Strassburg aktuell
Schweiz: Verfahrensrechte zweier Väter verletzt
In zwei gegen die Schweiz ergangenen Urteilen stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig Verletzungen von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) fest.
In den Rechtssachen Plazzi gegen die Schweiz und Roth gegen die Schweiz genehmigte die jeweils zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) die Verlegung des Wohnorts der Kinder der Beschwerdeführer durch die Mutter ins Ausland und entschied, dass ein Rechtsbehelf gegen diese Massnahme keine aufschiebende Wirkung hat. Die Entscheide der Kesb wurden somit sofort vollstreckbar. Im Fall Plazzi zog das Kind des Beschwerdeführers mit seiner Mutter am Tag der Zustellung des Entscheids ins Fürstentum Monaco, im Fall Roth brachte die Mutter das Kind einige Tage nach Zustellung des Entscheids nach Deutschland.
Die Beschwerdeführer gelangten an den EGMR und beschwerten sich darüber, dass sie gegen die Entscheide der Kesb vor keinem inländischen Gericht Rechtsmittel einlegen konnten. Nach der Abreise der Mütter und Kinder hatten sich die jeweils angerufenen Gerichte für unzuständig erklärt, über die Beschwerden in der Sache zu entscheiden und deren aufschiebende Wirkung wiederherzustellen. Begründet wurden die Entscheide damit, dass durch die Verlegung des Wohnsitzes der Kinder ins Ausland die internationale Zuständigkeit auf die betreffenden Staaten übergegangen sei (Art. 5 Haager Übereinkommen von 1996). Diese Entscheide wurden vom Bundesgericht gestützt.
Der EGMR hielt in seinen Urteilen fest, dass in bestimmten Ausnahmesituationen, die durch das Kindswohl gerechtfertigt sind, die Dringlichkeit einer bestimmten Situation erfordern kann, dass der betreffende Elternteil den Aufenthaltsort des Kindes ändern darf, ohne die endgültige Entscheidung in der Sache abwarten zu müssen. In solchen Fällen sei die Verfügbarkeit eines wirksamen Rechtsmittelverfahrens, das von einstweiligen Massnahmen begleitet wird, notwendig. Dies schliesst gemäss EGMR nicht aus, dass Verwaltungsbehörden wie die Kesb die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ausnahmsweise aufheben können. In einem solchen Fall muss der betroffene Elternteil jedoch sicher sein, dass er ein Gericht anrufen kann, bevor die Aufhebung der aufschiebenden Wirkung in Kraft tritt, und er muss über das einzuhaltende Verfahren informiert werden.
Gemäss EGMR sind die in den vorliegenden Fällen geltend gemachten Gründe für die Dringlichkeit nicht schwerwiegend genug, um zu rechtfertigen, dass die Beschwerdeführer daran gehindert wurden, vor dem Inkrafttreten der Aufhebung der aufschiebenden Wirkung einen Antrag bei einem Gericht zu stellen. Verfahren wie die vorliegenden könnten schwerwiegende Folgen für die Beschwerdeführer haben, da sie sich unmittelbar auf die Beziehung zu den Kindern auswirken.
In beiden Fällen hatte die Schweiz vorgetragen, dass die Beschwerdeführer die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Entscheide der Kesb hätten beantragen können. Der EGMR stellte indes nach Prüfung der Sachverhalte fest, dass beide Beschwerdeführer ihre Rechtsmittel innert angesetzter Frist eingereicht und entsprechend nicht darauf verzichtet hatten, die Rechtsbehelfe zu nutzen. Im Fall Plazzi reiste die Mutter mit dem Kind bereits am Tag der Zustellung des Kesb-Entscheids, im Fall Roth zwei Tage nach Kenntnisnahme des Entscheids aus der Schweiz aus. Damit hätte auch eine umgehende Einreichung des Rechtsmittels nichts am Übergang der internationalen Zuständigkeit geändert. Bei beiden Verfahren bestand de facto keine Möglichkeit, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs rechtzeitig zu beantragen, um die schweizerische Zuständigkeit zu wahren. Folglich hatten die Beschwerdeführer vor der Ausreise der Kinder ins Ausland keinen Zugang zu einem inländischen Gericht, um die Begründetheit der von der Kesb erlassenen Entscheidung anzufechten und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zu beantragen. Dadurch wurde gemäss EGMR der Kern des Rechts auf Zugang zu einem Gericht verletzt.
Urteile 44101/18, Plazzi c. Schweiz, und 69444/17, Roth c. Schweiz, vom 8.2.2022
Slowakei: Unfaires Verfahren gegen Flüchtlingshelfer
In seinem Urteil in der Rechtssache Al Alo gegen die Slowakei stellte der EGMR einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. d EMRK fest (Recht auf ein faires Verfahren/Recht auf Anwesenheit und Vernehmung von Zeugen).
Der Fall betraf die Beschwerde eines syrischen Staatsangehörigen, der beschuldigt und später verurteilt wurde, versucht zu haben, zwei Flüchtlinge gegen Bezahlung von der Slowakei via Österreich nach Deutschland zu bringen. Vor dem EGMR brachte der Beschwerdeführer vor, dass sein Verfahren und seine Verurteilung wegen des Vorwurfs der Schleusung von Flüchtlingen unfair gewesen seien. Ein wichtiger Teil des Beweismaterials gegen ihn stamme von den Flüchtlingen, denen er geholfen hatte und die lediglich im Vorverfahren befragt wurden. Sie wurden nach der Einvernahme aus der Slowakei ausgewiesen und waren somit bei der Gerichtsverhandlung gegen den Beschwerdeführer nicht anwesend. Der Beschwerdeführer selbst hatte im Vorverfahren keinen Rechtsbeistand und war nicht zu den vorprozessualen Einvernahmen erschienen. Die nationalen Gerichte lehnten die Rechtsmittel des Beschwerdeführers mit der Begründung ab, dass die Einvernahmen als Beweismittel verwertbar seien, weil die Zeugen nach deren Ausweisung unerreichbar gewesen waren. Zudem sei der Beschwerdeführer über die Einvernahmen informiert worden, habe aber selbst entschieden, ihnen nicht beizuwohnen.
Der EGMR stellte fest, dem Beschwerdeführer sei ohne ausreichende Begründung die Möglichkeit genommen worden, Zeugen einzuvernehmen oder einvernehmen zu lassen, deren Aussagen für seine Verurteilung von erheblichem Gewicht waren. Insbesondere sei die Abwesenheit der Flüchtlinge zwar grundsätzlich ein triftiger Grund für die Zulassung ihrer Zeugenaussagen vor der Verhandlung gewesen, doch habe es keine hinreichenden Gründe für ihr Fernbleiben an der Verhandlung gegeben. Die Adressen und Ausweispapiere der Flüchtlinge seien den Behörden bekannt gewesen. Diese hätten es versäumt, Mittel einzusetzen, um das Erscheinen der Zeugen sicherzustellen, wie dies im Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU vorgeschrieben werde. Die Behörden hätten sich zudem vergewissern müssen, dass der Beschwerdeführer, der von Anfang an deutlich gemacht habe, dass er Schwierigkeiten hatte, juristische Sachverhalte zu verstehen, sich der Folgen der Nichtausübung seiner Teilnahmerechte bewusst war. Daher sei das Verfahren gegen ihn insgesamt nicht fair gewesen.
Urteil Nr. 32084/19, Al Alo c.Slowakei, vom 10.2.2022