Klima: Schweiz verletzt Konvention, Beschwerden von Einzelpersonen abgewiesen
In seinem Urteil im Fall des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz gegen die Schweiz entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und das Recht auf Zugang zu einem Gericht (Artikel 6 Absatz 1 EMRK) verletzt worden waren.
Die Beschwerde erhoben hatten vier Frauen und der Verein Klimaseniorinnen Schweiz, deren Mitglieder ältere Frauen sind, die sich über die Folgen der globalen Erwärmung für ihre Lebensbedingungen und ihre Gesundheit sorgen. Sie vertreten die Ansicht, dass die Schweizer Behörden trotz ihren Verpflichtungen aus der EMRK keine ausreichenden Massnahmen ergreifen, um die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern.
Gemäss EGMR enthält Artikel 8 EMRK ein Recht auf wirksamen Schutz vor nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität. Ungenügende staatliche Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels würden die Risiken schädlicher Folgen und die daraus resultierenden Bedrohungen für die Ausübung der Menschenrechte verschärfen. Dies sei wissenschaftlich bestätigt.
Zu den Anträgen der vier individuellen Beschwerdeführerinnen hielt der Gerichtshof fest, dass sie nicht die Opfereigenschaft gemäss Artikel 34 EMRK erfüllen. Sie hätten nicht nachgewiesen, dass sie persönlich unmittelbar vom Untätigbleiben der Schweiz betroffen seien. Hierfür hätten sie eine hohe Intensität der nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels und ein dringendes Bedürfnis nach individuellem Schutz geltend machen müssen. Dies sei ihnen nicht gelungen, weshalb der Gerichtshof ihre Beschwerden für unzulässig erklärte.
Der antragstellende Verein hingegen habe das Recht, eine Beschwerde betreffend die Bedrohungen durch den Klimawandel in der Schweiz im Namen derjenigen Mitglieder einzureichen, die behaupten konnten, nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt zu sein. Aufgrund der Besonderheit des Klimawandels als gemeinsamen Anliegens der Menschheit und der Notwendigkeit, den Lastenausgleich zwischen den Generationen zu fördern, sei es angemessen, die Klagebefugnis von Verbänden unter den im Urteil definierten Bedingungen zuzulassen.
In der Sache stellte der Gerichtshof fest, die Hauptpflicht der Staaten in Bezug auf den Klimawandel bestehe darin, Massnahmen zu ergreifen, die geeignet seien, die bestehenden und die potenziell unumkehrbaren künftigen Auswirkungen des Klimawandels abzumildern. Die Verpflichtung ergebe sich aus dem Kausalzusammenhang zwischen dem Klimawandel und der Ausübung der Rechte aus der EMRK.
In Bezug auf die Schweiz wies der Gerichtshof auf Versäumnisse der Schweizer Behörden hin, die nationalen Emissionsbegrenzungen für Treibhausgase durch ein Kohlenstoffbudget oder auf andere Weise zu quantifizieren. Darüber hinaus habe die Schweiz in der Vergangenheit ihre Ziele zur Verringerung der Treibhausgasemissionen nicht erreicht. Die Behörden hätten nicht rechtzeitig und in geeigneter Weise gehandelt, um die nötigen Massnahmen gemäss ihren Verpflichtungen nach Artikel 8 EMRK zu ergreifen.
Der Gerichtshof stellte weiter fest, dass die Ablehnung der Beschwerde des klagenden Vereins durch das Schweizer Umwelt- und Verkehrsdepartement und die nationalen Gerichte einen Eingriff in sein Recht auf Zugang zu einem Gericht (Artikel 6 Absatz 1 EMKR) darstelle.
In zwei anderen Fällen, deren Entscheide ebenfalls am 9. April 2024 publiziert wurden, erklärte der EGMR die Beschwerden für unzulässig. Urteil 7189/21 (Carême gegen Frankreich) betrifft die Beschwerde eines ehemaligen Bürgermeisters des Städtchens Grande-Synthe am Ärmelkanal, der wegen unzureichender Massnahmen Frankreichs zur Verhinderung der globalen Erwärmung eine Verletzung des Rechts auf Leben (Artikel 2 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) bedeute.
Der Gerichtshof befand, der Beschwerdeführer erfülle die Opfereigenschaft gemäss Artikel 34 EMRK nicht. Mit Urteil 39371/20 (Duarte Agostinho und andere gegen Portugal und 32 andere) befand der EGMR, die Beschwerdeführer hätten es versäumt, den Rechtsweg in Portugal auszuschöpfen. Zudem konnte der EGMR für die 32 weiteren beklagten Staaten keine extraterritoriale Zuständigkeit aus der EMRK ableiten.
EGMR-Urteil 53600/20 vom 9.4.2024, Verein Klimaseniorinnen Schweiz et al. c. Schweiz
Museum in Kalifornien muss antike Bronze an Italien zurückgeben
In seinem Urteil in der Sache The J. Paul Getty Trust und andere gegen Italien wies der EGMR die Beschwerde der Getty-Stiftung wegen Verletzung des Eigentumsschutzes (Artikel 1 Protokoll Nummer 1 zur EMRK) zurück.
Der Fall betrifft eine von den italienischen Behörden erlassene Beschlagnahmeanordnung, die auf die Rückgabe eines Kulturguts abzielte, nämlich der Bronzestatue Siegreiche Jugend aus der klassischen griechischen Periode (300 bis 100 vor Christus). Die Statue, die angeblich unrechtmässig vom J. Paul Getty Trust erworben worden war, befindet sich im Getty Villa Museum in Malibu (Kalifornien).
Der Gerichtshof wies zunächst darauf hin, dass der Schutz des kulturellen und künstlerischen Erbes eines Landes ein legitimes Ziel im Sinn der EMRK sei. Er stellte ferner fest, dass mehrere internationale Rechtsinstrumente die Bedeutung des Schutzes von Kulturgütern vor unrechtmässiger Ausfuhr betonen, so das Unesco-Übereinkommen von 1970 über Massnahmen zum Verbot und zur Verhütung der rechtswidrigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut, das Unidroit-Übereinkommen von 1995 über gestohlene oder unrechtmässig ausgeführte Kulturgüter, die Richtlinie 2014/60/EU über die Rückgabe von unrechtmässig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbrachten Kulturgütern und die Verordnung 116/2009/EG über die Ausfuhr von Kulturgütern.
Hinsichtlich des durch die Konvention gewährten Eigentumsschutzes vertrat der Gerichtshof die Auffassung, dass staatliche Massnahmen, die darauf abzielten, das kulturelle Erbe gegen die unrechtmässige Ausfuhr aus dem Herkunftsland zu schützen oder seine Wiedererlangung und Rückgabe in das Herkunftsland sicherzustellen, nicht in Frage gestellt werden können. Solche Massnahmen seien notwendig, um den Zugang der Öffentlichkeit zu den Kunstwerken zu ermöglichen.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die Beschlagnahmeanordnung insbesondere wegen der Fahrlässigkeit oder Bösgläubigkeit des Getty Trust, der die Statue in Kenntnis der Ansprüche des italienischen Staats und seiner Bemühungen um eine Rückgabe erworben habe, in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ziel stehe, die Rückgabe der Statue als kulturelles Erbe Italiens zu gewährleisten.
EGMR-Urteil 35271/19 vom 2.5.2024, The J. Paul Getty Trust et al. c. Italien