Rumänien wegen Mängeln bei Schutz vor häuslicher Gewalt verurteilt
Der EGMR stellt einstimmig fest, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Korrespondenz) vorliegt. Im Fall ging es um die Ineffizienz der strafrechtlichen Untersuchung durch die rumänischen Behörden im Zusammenhang mit diversen Vorwürfen der Beschwerdeführerin gegen ihren Ex-Mann wegen häuslicher Gewalt. Die Staatsanwaltschaft stellte die aufgrund dreier Anzeigen eingeleitete Untersuchung ein mit der Begründung, dass die Todesdrohungen und Misshandlungen nicht genügend schwer wögen, um strafrechtlich relevant zu sein, oder dem Ex-Mann nicht zugerechnet werden könnten.
Der EGMR stellte fest, dass die rumänischen Behörden die von der Beschwerdeführerin gemeldeten Vorwürfe der Drohungen und Misshandlungen nicht auf den Tatbestand der häuslichen Gewalt geprüft hätten, der einen strengeren Massstab vorsehe als für ähnliche Delikte zwischen Privatpersonen. Zudem hätten die Behörden bei der Untersuchung die spezifischen Merkmale häuslicher Gewalt berücksichtigen müssen. Schliesslich hätten die Behörden versäumt abzuklären, woher die Verletzungen der Beschwerdeführerin stammten, wenn nicht von ihrem Ex-Mann.
Urteil 56867/15 der 4. Kammer des EGMR Buturuga c. Rumänien vom 11.2.2020
Spanien darf an Grenze zu Marokko weiterhin Push-Backs vornehmen
In einem vielbeachteten Entscheid wies die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Beschwerden zweier Personen aus Mali und aus der Elfenbeinküste gegen Spanien betreffend Push-Backs an der Landgrenze zu Marokko ab. Dies nachdem die 3. Kammer im Oktober 2017 noch gegenteilig entschieden und Spanien für Menschenrechtsverletzungen verurteilt hatte. Mit Urteil entschied die Grosse Kammer, dass Spanien weder Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK (Verbot der Kollektivausweisung) noch Art. 13 EMRK (Recht auf effektive Rechtsmittel) verletzte.
Die beiden Beschwerdeführer versuchten im August 2014, gemeinsam mit rund 70 weiteren Personen von Marokko aus den Grenzzaun um Melilla zu überwinden, um in die spanische Enklave zu gelangen. Nachdem sie spanisches Territorium erreicht hatten, wurden sie von der Guardia Civil gestoppt, in Handschellen gelegt und nach Marokko zurückgeschoben, wo sie marokkanischen Polizisten übergeben wurden. Weder wurde ihre Identität festgestellt, noch wurde ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre persönlichen Umstände zu erklären oder Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.
Die Beschwerdeführer machten beim EGMR geltend, dass sie Opfer einer Kollektivausweisung geworden seien. Zudem beschwerten sie sich über das Fehlen eines wirksamen Rechtsmittels, mit welchem sie sich gegen die Abschiebung hätten zur Wehr setzen können.
Die Grosse Kammer vertrat in ihrem Urteil die Auffassung, dass sich die Beschwerdeführer selbst in eine rechtswidrige Situation gebracht hätten. Sie hätten beim Überklettern des Grenzzauns die Grösse der anstürmenden Gruppe ausgenützt, Gewalt angewendet und sich damit gegen die Benutzung der existierenden Verfahren für eine legale Einreise nach Spanien entschieden.
Die EMRK hindere Staaten nicht daran, die Einreichung von Einreise- oder Asylanträgen an den bestehenden Grenzübergängen zu verlangen und entsprechend den Zugang zu ihrem Territorium andernorts zu verweigern. Das Ausbleiben einer Beurteilung der persönlichen Umstände der Beschwerdeführer sei darauf zurückzuführen, dass sie das für die Überprüfung ihrer Einreise vorgesehene Verfahren gar nicht in Anspruch nehmen wollten. Eine solche Überprüfung wäre aber gemäss Informationen Spaniens am Grenzübergang Beni Enzar oder auf einer spanischen Auslandvertretung möglich gewesen.
Die Abschiebung sei somit eine Folge des eigenen widerrechtlichen Verhaltens der Beschwerdeführer. Entsprechend könne Spanien auch nicht für das Fehlen eines Rechtsmittels gegen die Abschiebung zur Verantwortung gezogen werden.
Das Urteil wurde von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Zahlreiche ins Verfahren vor dem EGMR eingebrachten Berichte, unter anderem vom Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge, bezeugten, dass es faktisch keine legalen Einreisewege nach Spanien für Menschen aus Subsahara-Afrika gäbe. Gemäss dem European Center for Constitutional and Human Rights, welches die Beschwerdeführer im Verfahren vertrat, ignoriert das Urteil die Realität an den europäischen Grenzen und würde als «Blankoscheck für brutale Push-Backs» verstanden werden.
Urteile 8675/15 und 8697/15 der Grossen Kammer des EGMR, N.D. und N.T. c. Spanien vom 13.2.2020 cr
Kommentar:
Darf Spanien bei Personen, die der spanischen Hoheitsgewalt unterstehen, sogenannte «Hot Returns» vornehmen? Im obigen Urteil hat der EGMR den Fokus vom Verhalten des Signatarstaats auf das Verhalten der Beschwerdeführenden verlagert und damit grundlegende Aspekte eines effektiven Menschenrechtsschutzes aus den Augen verloren.
Art. 3 EMRK gilt absolut. Jede Person hat Anspruch darauf, nicht in eine Situation gebracht zu werden, in welcher ihr Folter, unmenschliche, erniedrigende Strafe oder Behandlung drohen. Dieser Schutz kann aber nur wirksam umgesetzt werden, wenn die persönlichen Umstände vor einer Ausschaffung geprüft werden. Deshalb verbietet Art. 4 Protokoll Nr. 4 den Vertragsstaaten, ausländische Personen abzuschieben, ohne den Einzelfall zu prüfen und die Möglichkeit zu geben, Argumente gegen die Wegweisung vorzubringen. Das Verbot der Kollektivausweisung dient damit dem Schutz des Non-Refoulement-Prinzips. Gemäss ständiger Rechtsprechung des EGMR ist für die Anwendbarkeit ausreichend, wenn sich eine Person – auch unrechtmässig – im Hoheitsgebiet eines Signatarstaates befindet. Zudem wiederholt der Gerichtshof im aktuellen Urteil gegen Spanien: Auch die Sorge der Staaten, dass Einwanderungsbeschränkungen zunehmend umgangen würden, dürfe den durch die Konvention garantierten Schutz nicht unwirksam werden lassen. Das Gericht hält diesen Schutzgedanken theoretisch weiterhin hoch – hat ihn mit seinem Entscheid aber praktisch ausser Kraft gesetzt.
Mit der Auffassung, die Beschwerdeführer hätten die rechtswidrige Situation selber zu verantworten, weitet der EGMR in diesem Entscheid die Anwendungsausnahmen von Art. 4 Protokoll Nr. 4 in einer äusserst bedenklichen Art und Weise aus. Die bisherigen Ausnahmen beziehen sich auf Verhaltensweisen von Asylsuchenden, die direkte Auswirkungen auf die behördliche Prüfung des Schutzbedarfs haben. Mit ihrem Verhalten versuchten die beiden Beschwerdeführer die Prüfung durch die spanischen Behörden aber nicht zu verunmöglichen oder «einzuschränken». Vielmehr hätte der irreguläre Grenzübertritt der Beschwerdeführer eine solche erst möglich gemacht.
Insgesamt erscheint es verfehlt, vorliegend von der Garantie von Art. 4 Protokoll Nr. 4 abzuweichen. Dies gilt trotz der – realitätsfremden – Annahme des EGMR, es bestünden für die Betroffenen effektiv zugängliche, alternative legale Einreisemöglichkeiten von Marokko nach Spanien. Denn: Wie kann der absolute Schutz von Art. 3 EMRK gewährleistet werden, wenn Staaten – aus welchen Gründen auch immer – auf die Prüfung des Schutzbedarfs verzichten können? Dass die Grosse Kammer sich dennoch hierfür entschied, wirft grundlegende Fragen auf, wie einer der vertretenden Anwälte, Gonzalo Boye, festhielt: «Der EGMR akzeptiert nicht nur Spaniens Konzept einer gesetzlosen Zone, sondern schuf eine neue Doktrin, die auf jeden anderen Fall angewandt werden könnte: Wer sich auf rechtswidrige Weise an einen Ort begibt, geniesst keine durch die Konvention geschützten Rechte.»
Eine so weitreichende Schwächung des Menschenrechtsschutzes kann der EGMR nicht wirklich beabsichtigt haben, weshalb das Urteil den Anschein erweckt, die Grosse Kammer des Gerichts habe sich primär von politischen und nicht von rechtlichen Überlegungen leiten lassen. Statt einen starken Menschenrechtsschutz zu verteidigen, verleiht der EGMR der rigiden Abschottungspolitik Europas einen rechtsstaatlichen Anstrich. Das Urteil ist deshalb als Fehlurteil zu qualifizieren und zu Recht von verschiedenen Seiten scharf kritisiert worden.