Russland verstösst gegen Rechte der Zeugen Jehovas
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat 20 Beschwerden von religiösen Unterorganisationen der Zeugen Jehovas, Verleger religiöser Literatur und einzelnen Mitgliedern der Zeugen Jehovas beurteilt. Dabei ging es um verschiedene Massnahmen, die der Staat Russland über einen Zeitraum von zehn Jahren gegen die Zeugen Jehovas ergriffen hatte. Dazu gehören etwa die Auflage, sich neu registrieren zu lassen, Änderungen der Anti-Extremismus-Gesetzgebung, die zum Verbot ihrer religiösen Literatur und ihres Webauftritts sowie zum Entzug ihrer Genehmigung für den Vertrieb religiöser Zeitschriften führten und schliesslich ein landesweites Verbot der religiösen Organisationen der Zeugen Jehovas in Russland, die strafrechtliche Verfolgung Hunderter einzelner Zeugen Jehovas und die Beschlagnahme ihres Eigentums.
In seinem Urteil vom 7. Juni 2022 stellte der EGMR Verstösse gegen die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK), die Meinungsfreiheit (Artikel 10 EMRK), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11 EMRK), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 EMRK) sowie gegen den Schutz des Eigentums (Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 zur EMRK) fest.
In seiner Begründung führte der Gerichtshof unter anderem aus, dass die Definition von «Extremismus» im russischen Recht zur Verfolgung von Gläubigen oder religiösen Amtsträgern allein aufgrund des Inhalts ihrer Überzeugungen missbraucht wurde. Der Gerichtshof entschied, dass Russland alle erforderlichen Massnahmen ergreifen muss, um die hängigen Strafverfahren gegen die Zeugen Jehovas einzustellen und die Inhaftierten freizulassen.
Das Urteil erging kurz vor der Ankündigung Russlands, sich nicht mehr an Urteile des EGMR zu halten. Ein entsprechendes Gesetz wurde am 11. Juni 2022 vom russischen Präsidenten unterzeichnet. Demnach sollen Urteile, die nach dem 15. März 2022, also nach dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat, ergangen sind, nicht mehr umgesetzt werden. Der EGMR prüft eingehende Anträge gegen Russland noch bis am 26. September 2022.
Urteil 32401/10 vom 7.6.2022 Taganrog LRO et al. c. Russland
Beharren auf E-Beschwerde verletzte Konvention
Der EGMR stellt in einem einstimmig gefällten Urteil fest, dass Frankreich mit dem Zwang zu einer elektronischen Eingabe an ein Berufungsgericht Artikel 6 Absatz 1 EMRK (Zugang zu einem Gericht) verletzte. Im konkreten Fall ging es um die Verpflichtung, ein Verfahren vor dem Berufungsgericht elektronisch über die Plattform «e-barreau» zu führen. Das Berufungsgericht hatte entschieden, dass der auf Papier eingereichte Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung eines Schiedsspruchs zulässig sei, da das Onlineformular die Eingabe dieser Art von Anträgen oder der Eigenschaft, in der die Parteien benannt wurden, nicht zulasse. Der französische Kassationsgerichtshof vertrat indes die gegenteilige Auffassung, namentlich dass der Antrag elektronisch hätte eingereicht werden müssen.
Der EGMR stellte fest, dass es faktisch unmöglich gewesen sei, die Klageschrift auf der e-barreau-Plattform einzureichen. Der Anwalt des Beschwerdeführers hätte das Formular unter Verwendung ungenauer juristischer Begriffe ausfüllen müssen, um die Klage elektronisch auf e-barreau einzureichen. Die französische Regierung habe nicht nachgewiesen, dass sie den Nutzern spezifische Informationen zur Verfügung stellt, wie ein solcher Antrag einzureichen ist. Der Gerichtshof vertrat daher die Auffassung, dass der Kassationsgerichtshof einen zu formalistischen Ansatz verfolgte. Er habe der Vorschrift, dass Verfahren vor dem Berufungsgericht auf elektronischem Wege eingeleitet werden müssen, Vorrang eingeräumt, während er die praktischen Hürden, denen sich der Beschwerdeführer dabei gegenübersah, ausser Acht gelassen habe. Eine solche Vorgehensweise diene nicht der Rechtssicherheit oder ordnungsgemässen Rechtspflege und müsse als unverhältnismässig angesehen werden.
Urteil 15567/20 vom 9.6.2022, Xavier Lucas c. Frankreich
Amnesty-Vorsitzender in der Türkei zu Unrecht in Haft
In seinem Urteil im Fall Taner Kilic (Nr. 2) gegen die Türkei stellte der EGMR Verstösse gegen Artikel 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) und 10 EMRK (Meinungsäusserungsfreiheit) fest. Taner Kilic, Vorsitzender des türkischen Zweigs von Amnesty International, sass wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Organisation Fetö/PDY, die von den türkischen Behörden als «Gülenistische Terrororganisation» bezeichnet wird, 14 Monate in Untersuchungshaft. Die Behörden warfen ihm insbesondere die Nutzung des Messaging-Dienstes Bylock sowie weitere Straftaten vor.
Gemäss dem EGMR-Urteil war die türkische Regierung nicht in der Lage nachzuweisen, dass die von den nationalen Richtern angeführten Beweise zum Zeitpunkt der erstmaligen Inhaftierung oder während der nachfolgenden Haft dem in Artikel 5 Absatz 1 EMRK geforderten Standard eines «begründeten Verdachts» entsprochen hätten, um einen objektiven Beobachter davon zu überzeugen, dass der Beschwerdeführer die Straftaten begangen haben könnte, derentwegen er inhaftiert worden war.
Der Gerichtshof bezeichnete die Inhaftierung von Kilic als rechtswidrig und willkürlich. Er bekräftigte, dass das Fortbestehen eines begründeten Verdachts, dass ein Festgenommener eine Straftat begangen hat, eine unabdingbare Voraussetzung für die Gültigkeit seiner weiteren Inhaftierung ist. In Ermangelung eines solchen Verdachts sah der EGMR im vorliegenden Fall einen Verstoss gegen Artikel 5 Absatz 3 EMRK.
Schliesslich verletzte die Untersuchungshaft im Rahmen des zweiten gegen Kilic eingeleiteten Strafverfahrens wegen Handlungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Menschenrechtsverteidiger stehen, sein Recht auf freie Meinungsäusserung gemäss Artikel 10 EMRK.
Urteil 208/18 vom 31.5.2022, Taner Kilic (No. 2) c. Türkei