Schweiz verletzt Rechte von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen
In seinem Urteil in der Rechtssache B.F. und andere gegen die Schweiz stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in drei von vier der behandelten Fälle eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat und Familienlebens fest. Die vier Betroffenen reisten zwischen 2008 und 2012 in die Schweiz ein und wurden als Flüchtlinge anerkannt. Es wurde ihnen aber kein Asyl gewährt, weil davon ausgegangen wurde, dass ihre Verfolgungsfurcht erst durch die illegale Ausreise aus ihren Heimatländern Eritrea und China entstanden war. Das führt gemäss Artikel 54 AsylG zum Asylausschluss. Stattdessen wurden sie als Flüchtlinge vorläufig aufgenommen.
Die vor den EGMR gebrachten Fälle betrafen die Verweigerung der Nachzüge enger Familienmitglieder der Beschwerdeführer. Gemäss den Schweizer Behörden waren die hierfür notwendigen Bedingungen gemäss Artikel 85 Absatz 7 AIG nicht erfüllt, namentlich aufgrund der bestehenden Sozialhilfeabhängigkeit der Beschwerdeführer. Der Gerichtshof stellte bei drei Beschwerdeführern fest, dass die Schweizer Behörden das öffentliche Interesse an einer Steuerung der Zuwanderung zum Schutz des wirtschaftlichen Wohls des Landes zu stark gewichtet hätten. Das Interesse der Beschwerdeführer am Nachzug ihrer Familien angehörigen hingegen habe die Schweiz zu wenig berücksichtigt.
Zwei Beschwerdeführer waren zwar erwerbstätig, sie konnten jedoch aufgrund ihres zu niedrigen Lohns oder aufgrund von Betreuungsaufgaben ihren Lebensunterhalt mit ihrem Einkommen nicht vollständig decken. Die dritte Beschwerdeführerin war nach der Verweigerung des Familiennachzugs als arbeitsunfähig erklärt worden und bezieht heute Beiträge der Invalidenversicherung. Der EGMR hielt fest, dass die starre Anwendung der Anforderung, nicht auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, zu einer dauerhaften Trennung der Familien führen würde.
Er bezog dies auf Fälle, in denen Betroffene nicht in der Lage sind, die Einkommensanforderungen für den Familiennachzug zu erfüllen, obwohl sie alles vernünftigerweise Erwartbare getan haben. Das sei mit Artikel 8 der Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht vereinbar. Im vierten Fall stellte der EGMR indes fest, dass die Schweizer Behörden ihr Ermessen nicht überschritten hatten, als sie bei der In teressenabwägung die mangelnde Initiative der Beschwerdeführerin berücksichtigten. Sie wäre in der Lage gewesen, zumindest Teilzeit zu arbeiten. Ihr Antrag auf Famili enzusammenführung wurde abgelehnt.
EGMR, Urteile 13258/18, 15500/18, 57303/18 und 9078/20 vom 4.7.2023, B.F. et al. c. Schweiz
Schweiz diskriminiert Spitzenathletin
Mit einer knappen Mehrheit von vier zu drei Stimmen stellte der EGMR im Urteil Semenya gegen die Schweiz eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) sowie eine Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK) fest. In der Rechtssache ging es um die südafrikanische Spitzenathletin Caster Semenya, die mit XY Chromosomen und einem natürlich erhöhten Testosteronspiegel aufgrund einer Varianz der Geschlechtsentwicklung geboren wurde.
Sie beschwerte sich über Vorschriften des Internationalen LeichtathletikVerbands (heute: World Athletics), die von ihr eine Hormonbehandlung zur Senkung ihres Testosteronspiegels verlangen, um an internationalen Wettkämpfen in der Kategorie «Frauen» teilnehmen zu können. Da sie sich weigert, sich einer solchen Behandlung zu unterziehen, kann sie nicht mehr an internationalen Wettkämpfen teilnehmen.
Der Sportgerichtshof TAS wies ihre Beschwerde mit der Begründung ab, dass die Vorschriften zwar diskriminierend seien, jedoch ein notwendiges und angemessenes Mittel darstellten, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Das Bundesgericht, welches TASEntscheide lediglich auf die Vereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung («ordre public») überprüfen kann, stützte das Urteil. Der EGMR bestätigte zunächst seine Zuständigkeit, weil sich die Beschwerde gegen ein Urteil des höchsten Gerichts eines Mitgliedstaates richtete.
Daher erachtete er sich als zuständig, obwohl es sich bei World Atheltic und dem TAS um private Akteure handelt. Er stellte fest, dass die Beschwerdeführerin in der Schweiz keine hinreichenden institutionellen und verfahrensrechtlichen Garantien erhalten hatte, um ihre Beschwerde wirksam überprüfen zu lassen. Dies, obwohl es sich bei ihren Klagen um ein substanziiertes und glaubwürdiges Vorbringen einer Diskriminierung gegenüber anderen Athletinnen infolge ihrer Varianz in der Geschlechtsentwicklung handelte.
So bestand die einzige Möglichkeit, um gegen die Vorschriften von «World Athletics» vorzugehen, in der Anrufung des TAS, der in seinem Urteil ernsthafte Fragen zur Gültigkeit des betreffenden Reglements offengelassen hatte – insbesondere betreffend der Nebenwirkungen einer Hormonbehandlung und des Fehlens von Beweisen dafür, dass Athletinnen mit Varianz in der Geschlechtsentwicklung einen signifikanten sportlichen Vorteil haben. Im Übrigen sei die vom Bundesgericht durchgeführte Prüfung von TASEntscheiden sehr begrenzt, da sie sich auf die Frage beschränke, ob der Schiedsspruch mit dem «ordre public» vereinbar sei.
Im vorliegenden Fall habe das Bundesgericht die Bedenken des TAS nicht in einer Weise geprüft, die Artikel 14 genüge. Aufgrund der erheblichen persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin – nämlich der Teilnahme an Leichtathletikwettkämpfen auf internationaler Ebene und damit der Ausübung ihres Berufs – folge, dass die Schweiz den Ermessensspielraum, der ihr in solchen Fällen eingeräumt werde, überschritten habe.
Bei geltend gemachten Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Merkmale sind gemäss EGMR «sehr gewichtige Gründe» als Rechtfertigung erforderlich. Für die Beschwerdeführerin hat das Urteil zwar nur symbolischen Charakter, da es die Vorschriften von World Athletics nicht in Frage stellt und diese somit bestehen bleiben. Indes muss die Schweiz nun prüfen, ob sie die Kompetenz des Bundesgerichts, Entscheidungen des TAS zu überprüfen, im Sinne des Urteils ausweiten muss.
EGMR, Urteil 10934/21 vom 11.72023, Semenya c. Schweiz
Publikation der Entscheide
Die Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) finden sich im Internet auf folgender Webseite: www.echr.coe.int