EMRK erfasst Verweigerung humanitärer Visa auf Botschaften nicht
In der Sache M.N. et al. gegen Belgien ging es um ein syrisches Paar und seine beiden Kinder, die auf der belgischen Botschaft in Beirut humanitäre Visa im Sinne von Art. 25 des EU-Visakodexes beantragt hatten, um in Belgien ein Asylgesuch stellen zu können. Nachdem die belgischen Migrationsbehörden die Anträge mehrfach abgelehnt hatten, gelangten die Antragsteller mit Erfolg an das Brüsseler Berufungsgericht, welches befand, dass die anhaltende Weigerung, die Visa auszustellen, «eine rechtswidrige Handlung» sei. Gegen diesen Entscheid legte der belgische Staat ein Rechtsmittel ein. In der Zwischenzeit entschied der EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren, dass Gesuche um humanitäre Visa, die auf einer Botschaft eines EU-Mitgliedstaates in einem Drittstaat gestellt werden, nicht in den Anwendungsbereich des EU-Visakodexes fielen, sondern in jenen des jeweiligen nationalen Rechts (C‑638/16 PPU vom 7. März 2017). In der Folge stellte das Brüsseler Berufungsgericht fest, dass die Urteile zugunsten der Familie nicht mehr gültig seien, da die ursprüngliche Visaverweigerung in Ermangelung eines Antrags auf gerichtliche Überprüfung endgültig geworden sei.
Die Antragsteller gelangten an den EGMR und machten eine Verletzung ihrer Rechte unter Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung), Art. 13 EMRK (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) sowie Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) geltend.
Die zuständige Kammer überwies die Beschwerde an die Grosse Kammer. Diese hielt in ihrem Urteil fest, Art. 1 EMRK beschränke den Geltungsbereich der Konvention auf Personen, die der Gerichtsbarkeit der Vertragsstaaten unterstehen. Die Tatsache, dass auf nationaler Ebene getroffene Entscheidungen Auswirkungen auf die Situation von im Ausland ansässigen Personen haben, sei nicht geeignet, die territoriale Zuständigkeit des betreffenden Staates für diese Personen – die ansonsten keinerlei Verbindung zu ebendiesem Staat haben – ausserhalb seines Hoheitsgebiets zu begründen. So hätte Belgien bzw. das diplomatische Corps auf der Botschaft in Beirut nie de facto Kontrolle über die Antragsteller ausgeübt. Die Antragsteller hätten frei entschieden, einen Antrag auf der belgischen Botschaft zu stellen, wobei sie sich auch an jede andere Botschaft hätten wenden können. Der vorliegende Fall unterscheide sich klar von jenen, in denen sich die Asylsuchenden auf dem Territorium des ersuchten Staates oder direkt an dessen Grenze befinden und entsprechend klar unter dessen Gerichtsbarkeit fallen würden.
Schliesslich spreche auch die bisherige Praxis des EGMR gegen die Annahme eines aussergewöhnlichen Umstands, der die extraterritoriale Gerichtsbarkeit Belgiens hätte begründen können. Ein anderes Ergebnis würde eine schier unbegrenzte Verpflichtung der Vertragsstaaten schaffen, jedem Individuum, das ausserhalb seiner Gerichtsbarkeit der Gefahr einer gegen die EMRK verstossenden Misshandlung ausgesetzt sein könnte, die Einreise zu gestatten. Der EGMR entschied, dass die vorgebrachten Umstände nicht in die Zuständigkeit Belgiens und damit auch nicht in den Geltungsbereich der EMRK fielen.
Der EGMR hatte noch vor Kurzem im Fall N.D. und N.T. gegen Spanien festgehalten, dass die Option, auf Botschaften Anträge für humanitäre Visa zu stellen, eine legale Einreise ermögliche, womit er im Resultat Push-Backs der spanischen Behörden an Grenzübergängen zu Marokko rechtfertigte. Indem der Gerichtshof nun den Geltungsbereich der EMRK für ebendiese Botschaftsverfahren mangels Gerichtsbarkeit der Vertragsstaaten ausschliesst, schafft er ein Vakuum und schränkt den wirksamen Schutz asylsuchender Menschen weiter empfindlich ein.
Urteil 3599/18 der Grossen Kammer des EGMR M.N. et al. c. Belgien vom 5.5.2020
Muslimische Gefangene dürfen auch während der Schlafenszeit beten
Im Fall Korostelev gegen Russland urteilte der EGMR über die Beschwerde eines russischen Häftlings betreffend dessen Rechte unter Art. 9 EMRK (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit). Der Antragsteller war in einem russischen Gefängnis für das Beten während der obligatorischen nächtlichen Schlafenszeit mit einem Verweis gerügt worden. Vor dem EGMR machte der Häftling geltend, es sei seine religiöse Pflicht, als praktizierender Muslim fünf Mal am Tag zu beten, somit auch während der frühen Morgenstunden.
Der EGMR hielt in seinem Urteil fest, dass die Verhängung einer Disziplinarstrafe gegen den Antragsteller, selbst in einer so milden Form wie einem Verweis, einen Eingriff in dessen Recht auf Religionsfreiheit darstelle. Die formalistische Art, mit der die Disziplinarordnung durchgesetzt worden sei, habe die individuelle Situation des Antragstellers offensichtlich ausser Acht gelassen und halte einer Verhältnismässigkeitsprüfung und Interessenabwägung nicht stand. Nichts habe darauf hingedeutet, dass das nächtliche Gebet des Antragstellers eine Gefahr für die Ordnung oder Sicherheit im Gefängnis darstellte. Der Gefängniszeitplan sehe überdies nicht ausdrücklich «Zeit für den Gottesdienst» oder «persönliche Zeit» vor, die von den Gefangenen nach eigenem Ermessen hätte genutzt werden können, wie dies in den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen empfohlen sei.
Schliesslich habe die Disziplinierung nicht nur die Chancen des Antragstellers auf vorzeitige Entlassung oder Milderung der Haftbedingungen verringert, sondern auch eine abschreckende Wirkung auf andere Gefangene entfaltet. Die russischen Gerichte hätten es versäumt, diese Auswirkungen in die Verhältnismässigkeitsprüfung miteinzubeziehen.
Alles in allem könne der Eingriff in die Religionsfreiheit des Antragstellers nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden, womit eine Verletzung von Art. 9 EMRK vorliege.
Urteil 9290/10 der 3. Kammer des EGMR Korostelev c. Russland vom 12.5.2020