EGMR verurteilt Frankreich wegen Datenspeicherung bei Blutspende
Im Urteil in der Rechtssache Drelon gegen Frankreich stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig eine Verletzung von Artikel 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest.
Der Beschwerdeführer war beim Blutspenden beim französischen Blutspendedienst EFS gefragt worden, ob er jemals Sex mit einem Mann gehabt habe. Er verweigerte die Antwort. Daraufhin wurde sein Antrag auf Blutspende abgelehnt.
Als der Mann nach einigen Jahren erneut Blut spenden wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass er von der Spende ausgeschlossen sei, da er in der Datenbank als homosexuell geführt werde. Vor dem EGMR rügte der Beschwerdeführer unter anderem die Erhebung und die Speicherung personenbezogener Daten über seine mutmassliche sexuelle Orientierung.
Der EGMR stellte zunächst fest, dass die Erhebung und Speicherung sensibler Daten von Blutspendekandidaten das Recht auf Achtung des Privatlebens berührte. Zwar trage die Datenerhebung und -speicherung zur Gewährleistung der Sicherheit des Bluts bei. Jedoch sei es besonders wichtig, dass die erhobenen sensiblen Daten richtig, aktuell, sachdienlich und nicht übermässig umfangreich seien. Zudem müsse die Dauer der Datenspeicherung auf das erforderliche Mass beschränkt werden. Die fraglichen Daten seien ohne die ausdrückliche Zustimmung des Beschwerdeführers erhoben und auf Vorrat gespeichert worden, was eine strengere Prüfung der Rechtmässigkeit erfordere.
Bezogen auf den vorliegenden Fall stellte der Gerichtshof fest, dass der Dateneintrag des Beschwerdeführers nur deshalb als Kontraindikation gewertet wurde, weil er sich geweigert hatte, bei der ärztlichen Befragung vor der Spende Fragen zu seinem Sexualleben zu beantworten. Keines der Elemente, die dem Arzt zur Beurteilung vorgelegt wurden, habe einen Schluss auf sein Sexualverhalten zugelassen.
Der EGMR betonte, dass es unangemessen sei, personenbezogene Daten über das Sexualverhalten und die sexuelle Orientierung auf der Grundlage von blossen Spekulationen oder Vermutungen zu erheben. In Frankreich war es homosexuellen Männern bis 2016 verboten, Blut zu spenden. Danach mussten sie noch angeben, ein Jahr lang keinen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Seit März 2021 kann jeder in Frankreich Blut spenden, ohne nach seiner sexuellen Orientierung gefragt zu werden. In der Schweiz gilt immer noch die einjährige Abstinenzfrist.
EGMR-Urteil 3153/16, Drelon c. Frankreich, 8.9.2022
Abschiebung von zwei Tschetschenen nach Russland ist nicht zulässig
Der EGMR verurteilte Frankreich im Zusammenhang mit der Abschiebung von zwei Tschetschenen nach Russland. In beiden Fällen sei das Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK) verletzt worden oder drohe noch verletzt zu werden.
Die Rechtssache R. gegen Frankreich betraf die Abschiebung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft nach Russland, nachdem ihm die Flüchtlingseigenschaft aberkannt worden war. Zuvor war er wegen der Vorbereitung einer terroristischen Handlung verurteilt worden.
Nachdem der EGMR festgestellt hatte, dass der Beschwerdeführer trotz der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft nach französischem Recht Flüchtling im Sinne der Flüchtlingskonvention geblieben war, verwies er auf seine Rechtsprechung: Die Tatsache, Flüchtling zu sein, sei ein Faktor, den die Behörden bei der Feststellung des tatsächlichen Risikos im Falle der Ausweisung einer Person stets besonders berücksichtigen müssen.
Das französische Verwaltungsgericht hatte am Tag vor der tatsächlichen Abschiebung des Beschwerdeführers den von ihm gestellten Eilantrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt, ohne die konkreten Gründe für diese Entscheidung anzugeben. Erst in zwei Urteilen vom Februar 2021, die nach der Abschiebung ergangen waren, hatte das Verwaltungsgericht die Klage des Beschwerdeführers auf Aufhebung der Abschiebungsanordnung mit einer – laut EGMR hinreichenden – Bewertung der Situation des Beschwerdeführers abgewiesen. Diese nachträgliche Einschätzung könne aber die Unzulänglichkeit der früheren Risikoanalyse nicht beheben, da sie eben nach der Abschiebung des Beschwerdeführers erfolgt war.
In der Rechtssache W. gegen Frankreich ging es um die Anordnung der Abschiebung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft, dessen Flüchtlingsstatus widerrufen worden war, weil er unter anderem zweimal nach Russland gereist war, einen russischen Pass erlangt hatte und so wieder den Schutz der russischen Behörden in Anspruch genommen hatte.
Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, dass er im Fall seiner Rückkehr nach Russland Gefahr laufe, verhaftet und gefoltert zu werden. Zudem konnte er mittels zweier an ihn gerichteter Vorladungen des russischen Innenministeriums und Zeugenaussagen von Verwandten beweisen, dass die russischen Streitkräfte nach wie vor nach ihm suchen. Nach Ansicht des EGMR hat der Beschwerdeführer damit nachgewiesen, dass es ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass er bei einer Abschiebung nach Russland der Gefahr einer gegen Artikel 3 EMRK verstossenden Behandlung ausgesetzt wäre.
EGMR-Urteile 49857/20, R. c. Frankreich, und 1348/21, W. c. Frankreich, 30.8.2022
Gekentertes Flüchtlingsboot: Griechenland verletzte Recht auf Leben
In der Rechtssache Safi et al. gegen Griechenland ging es um den Untergang eines Boots mit 27 Geflüchteten in der Ägäis im Jahr 2014, bei dem 11 Menschen ums Leben kamen.
Die 16 Überlebenden trugen vor dem EGMR vor, dass ein Schiff der griechischen Küstenwache mit hoher Geschwindigkeit auf das Boot zugefahren sei, um die Geflüchteten in türkische Gewässer zurückzudrängen. Das habe das Boot zum Kentern gebracht. Die griechischen Behörden ihrerseits argumentierten, dass die Küstenwache das Boot habe an Land ziehen wollen – aufgrund von Panik unter den Passagiere sei es gekentert.
Der EGMR stellte einstimmig eine Verletzung des Rechts auf Leben (Artikel 2 EMRK) in Bezug auf den Tod der 11 Menschen fest. Griechenland habe die sich aus dieser Bestimmung ergebende Pflicht zur Aufklärung der Umstände des Kenterns des Bootes nicht befolgt. Es sei auch keine Erklärung dafür vorgetragen worden, warum die Küstenwache kein geeigneteres Boot angefordert hatte, um die Geflüchteten zu retten. Zudem sei ein Notruf an umliegende Schiffe erst zwölf Minuten nach dem Untergang des Boots gesendet worden. Schliesslich stellte der EGMR eine Verletzung von Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) fest: 12 der Beschwerdeführer seien nach dem Untergang des Bootes erniedrigenden Leibesvisitationen unterzogen worden.
EGMR-Urteil 5418/15, Safi et al. c. Griechenland, 7.7.2022