Entschädigung für entgangenen Lohn für Opfer von Menschenhandel
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte Bulgarien einstimmig wegen Verletzung des Verbots der Sklaverei und Zwangsarbeit (Artikel 4 EMRK). Der Fall betraf die Versuche einer Beschwerdeführerin, eine Entschädigung für den Verdienst aus der Sexarbeit zu erhalten, den Menschenhändler ihr entzogen hatten. Die bulgarischen Gerichte hatten die Entschädigung mit der Begründung abgelehnt, dass die Frau der Prostitution nachgegangen sei und die Rückgabe des Verdienstes gegen die «guten Sitten» verstosse.
Der EGMR erwog in seinem Urteil, dass es zu den positiven Pflichten der Staaten im Umgang mit Opfern von Menschenhandel gehöre, diesen die Möglichkeit zu geben, von ihren Menschenhändlern eine Entschädigung für den entgangenen Verdienst zu verlangen. Der Wortlaut von Artikel 4 EMRK sehe eine solche Verpflichtung zwar nicht vor. Aber gemäss dem EGMR bestehen gewichtige Argumente dafür, eine solche Verpflichtung anzunehmen, zumal im Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit ein Grundwert der demokratischen Gesellschaften verankert und der Menschenhandel mit diesem Wert unvereinbar sei. Massnahmen wie Ermittlungen und Bestrafung von Menschenhändlern könnten den materiellen Schaden, den die Opfer erlitten haben, nicht wiedergutmachen.
Durch die Entschädigung für vorenthaltene Einkünfte könne zudem verhindert werden, dass die Menschenhändler in den Genuss ihrer kriminellen Ausbeutung kommen, was die Anreize für den Menschenhandel verringern würde. Entsprechend stellte der Gerichtshof zum ersten Mal eine aus Artikel 4 EMRK abgeleitete positive Pflicht der Staaten fest, die Entschädigung der Opfer durch ihre Menschenhändler zu ermöglichen.
Die Begründung Bulgariens, eine Entschädigung verstosse gegen die «guten Sitten», widerspiegelt gemäss dem EGMR eine veraltete gesellschaftliche Vorstellung. Die Interessen der Gesellschaft sprächen dafür, dass eine Entschädigung nicht unmoralisch sei, wenn sie der Einhaltung der Menschenrechte der Opfer von Menschenhandel diene.
In der Schweiz kann eine Entschädigung des entgangenen Lohnes grundsätzlich im Strafverfahren gegen den Menschenhändler geltend gemacht werden, wobei die Betroffenen in den meisten Fällen auf den Zivilweg verwiesen werden. Gemäss einem kürzlich ergangenen Bundesgerichtsentscheid ist die Entschädigung nicht von der Opferhilfe zu übernehmen, wenn die Verurteilten sie nicht leisten können, da es sich um einen rein materiellen Schaden handle (BGer 1C_19/2023 vom 11.10.2023).
EGMR, Urteil vom 28.11.2023, Krachunova gegen Bulgarien, Nr. 18269/18
Einkesselung durch die Zürcher Stadtpolizei verletzte EMRK
In seinem Urteil in der Rechtssache Arnold und Marthaler gegen die Schweiz verurteilte der EGMR die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 Absatz 1 EMRK) zu einer Schadenersatzzahlung.
Die Beschwerdeführer wurden während einer Demonstration am 1. Mai 2011 von der Polizei eingekesselt, anschliessend zur Identitätskontrolle festgenommen und am selben Tag wieder freigelassen. Die Beschwerde gegen die Einkesselung und Inhaftierung scheiterte bis und mit Bundesgericht, woraufhin die Beschwerdeführer an den EGMR gelangten.
Zunächst hielt der EGMR fest, dass jeder Freiheitsentzug «ordnungsgemäss» sein müsse, mithin eine hinreichende Rechtsgrundlage brauche. Während § 3 PolG diesen Anforderungen offensichtlich nicht genüge, zumal darin die Haft nicht als geeignete Massnahme zur «Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung» aufgezählt werde, könne § 21 Absatz 3 PolG als hinreichende gesetzliche Grundlage akzeptiert werden. Diese Bestimmung erlaubt die Inhaftierung zum Zweck der Identitätskontrolle, wenn es nicht möglich ist oder erhebliche Schwierigkeiten bereitet, die Überprüfungen vor Ort durchzuführen, oder wenn die Richtigkeit der Angaben oder die Echtheit der Identitäts- oder Genehmigungsdokumente ungewiss sind.
Weiter prüfte der EGMR die Verhältnismässigkeit der Inhaftierung. Dabei erinnerte der EGMR daran, dass eine Inhaftierung nach Artikel 5 Absatz 1 litera b EMRK nur dann zugelassen ist, wenn sie darauf abzielt, die Erfüllung einer gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtung zu gewährleisten. Darunter könnten laut EGMR auch die Pflichten, die öffentliche Ordnung nicht zu stören und sich einer Identitätskontrolle zu unterziehen, fallen. Vorliegend hätten die Schweizer Gerichte jedoch nicht begründet, weshalb eine eingehendere Identitätskontrolle auf der Polizeistation notwendig gewesen sei.
Die Beschwerdeführer wurden tatsächlich einer ersten Identitätskontrolle auf der Strasse unterzogen, so dass ihre Namen einfach und effektiv per Funk an die Polizeistation hätten übermittelt werden können. Daher hält es der EGMR für nicht ausgeschlossen, dass die Inhaftierung in erster Linie schikanösen Zwecken gedient habe oder aber dem Ziel, die Beschwerdeführer für einige Stunden fernzuhalten. Daraus folge aber, dass die Inhaftierung nicht die am wenigsten einschneidende Massnahme gewesen sei.
Auch im Hinblick auf die Verpflichtung, die öffentliche Ordnung nicht zu stören, sei die Haft nicht zu rechtfertigen. Einerseits beziehe sich § 21 Absatz 3 PolG nicht auf Fälle, in denen die Behörden mit der Gefahr einer Störung der öffentlichen Ordnung konfrontiert sind.
Zudem hätten die Beschwerdeführer nicht vorgehabt, an Ausschreitungen teilzunehmen. Ferner sei vor der Einkesselung kein Befehl zur Auflösung der Demonstration ergangen, womit die Beschwerdeführer gegen keine Verpflichtung, den Ort zu verlassen, verstossen hätten.
Der EGMR fragte sich schliesslich, ob die Haft unter Artikel 5 Absatz 1 litera c EMRK gerechtfertigt gewesen sei, was etwa der Fall gewesen wäre, wenn vernünftige Gründe für die Annahme bestanden hätten, dass die Beschwerdeführer an der Begehung einer Straftat hätten gehindert werden müssen. Vorliegend sei jedoch der Charakter der angeblich drohenden Straftat, vor allem im Hinblick auf Ort, Zeit und die potenziellen Opfer, von den Schweizer Instanzen nicht hinreichend bestimmt worden.
Die Regierung brachte nur allgemeine Indizien vor wie etwa, dass sich am 1. Mai um 15 Uhr niemand zufällig auf dem Helvetiaplatz befinde und es in den letzten Jahren am 1. Mai zu Gewalt gekommen sei. Diese Indizien taugten jedoch nicht dazu, die Teilnahme der Beschwerdeführer an der illegalen Demonstration oder die Absicht dazu zu beweisen. Somit habe es keine Hinweise dafür gegeben, dass sie im Begriff gewesen seien, eine Straftat zu begehen, weshalb Artikel 5 Absatz 1 litera c nicht als Rechtfertigung für die Haft herangezogen werden könne.
EGMR, Urteil vom 19.12.2023, Arnold und Marthaler gegen die Schweiz, Nr. 77686/16 und 76791/16