Schweizer Demoverbot als Covid-19-Massnahme war zu restriktiv
In seinem Urteil in der Rechtssache Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) gegen die Schweiz stellte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) mit vier gegen drei Stimmen fest, dass eine Verletzung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11 EMRK) vorliegt. Es war das erste Mal, dass der Gerichtshof staatliche Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie beurteilt.
Die Dachorganisation der Genfer Gewerkschaften CGAS beschwerte sich darüber, dass ihr das Recht, öffentliche Veranstaltungen zu organisieren und an ihnen teilzunehmen, nach dem Erlass der Verordnung 2 vom 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19-Verordnung 2) entzogen wurde. Öffentliche und private Veranstaltungen wurden ab dem 16. März 2020 verboten. Die Nichteinhaltung des Verbots wurde mit einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe geahndet. Am 26. Mai 2020 wandte sich die Beschwerdeführerin an den EGMR und beschwerte sich darüber, dass sie aufgrund der Verordnung gezwungen gewesen sei, eine für den 1. Mai 2020 geplante Kundgebung abzusagen.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die CGAS zum massgeblichen Zeitpunkt über keinen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf verfügte, mit dem sie eine Verletzung ihres Versammlungsrechts hätte rügen können. Eine Ausnahmebewilligung für eine Veranstaltung hätte aufgrund der vom Bundesrat ausgerufenen «ausserordentlichen Lage» nicht beantragt werden können. Zudem habe auch eine abstrakte Normenkontrolle nicht so rasch erfolgen können, dass die CGAS die Kundgebung am 1. Mai 2020 hätte durchführen können. Das Gericht erklärte die Beschwerde daher für zulässig.
In der Sache erkannte der EGMR zunächst an, dass die Bedrohung der öffentlichen Gesundheit durch Covid-19 gerade zu Beginn der Pandemie ernst war und man noch wenig über die Risiken des Virus wusste, weshalb die Staaten im fraglichen Zeitraum schnell reagieren mussten. Der zu beurteilende Eingriff in die Versammlungsfreiheit hatte denn auch den Schutz der Gesundheit und der Rechte und Freiheiten anderer zum Ziel.
Verbote bestimmter Verhaltensweisen stellen gemäss dem EGMR indes sehr einschneidende Massnahmen dar, die einer stichhaltigen Begründung bedürfen und eine besonders sorgfältige Überprüfung durch die zur Interessenabwägung befugten Gerichte erfordern. Eine solche Überprüfung sei vorliegend indes gerade nicht vorgenommen worden. Vielmehr sei das pauschale Verbot von Versammlungen über einen längeren Zeitraum in Kraft geblieben, was besorgniserregend sei. Bei dringlich erlassenen Massnahmen der Exekutive ohne Einbezug des Parlaments sei eine unabhängige und wirksame gerichtliche Kontrolle umso wichtiger. Auch die vorgesehene Bestrafung bei einem Verstoss gegen die Verordnung war nach Ansicht des Gerichts sehr hart.
Angesichts der Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft und insbesondere der von der CGAS satzungsgemäss geförderten Themen und Werte vertrat der EGMR die Auffassung, dass das pauschale Verbot öffentlicher Veranstaltungen unverhältnismässig war. Es wären mildere Massnahmen wie Hygieneregeln und Distanzregeln möglich gewesen, wie sie zu der Zeit aufgrund der Covid-19-Verordnung 2 auch am Arbeitsplatz galten.
Urteil 21881/20 vom 15.3.2022, Communauté genevoise d’action syndicale (CGAS) c. Schweiz
Schweiz prüfte Risiken für Konvertiten in Pakistan unzureichend
Der EGMR verurteilte die Schweiz am 26. April 2022 einstimmig wegen Verletzungen des Rechts auf Leben und des Folterverbots (Artikel 2 und 3 EMRK). Der Fall betraf die mögliche Ausweisung eines konvertierten Christen nach Pakistan.
Der pakistanische Staatsangehörige reiste 2015 in die Schweiz ein und stellte ein Asylgesuch. Bereits während des Asylverfahrens besuchte er Gottesdienste der Heilsarmee und konvertierte im Jahr 2016 vom Islam zum Christentum. Bei seiner Asylanhörung wurde er von einem Pfarrer seiner Gemeinde begleitet. Auch unterbreitete er den Asylbehörden ein Bestätigungsschreiben seiner Aktivitäten innerhalb der Heilsarmee. Das Asylgesuch wurde 2018 erstinstanzlich und 2020 vom Bundesverwaltungsgericht letztinstanzlich abgewiesen. In der Folge gelangte der Pakistaner an den EGMR. Dieser ordnete einstweilig die Aussetzung des Wegweisungsvollzugs an.
In seinem Urteil stellte der Gerichtshof fest, dass die Schweizer Behörden keine ausreichende Bewertung der Risiken vorgenommen hätten, denen der Beschwerdeführer aufgrund der allgemeinen Situation christlicher Konvertiten in Pakistan und seiner eigenen persönlichen Situation ausgesetzt wäre. Das Bundesverwaltungsgericht habe lediglich festgestellt, dass Christen in Pakistan nicht von kollektiver Verfolgung bedroht seien, die Situation christlicher Konvertiten habe es hingegen nicht speziell untersucht. Dabei werde in verschiedenen Berichten internationaler Organisationen erwähnt, dass Personen, die bekanntermassen zum Christentum konvertiert seien, Zielscheibe von schwerwiegenden Gewalttaten, Einschüchterungen und Diskriminierungen durch nichtstaatliche Akteure sind, die in Einzelfällen auf Verfolgung und schweren Schaden hinauslaufen können. Zudem könne die Konversion zum Christentum als Blasphemie verstanden werden, was in Pakistan strafrechtlich verfolgt werde. Dabei drohten die Todesstrafe oder Freiheitsstrafen von bis zu 25 Jahren.
Das Bundesverwaltungsgericht habe sich ausserdem nicht genügend mit den religiösen Überzeugungen des Mannes und der Art und Weise, wie er sie in der Schweiz ausgelebt habe und in Pakistan auszuleben gedenke, auseinandergesetzt. Auch habe es nicht geprüft, ob seine Familie von seiner Konversion gewusst habe und ob er der Verfolgung und dem Vorwurf der Blasphemie ausgesetzt sein könnte. Die schweizerischen Behörden hätten daher bei der Ablehnung des Asylantrags das Risiko, dem der Beschwerdeführer aufgrund seiner Konversion bei einer Wegweisung nach Pakistan ausgesetzt gewesen wäre, nicht angemessen bewertet, obwohl dies von Amtes wegen hätte geprüft werden müssen. Dies gelte nicht zuletzt, weil er in keiner Phase des innerstaatlichen Verfahrens anwaltlich vertreten gewesen sei.
Urteil 29836/20 vom 26.4.2022, M.A.M. c. Schweiz