Verjährung der Klage eines Asbestopfers verstösst gegen die EMRK
Der Europäische Gerichtshof in Strassburg (EGMR) hat in einem Verfahren von zwei Angehörigen eines Asbestopfers gegen die Schweiz eine zweifache Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Artikel 6 Absatz 1 EMRK) festgestellt. Der Fall betrifft den Tod des Ehemanns respektive Vaters der beiden Beschwerdeführer, Marcel Jann, der im Jahr 2006 an Brustfellkrebs verstorben war. Die tödliche Erkrankung war mutmasslich durch Asbestexposition in den 1960er- und 1970er-Jahren verursacht worden.
Jann hatte in einem von der Eternit AG gemieteten Haus in unmittelbarer Nähe eines ihrer Werke gewohnt, in dem Asbest verarbeitet wurde. Ein 2006 eingeleitetes Strafverfahren und ein 2009 eingeleitetes Zivilverfahren blieben erfolglos. Zuletzt entschied das Bundesgericht, die zivilrechtlichen Ansprüche seien verjährt.
In seinem Urteil stellt der EGMR zunächst einstimmig fest, dass eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht vorliege, da die Schweizer Gerichte entschieden, dass die Verjährungsfrist ab dem Zeitpunkt der Asbestexposition von Marcel Jann zu laufen begonnen habe und die Klage somit verjährt sei. Der EGMR hält fest, dass es keine wissenschaftlich anerkannte maximale Latenzzeit zwischen Asbestexposition und Brustfellkrebs gibt.
Dieser Umstand müsse bei der Festlegung der Verjährungsfrist berücksichtigt werden. Die innerstaatlichen Gerichte hätten mehr Gewicht darauf gelegt, den für den Schaden Verantwortlichen Rechtssicherheit zu verschaffen, als den Opfern das Recht auf Zugang zu einem Gericht zu gewähren. Eine angemessene Interessenabwägung sei nicht erfolgt.
Zudem bekräftigt der Gerichtshof, dass es in der Verantwortung der Gerichte liege, für eine zügige Durchführung des Verfahrens zu sorgen. So sei es nicht notwendig gewesen, die Reform der Verjährungsregelungen abzuwarten. Das Verfahren sei unnötig in die Länge gezogen worden.
EGMR, Urteil 4976/20 vom 13.2.2024, Jann-Zwicker und Jann c. Schweiz
Schweiz einstimmig wegen diskriminierender Polizeikontrolle verurteilt
In der Rechtssache Wa Baile gegen die Schweiz geht es um den Vorwurf des Racial Profilings bei einer Personenkontrolle am Hauptbahnhof Zürich und die anschliessenden Verfahren vor den Straf- und Verwaltungsgerichten.
In seinem Urteil stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig fest, dass die Schweiz das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 EMRK) in Verbindung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) sowohl in verfahrensrechtlicher als auch in materieller Hinsicht verletzt hat. Überdies liegt gemäss EGMR eine Verletzung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 14 und Artikel 8 EMRK) vor.
Zunächst hält der EGMR fest, dass vorliegend aufgrund der besonderen Umstände und des öffentlichen Ortes der Identitätskontrolle die Schwelle der Schwere des Eingriffs erreicht worden sei, um von einem Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens sowie von einem begründeten Vorbringen der Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe auszugehen. Weder die Verwaltungsgerichte noch die Strafgerichte hätten die vorgebrachten Beschwerden wirksam geprüft. So wären sie gehalten gewesen, zu prüfen, ob bei der Kontrolle der Identität des Beschwerdeführers diskriminierende Gründe eine Rolle gespielt haben könnten.
Der EGMR zitiert Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen, die festgestellt hätten, dass die Ausbildung der Schweizer Polizeibeamten nicht ausreiche, um Rassismus zu verhindern. Der Schweiz sei nachdrücklich empfohlen worden, eine von Polizei und Strafverfolgungsbehörden unabhängige Stelle einzurichten, die mit der Untersuchung mutmasslicher Fälle von Rassendiskriminierung und rassistisch motiviertem Fehlverhalten der Polizei betraut werde. Im Lichte dieser Berichte stellt der EGMR fest, dass das Fehlen eines ausreichenden rechtlichen und administrativen Rahmens zu diskriminierenden Identitätskontrollen führen könne.
Der Gerichtshof sei sich bewusst, wie schwierig es für Polizeibeamte sei, schnell und ohne klare innerstaatliche Leitlinien zu entscheiden, ob sie mit einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit konfrontiert seien. Indes liege angesichts der Umstände des Einzelfalls der Schluss nahe, dass der Beschwerdeführer einer diskriminierenden Behandlung unterzogen worden sei. Diese Vermutung sei von der Schweiz im Verfahren vor dem EGMR nicht widerlegt worden. Schliesslich stellt der EGMR fest, dass dem Beschwerdeführer kein wirksamer Rechtsbehelf vor den inländischen Gerichten in Bezug auf seine Beschwerden zur Verfügung stand.
Der Fall von Mohamed Wa Baile wurde von mehreren Menschenrechtsorganisationen begleitet. Der Gerichtshof hatte den Fall im Jahr 2022 als sogenannten Impact-Fall deklariert, was seine hohe Bedeutung signalisiert. Das Urteil ist als Leitentscheid für künftige Verfahren gegen Racial Profiling zu betrachten.
EGMR, Urteile 43868/18 und 25883/21 vom 20.2.2024, Wa Baile c. Schweiz
Schweiz verletzte EMRK durch Inhaftierung ohne Therapiemöglichkeit
Der EGMR stellte im Fall I.L. einstimmig Verletzungen des Verbots unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK), des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 Absatz 1 EMRK) sowie des Rechts auf eine rasche Entscheidung über die Rechtmässigkeit der Inhaftierung (Artikel 5 Absatz 4 EMRK) fest.
In der Sache geht es um die Rechtmässigkeit der Inhaftierung des Beschwerdeführers I.L. im Rahmen einer auferlegten stationären therapeutischen Massnahme sowie um seine Haftbedingungen und die Dauer der Prüfung seines Antrags auf Entlassung. Der Beschwerdeführer war im Jahr 2011 zu einer stationären Massnahme verurteilt worden, die er mangels Therapieplatz dreieinhalb Jahre lang nicht antreten konnte. Stattdessen wurde er in Gefängnissen und meist in Isolationshaft untergebracht.
Der EGMR stellt fest, dass die Isolationshaft des Beschwerdeführers in den Gefängnissen Thorberg BE, Lenzburg AG und Bostadel ZG von 2012 bis 2016 ohne angemessene therapeutische Betreuung eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellte. Der psychische Zustand des Beschwerdeführers habe sich in dieser Zeitspanne laufend verschlechtert, was als Folge der mangelnden therapeutischen Behandlung betrachtet werden müsse. Das Gericht bezeichnet den Entzug der Freiheit ww.bgerlin dieser Periode als nicht «rechtmässig» im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 EMRK.
Schliesslich hält der EGMR fest, dass der vom Beschwerdeführer am 17. September 2014 gestellte Antrag auf Freilassung wegen der Komplexität des innerstaatlichen Verfahrens nicht «zügig» geprüft wurde, was zur Verletzung von Artikel 5 Absatz 4 EMRK führte.
EGMR, Urteil 36609/16 vom 20.2.2024, I.L. c. Schweizcr