Schweiz verletzte Recht auf Leben gleich zweifach
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt die Schweiz wegen zweifacher Verletzung des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK) dazu, nach einem Todesfall auf dem Polizeiposten 50 000 Franken Genugtuung zu zahlen.
Beschwert hatte sich die Mutter eines Mannes, der im September 2014 in Birmensdorf ZH unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss einen Verkehrsunfall verursacht hatte und danach von der Kantonspolizei Zürich für die Abnahme einer Urin- und einer Blutprobe in ein Spital gebracht wurde. Als der Mann erfuhr, dass weitere medizinische Abklärungen nötig seien, wurde er unruhig und äusserte im Spital Suizidgedanken. Die Polizei transportierte den Mann auf den Polizeiposten Urdorf ZH und verständigte den Notarzt, um eine fürsorgerische Unterbringung zu prüfen. Im Posten angekommen, entschieden die Polizisten, den Mann bis zur Ankunft des Arztes in einer nicht überwachten Zelle unterzubringen. Er protestierte heftig und versuchte zu fliehen. Erneut äussert er seine Absicht, sich das Leben zu nehmen. Er wurde gewaltsam in die Zelle gesperrt. Der Arzt traf eine Stunde später ein, wartete jedoch mit der Untersuchung, bis die Polizei Verstärkung organisiert hatte. 40 Minuten nach der letzten Kontrolle suchte der Arzt in Begleitung der Polizisten den Inhaftierten in der Zelle auf, wo er ihn tot auffand. Er hatte sich mit seiner Jeans am Lüftungsgitter erhängt.
Die Beschwerdeführerin reichte Strafanzeige gegen die beteiligten Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung ein. Die Staatsanwaltschaft in Dietikon ZH beantragte beim Obergericht Zürich, die zur Strafverfolgung notwendige Ermächtigung nicht zu erteilen, weil kein Tatverdacht vorliege. Das Obergericht erteilte in der Folge die Ermächtigung nicht. Der Entscheid wurde vom Bundesgericht gestützt.
Deshalb verurteilte der EGMR die Schweiz und erinnerte daran, dass den Staat im Hinblick auf Gefangene eine besondere Schutzpflicht trifft, da diese sich in seinem Gewahrsam befinden. Vorliegend unterliessen es die beteiligten Polizeibeamten gemäss EGMR, Massnahmen zum Schutz des Lebens zu ergreifen, obwohl sie um die Suizidalität des Mannes wussten. Aufgrund der geäusserten Suizidgedanken wäre eine enge Überwachung angebracht gewesen.
Zudem hat die Schweiz laut EGMR das Recht auf Leben auch in prozessualer Hinsicht verletzt, weil sie sich weigerte, den Fall strafrechtlich zu untersuchen. Mit Verweis auf die diesbezügliche bundesgerichtliche Rechtsprechung (1C_633/2013) hielt der EGMR fest, dass die Ermächtigung zur Untersuchung bereits bei einer geringen Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit hätte erteilt werden müssen.
Urteil 23405/16 der 3. Kammer des EGMR S.F. c. Schweiz vom 30.6.2020
Frankreich behandelte Asylsuchende unmenschlich
Fünf Asylsuchende machten geltend, sie hätten von Frankreich nicht die notwendige materielle und finanzielle Unterstützung erhalten und seien deshalb dazu gezwungen gewesen, während mehrerer Monate im Freien zu übernachten – ohne Zugang zu sanitären Anlagen, Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder Schutz vor gewaltsamen Übergriffen. Der EGMR hielt in seinem Urteil fest, dass Frankreich im Falle von drei der fünf Männer das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung gemäss Art. 3 EMRK verletzt hat.
Gemäss französischem Recht hätten die zuständigen Behörden 15 Tage Zeit, um das Asylgesuch einer im Land ankommenden Person zu registrieren und eine temporäre Bewilligung zu erteilen. Bei N.H. verstrichen 95 Tage, bei K.T. 131 Tage und bei A.J. 90 Tage, bis ihre Gesuche registriert wurden. Während dieser Zeit blieb es ihnen aufgrund ihres Status verwehrt, eine Unterkunft oder temporäre finanzielle Unterstützung zu beantragen. Selbst nach der Registrierung wurde den Beschwerdeführern keine Unterkunft zugewiesen. So lebte N.H. während insgesamt 262 Tagen unter einer Brücke in Paris, A.J. während 170 Tagen unter ähnlichen Bedingungen. K.T. lebte ohne irgendwelche Unterstützung währen 185 Tagen am Flussufer der Aude.
Der Gerichtshof stellte fest, dass die Lebensbedingungen der Beschwerdeführer die Schwelle der unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK überschritten hatten. Hinzu komme die Tatsache, dass die inländischen Gerichte in den vorliegenden Fällen systematisch beanstandet hätten, dass es den zuständigen Stellen an Ressourcen mangle. Entsprechend sei eine angemessene Reaktion der Behörden ausgeblieben.
Das Urteil ist angesichts der zahlreichen Dublin-Überstellungen auch für die Schweiz von Bedeutung. Mit Frankreich finden, nach Deutschland und Italien, die meisten «Out-Verfahren» statt, also Verfahren, bei denen Frankreich für das Asylverfahren als zuständig erachtet wird und daher eine Überstellung aus der Schweiz angestrebt wird.
Urteil 28820/13, 75547/13 und 13114/15 N.H. et al. c. Frankreich vom 2.7.2020