Schweiz verletzte Anspruch auf unparteiliches Gericht
In seinem Urteil in der Rechtssache Sperisen gegen die Schweiz stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 § 1 EMRK) fest.
Der Fall betraf das Strafverfahren gegen den ehemaligen Polizeichef Guatemalas, Erwin Sperisen. Das Genfer Kantonsgericht hatte Sperisen im April 2018 wegen Gehilfenschaft zu mehrfachem Mord zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt.
Das Urteil wurde im November 2019 vom Bundesgericht bestätigt. Im Straffall ging es um eine Polizeioperation im September 2006 in Guatemala, mit der die Kontrolle über ein Gefängnis zurückerlangt werden sollte. Dabei wurden sieben Häftlinge getötet.
Sperisen machte vor dem EGMR geltend, die vorsitzende Richterin im Berufungsverfahren sei befangen gewesen, weshalb sein Recht auf ein unparteiliches Gericht verletzt worden sei. Die Richterin hatte zuvor als Haftrichterin ein Haftentlassungsgesuch Sperisens abgelehnt, woraufhin Sperisen über zwei Monate später die Befangenheit der Richterin monierte. Diese hielt in einer Stellungnahme vom 3. Oktober 2017 zum Ausstandsgesuch fest, dass dieses zu spät gestellt worden sei und ohnehin als unbegründet abgewiesen werden müsse, was denn auch geschah. Auch ein zweites Ausstandsgesuch, das die Unparteilichkeit der Richterin wegen des Inhalts der erwähnten Stellungnahme in Frage stellte, wurde abgewiesen.
Der EGMR stellte in seinem Urteil zunächst fest, dass die Beschwerde in Bezug auf die Erwägungen der Richterin im Beschluss zum Haftentlassungsgesuch unzulässig war, weil der Beschwerdeführer das Ausstandsgesuch nicht «ohne Verzug» gestellt (Artikel 58 StPO) und damit den innerstaatlichen Rechtsmittelweg nicht ausgeschöpft hatte.
In Bezug auf die Stellungnahme der Richterin vom 3. Oktober 2017 hielt der EGMR jedoch fest, dass zwar nichts darauf hindeutet, dass die Richterin dem Beschwerdeführer aus persönlichen Gründen feindselig gegenübergestanden habe. Jedoch hatte sie gesagt, dass es «genügend Beweise» gebe, die darauf schliessen liessen, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers «wahrscheinlich» sei und das Material in der Strafakte «weiterhin für die Schuld des Beschwerdeführers spreche».
Diese Äusserungen gingen gemäss EGMR über den Ausdruck eines «blossen Verdachts» hinaus und zeigten, dass der Grat zwischen der Beurteilung der Verlängerung der Untersuchungshaft und der Feststellung der Schuld am Ende des Verfahrens sehr schmal geworden war. Daraus folge, dass der Beschwerdeführer berechtigterweise habe befürchten können, dass die Richterin eine vorgefasste Meinung über seine Schuld hatte, als sie mehrere Monate später als Vorsitzende des Berufungsgerichts über seinen Fall mitentschied. Die Befürchtung des Beschwerdeführers, dass die Richterin nicht unparteiisch gewesen sei, sei daher objektiv begründet.
EGMR, Urteil 22060/20 vom 13.6.2023, Sperisen c. Schweiz
Aufenthaltsbewilligung zu Unrecht verweigert
In der Rechtssache Ghadamian gegen die Schweiz stellte der EGMR einstimmig eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) fest. Der Fall betraf einen heute 83-jährigen Iraner, der sich seit 1969 in der Schweiz aufhält, bis 2002 mit einer Niederlassungsbewilligung. Zwischen 1988 und 2004 wurde er mehrmals wegen verschiedener Straftaten verurteilt, insgesamt zu rund fünf Jahren Freiheitsstrafe. Zudem wurde er 2002 für fünf Jahre des Landes verwiesen.
Der Ausreisepflicht kam er nie nach. Im Jahr 2008 beantragte er erfolglos die Wiedererteilung der Niederlassungsbewilligung. Wenige Monate später und dann erneut 2015 und 2016 stellte er Gesuche um Erteilung einer Rentnerbewilligung. Den letzten Negativentscheid der Migrationsbehörden zog er bis ans Bundesgericht weiter, welches seine Beschwerde ablehnte. Der Beschwerdeführer gelangte in der Folge an den EGMR.
Der Gerichtshof stimmte zunächst der Einschätzung des Bundesgerichts zu, der Beschwerdeführer könne sich nicht auf das Recht auf Achtung des Familienlebens gestützt auf ein Abhängigkeitsverhältnis zu seinen erwachsenen Kindern beziehen, weil er selbständig lebe. Des Weiteren hielt der Gerichtshof fest, dass eine Person, die sich unrechtmässig in einem Land aufhält, sich bei Ablehnung der Bewilligungserteilung nur ausnahmsweise auf Artikel 8 EMRK berufen kann.
Im vorliegenden Fall habe der Beschwerdeführer aber während 33 Jahren rechtmässig in der Schweiz gelebt und in dieser Zeit sein Privatleben aufgebaut, weshalb der EGMR alle relevanten Faktoren in die Beurteilung des Falls miteinbezog. Der EGMR hielt fest, dass die privaten Interessen des Beschwerdeführers und die besonderen Umstände des Einzelfalls von den Schweizer Behörden nicht hinreichend berücksichtigt worden waren. So habe der Beschwerdeführer schon seit einer langen Zeit – nämlich über 49 Jahre – in der Schweiz gelebt, und er pflege familiäre und emotionale Bindungen, die er bereits während seines rechtmässigen Aufenthalts aufgebaut hatte. Zudem sei er ins Schweizer Arbeitsleben integriert gewesen und habe eine AHV-Rente bezogen. Auch bestünde Ungewissheit bezüglich seiner verbleibenden Beziehungen zum Iran.
Schliesslich hätten die Schweizer Behörden die Tatsache, dass er seit 2005 keine schweren Straftaten mehr begangen hatte, in ihren Erwägungen berücksichtigen müssen. Somit hätten sie dem öffentlichen Interesse ein übermässiges Gewicht beigemessen, indem sie dem Beschwerdeführer die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Rentner verweigerten.
EGMR, Urteil 21768/19 vom 9.5.2023, Ghadamian c. Schweiz
Rumänien verletzt Rechte gleichgeschlechtlicher Paare
In einem wegweisenden Urteil zu gleichgeschlechtlichen Paarbeziehungen verurteilte der EGMR Rumänien für eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK). In der Rechtssache Buhuceanu und andere gegen Rumänien beschwerten sich 21 gleichgeschlechtliche Paare. Alle hatten bei ihren örtlichen Standesämtern die Absicht angemeldet, heiraten zu wollen. Alle Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass sie gegen die Artikel 271 («Die Ehe wird zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen») und 277 § 1 («Die gleichgeschlechtliche Ehe ist verboten») des rumänischen Zivilgesetzbuchs verstossen würden.
Der Gerichtshof stellte in seinem Urteil fest, dass Rumänien verpflichtet ist, gleichgeschlechtliche Beziehungen angemessen anzuerkennen und zu schützen, auch wenn das Land über die Form und den gewährten Schutz selbst entscheiden kann. Kein Argument der Regierung in Bezug auf die gleichgeschlechtliche Ehe konnte das Interesse der Beschwerdeführer an der Anerkennung ihrer Lebensgemeinschaft aufwiegen.
Vor allem wies der Gerichtshof das Argument Rumäniens zurück, private Verträge könnten das gleiche Schutzniveau gewährleisten. Mit dem Urteil schuf der EGMR einen Präzedenzfall für alle 46 Europaratsmitglieder, von denen 15 immer noch keine gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anerkennen.
EGMR, Urteil 20081/19 und 20 vom 23.5.2023, Buhuceanu et al. c. Rumänien