Posthume künstliche Befruchtung darf verboten werden
In seinem Urteil in der Rechtssache Baret und Caballero gegen Frankreich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig entschieden, dass keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) vorliegt. In beiden Fällen ging es um das Verbot, das Sperma des verstorbenen Ehemannes der ersten Beschwerdeführerin und die von der zweiten Beschwerdeführerin mit ihrem verstorbenen Ehemann gezeugten Embryonen von Frankreich nach Spanien auszuführen. Dort ist die posthume Empfängnis erlaubt.
Der EGMR stellte fest, dass das angefochtene Verbot das Privatleben der Beschwerdeführerinnen beeinträchtigt habe, da die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was mit ihren Embryonen und Spermien geschieht, in den Bereich ihres Selbstbestimmungsrechts falle. Auch stelle es einen Eingriff in ihr Recht dar, durch Beanspruchung von Techniken der medizinisch unterstützten Fortpflanzung zu versuchen, Kinder zu bekommen. Zugleich hielt der Gerichtshof fest, dass das Verbot posthumer künstlicher Befruchtung die legitimen Ziele des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer und des Schutzes der Moral verfolge.
Der absolute Charakter des Verbots in Frankreich sei eine politische Entscheidung, die zuletzt im Jahr 2021 beim Erlass des revidierten Bioethikgesetzes erneuert wurde. Bei einer Frage, die mit moralischen oder ethischen Erwägungen zusammenhänge, sei der Rolle des nationalen Entscheidungsträgers besonderes Gewicht beizumessen. Die Verweigerung der Ausfuhr von Zellen oder Embryonen ziele darauf ab, die Gefahr einer Umgehung des Verbots posthumer künstlicher Befruchtung zu vermeiden. Die nationalen Behörden hätten laut EGMR einen angemessenen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen gefunden, und Frankreich habe innerhalb seines Ermessensspielraums gehandelt. Daher liege keine Verletzung von Artikel 8 EMRK vor.
Jedoch räumte der Gerichtshof ein, dass die in Frankreich erfolgte Ausweitung des Rechts auf medizinisch unterstützte Fortpflanzung auf weibliche Paare und alleinstehende Frauen die Debatte über die Rechtfertigung für das von den Beschwerdeführerinnen beanstandete Verbot neu entfacht habe. Der EGMR erklärte, dass Staaten im Bereich der Bioethik zwar über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, der von ihnen geschaffene Rechtsrahmen jedoch kohärent sein müsse.
EGMR-Urteil 22296/20 und 37138/20 vom 14.9.2023, Baret und Caballero c. Frankreich
Verbot von Hamas nahestehender Organisation verletzt EMRK nicht
Im Urteil in der Rechtssache Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e. V. gegen Deutschland verneinte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einstimmig eine Verletzung der Versammlungs- und Vereinigungs-
freiheit (Artikel 11 EMRK). Dabei ging es um das Verbot des Vereins Internationale Humanitäre Hilfsorganisationen (IHH) durch das deutsche Bundesministerium des Innern im Jahr 2010, das zur Auflösung des Vereins und zur Einziehung seines Vermögens führte. Das Ministerium begründete seinen Entscheid damit, dass der Verein IHH langfristig und in erheblichem Umfang Zuwendungen an Organisationen ausgerichtet habe, die mit der in Deutschland als terroristisch eingestuften Hamas verbunden seien.
Laut EGMR stellt das Verbot der IHH einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Vereinigungsfreiheit dar. Die Voraussetzungen für eine Einschränkung dieses Rechts seien aber erfüllt: In Deutschland bestehe für das Verbot eine gesetzliche Grundlage, die besagt, dass ein Verein, der eine «gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtete Tätigkeit» wahrnimmt, verboten werden könne. Der vorliegende Fall unterscheide sich von früheren Fällen von Vereinsverboten insofern, als er die Bekämpfung des internationalen Terrorismus im Allgemeinen betreffe – unabhängig von einer konkreten Bedrohung Deutschlands.
Staaten müssten in der Lage sein, Massnahmen zu ergreifen, damit ihr Hoheitsgebiet nicht dazu benutzt wird, Terrorismus im Ausland zu fördern. Die «Völkerverständigung» stelle daher ein legitimes Ziel dar und enthalte den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, wozu auch das Recht auf Leben von im Ausland lebenden Personen gehöre.
Auch wenn der klagende Verein selbst keine Gewalttaten begangen habe, seien die Ziele, die mit dem Verbot der indirekten Unterstützung des Terrorismus verfolgt würden, sehr gewichtig, und die Staaten verfügten in dieser Hinsicht über einen grösseren Beurteilungsspielraum. Bezogen auf die konkreten Tätigkeiten der IHH stellte der EGMR fest, dass dieser zwei Gesellschaften mit Sitz in Gaza mit einem erheblichen Beitrag finanziert habe. Die Behörden hätten überzeugend dargelegt, dass diese beiden Gesellschaften nicht eigenständig, sondern Teil der als terroristisch eingestuften Hamas seien.
Der EGMR sah keinen Grund, von dieser Einschätzung abzuweichen, und berief sich dabei auch auf die Sanktionsliste der EU, auf der die Hamas ebenfalls als terroristische Organisation eingestuft wird. Aufgrund der Höhe der Beiträge werde deutlich, dass die Finanzierung der Hamas das Hauptinteresse des Vereins gewesen sei. Zudem habe er versucht, Beschränkungen zu umgehen, um die Hamas weiterhin zu unterstützen, weshalb auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass er dies auch künftig versuchen würde.
EGMR-Urteil 11214/19 vom 10.10.2023, Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e. V. c. Deutschland
Polizisten müssen in Medienberichten nicht immer verpixelt werden
In seinem Urteil in der Rechtssache Bild GmbH & Co. KG gegen Deutschland stellte der EGMR einstimmig eine Verletzung des Rechtes auf Meinungsfreiheit (Artikel 10 EMRK) fest. In dem Fall ging es um ein Gerichtsurteil, mit dem Bild.de angewiesen wurde, Videoaufnahmen einer polizeilichen Festnahme in einem Bremer Nachtclub zu löschen, sofern das Gesicht eines der beteiligten Polizeibeamten nicht unkenntlich gemacht werde.
Der EGMR stellte nach einer Abwägung des Rechts auf freie Meinungsäusserung mit dem Recht des Einzelnen auf Achtung des Privatlebens fest, dass die Argumentation der deutschen Gerichte in Bezug auf das erste veröffentlichte Video zufriedenstellend gewesen sei. In Bezug auf die zweite und jede weitere Verwendung des Filmmaterials sei sie indes unzureichend ausgefallen, zumal sie unabhängig vom Berichterstattungskontext erteilt worden war.
Das Urteil könnte zu einem generellen Verbot jeglicher Veröffentlichung von unverpixelten Bildern von Polizeibeamten bei ihrer Arbeit führen, das – so generell und unabhängig vom öffentlichen Interesse an Berichterstattungen über Gewaltausübung durch die Polizei formuliert – untragbar wäre.
EGMR-Urteil 9602/18 vom 31.10.2023, Bild GmbH & Co. KG c. Deutschland