. 5 Abs. 1 lit. b EMRK – möglich.
Urteil 60202/15 der dritten Kammer des EGMR I.S. c. Schweiz vom 6.10.2020