Ungenügende Schweizer Interessenabwägung beim Landesverweis
In seinem Urteil vom 17. September 2024 in der Rechtssache PJ und RJ gegen die Schweiz stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit fünf gegen zwei Stimmen eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) fest.
Der Beschwerdeführer PJ zog im Jahr 2013 im Rahmen des Familiennachzugs zu seiner Frau RJ in die Schweiz. 2014 und 2016 kamen die gemeinsamen Töchter zur Welt. PJ wurde im Jahr 2018 bei einem Kokaintransport verhaftet und zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt, wobei das Gericht berücksichtigte, dass er keine Vorstrafen vorwies, sich im Verfahren kooperativ verhalten hatte und eine erneute Straftat unwahrscheinlich war. Zudem ordnete es einen obligatorischen Landesverweis nach Artikel 66a Strafgesetzbuch für fünf Jahre an.
Die gegen die Landesverweisung erhobenen innerstaatlichen Rechtsmittel blieben erfolglos. Die angerufenen Gerichte stellten fest, dass PJ zwar wahrscheinlich nicht in einen gross angelegten Drogenhandel verwickelt gewesen sei, seine Straftat jedoch schwer wiege, da er eine grosse Menge Kokain transportiert und damit andere Personen und die öffentliche Sicherheit gefährdet habe. Zudem stelle seine Wegweisung nach Bosnien und Herzegowina keine besondere persönliche Härte dar, weil er nicht gut in die Schweizer Gesellschaft integriert sei: So sei er mit 30 Jahren in die Schweiz gekommen, spreche kaum Deutsch und habe bis zu seiner Verurteilung nur befristete Arbeitsstellen innegehabt.
Sein Hauptinteresse, in der Schweiz zu bleiben, gelte seiner Familie. Seine Kinder seien jedoch jung und könnten sich an eine neue Umgebung anpassen, während seine Frau, die ausgebildete Krankenschwester sei, sich in Bosnien und Herzegowina leicht beruflich integrieren könne. PJ wurde im Juli 2021 aus der Schweiz ausgeschafft. Das Ehepaar gelangte an den EGMR unter Berufung auf das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Der Gerichtshof bekräftigte, dass Staaten das Recht hätten, einen ausländischen Staatsangehörigen, der eine Straftat begangen habe, auszuweisen. Die nationalen Gerichte müssten diesen Entscheid jedoch hinreichend begründen und dabei einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und denjenigen der Allgemeinheit finden. Vorliegend hätten die nationalen Gerichte es versäumt, eine solche sorgfältige Interessenabwägung vorzunehmen. Sie hätten sich bei ihrer Beurteilung auf die Art und die Schwere der Straftat konzentriert, ohne andere Aspekte in die Abwägung einzubeziehen.
Namentlich hätten sie berücksichtigen müssen, dass der Beschwerdeführer nicht vorbestraft und aufgrund seiner geringen Schuld nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war und dass er nach seiner Verurteilung eine feste Anstellung gefunden und sich von da an gut verhalten hatte. Er war weder verwaltungsrechtlich noch strafrechtlich in Erscheinung getreten, was seine Rehabilitierung beweise. Schliesslich hätten die Schweizer Gerichte die negativen Auswirkungen der Landesverweisung auf die Familie des Beschwerdeführers berücksichtigen müssen.
EGMR-Urteil 52232/20 vom 17.9.2024, PJ und RJ c. Schweiz
Bestrafung von Freiern verstösst nicht gegen die Konvention
In seinem Urteil in der Rechtssache MA und andere gegen Frankreich stellte der EGMR einstimmig fest, dass keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 EMRK) vorliegt.
Das französische Strafrecht droht Freiern beim Kauf von sexuellen Handlungen eine Strafe an. 261 Prostituierte rügten, dies gefährde die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Gesundheit von Personen, die der Prostitution nachgehen. Ihr Recht auf Achtung des Privatlebens, soweit es das Recht auf persönliche Autonomie und sexuelle Freiheit einschliesst, sei grundlegend verletzt. Das Gesetz zwinge Prostituierte dazu, auf geheime und unsichere Methoden zurückzugreifen, um Kundschaft zu treffen. Dies erhöhe das Risiko, Gewalt und Stigmatisierung ausgesetzt zu sein. Das «nordische Modell» der Kriminalisierung der Nachfrageseite wird zurzeit in fünf der 46 Europaratsmitglieder sowie in Nordirland praktiziert.
Der EGMR hielt zunächst fest, dass die mit der Prostitution verbundenen Probleme sehr heikle moralische und ethische Fragen aufwerfen, die zu unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Auffassungen führen würden. Auch bestehe noch kein allgemeiner Konsens unter den Mitgliedstaaten des Europarats oder zwischen den verschiedenen mit Sexarbeit befassten Organisationen darüber, wie die Prostitution am besten zu regulieren sei. Zudem werde die Bestrafung des Erwerbs sexueller Handlungen derzeit als Mittel zur Bekämpfung des Menschenhandels sowohl auf europäischer als auch auf internationaler Ebene kontrovers diskutiert. Mangels eines europäischen Konsenses verfügten Staaten bei der Regulierung von Sexarbeit über einen weiten Ermessensspielraum.
Weiter anerkannte der Gerichtshof die Risiken und Stigmata, denen die Beschwerdeführenden aufgrund ihrer Beschäftigung mit Sexarbeit ausgesetzt seien. Diese Probleme hätten aber bereits vor der Einführung der Strafnorm bestanden, und es herrsche keine Einigkeit darüber, ob die Kriminalisierung tatsächlich zu einer Verschlimmerung der Situation von Sexarbeitern und Sexarbeiterinnen geführt habe.
So kam der Gerichtshof zum Schluss, dass die französischen Behörden mit dem Erlass des Verbots des Kaufs von Sexarbeit ihr Ermessen nicht überschritten hätten, da die Gesetzgebung das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen und zudem Teil eines umfassenden Ansatzes sei, bei dem die verschiedenen von den Beschwerdeführenden vorgebrachten Anliegen hinreichend berücksichtigt worden seien. Der Gerichtshof betonte jedoch, dass die Behörden verpflichtet seien, den Ansatz stetig zu überprüfen, insbesondere weil er auf einem absoluten Verbot des Erwerbs sexueller Handlungen beruhe, um ihn entsprechend der Entwicklung der europäischen Gesellschaft und der internationalen Normen anpassen zu können.
EGMR-Urteile 63664/19, 64450/19, 24387/20, 24391/20 und 24393/20 vom 27.7.2024, MA et al. c. Frankreich
Fehlende Kompensation bei Falschverurteilung verletzt die Konvention nicht
Mit Urteil der Grossen Kammer entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Rechtssache Nealon und Hallam gegen das Vereinigte Königreich mit zwölf gegen fünf Stimmen, dass keine Verletzung von Artikel 6 Absatz 2 EMRK (Unschuldsvermutung) vorliegt.
In der Sache ging es um die Ablehnung der Anträge der Beschwerdeführer auf Entschädigung wegen eines Justizirrtums. Ihre Verurteilungen waren aufgrund neuer, entlastender Beweise aufgehoben worden. Die gesetzliche Regelung im Criminal Justice Act 1988, geändert durch den Anti-Social Behaviour, Crime and Policing Act 2014, sieht eine Entschädigung für einen Justizirrtum jedoch nur dann vor, wenn eine neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei bewiesen hat, dass die betreffende Person die Straftat nicht begangen hatte.
Die Beschwerdeführer machten geltend, dass die gesetzliche Regelung mit der Unschuldsvermutung nach Artikel 6 Absatz 2 EMRK unvereinbar sei, da sie ihre Unschuld beweisen müssten, um Anspruch auf eine Entschädigung zu haben.
In seiner Rechtsprechung anerkennt der Gerichtshof einen Aspekt von Artikel 6 Absatz 2 EMRK, der nach Abschluss des Strafverfahrens zum Tragen kommt, um ehemals Beschuldigte, die freigesprochen wurden oder gegen die das Strafverfahren eingestellt wurde, davor zu schützen, in weiteren Verfahren so behandelt zu werden, als ob sie dennoch schuldig wären. Hierzu müsse geprüft werden, ob in den dem Freispruch oder der Einstellung folgenden Verfahren der ehemals beschuldigten Person eine strafrechtliche Verantwortung zugeschrieben werde.
Bezogen auf den vorliegenden Fall stellte der EGMR fest, dass Section 133 des geänderten Criminal Justice Acts 1988 den Justizminister, der für Gesuche um Entschädigung wegen Justizirrtümern zuständig ist, nur dazu verpflichte, sich dazu zu äussern, ob die neue oder neu entdeckte Tatsache zweifelsfrei beweist, dass der Antragsteller die betreffende Straftat nicht begangen hat. Eine Verweigerung der Entschädigung durch den Justizminister unterstellte den Beschwerdeführern daher weder eine strafrechtliche Schuld, noch legte sie nahe, dass das Strafverfahren anders hätte entschieden werden müssen.
Anders gesagt sei die Feststellung, dass nicht zweifelsfrei bewiesen werden konnte, dass ein Antragsteller eine Straftat nicht begangen hat, nicht gleichbedeutend mit der Feststellung, dass er die Straftat begangen hat. Daher könne nicht gesagt werden, dass die Ablehnung der Entschädigung durch den Justizminister den Beschwerdeführern eine strafrechtliche Schuld zuschreibe, weshalb sie die Unschuldsvermutung gemäss Artikel 6 Absatz 2 EMRK nicht verletze.
EGMR-Urteile 32483/19 und 35049/19 vom 11.6.2024, Nealon und Hallam c. Vereinigtes Königreich
Verweigerung von Covid-19-Impfung nicht durch Konvention geschützt
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in seinem Urteil in der Rechtssache Pasquinelli und andere gegen San Marino fest, dass keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) vorlag.
Der Fall betraf die Auswirkungen auf die Beschwerdeführer – allesamt Beschäftigte des Gesundheitswesens –, nachdem sie sich geweigert hatten, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Dazu gehörten die Suspendierung ohne Bezahlung, die Leistung von Zivildienst gegen eine anteilige Vergütung für die geleisteten Arbeitsstunden oder die Versetzung auf freie Stellen.
In Anbetracht des weiten Ermessensspielraums, über den die Staaten in Fragen der Gesundheitspolitik verfügten, stellte der Gerichtshof in seinem Urteil fest, dass die Massnahmen verhältnismässig und gerechtfertigt gewesen seien im Hinblick auf das verfolgte legitime Ziel, nämlich die Gesundheit der Bevölkerung im Allgemeinen, einschliesslich der Beschwerdeführenden selbst, sowie die Rechte und Freiheiten anderer zu schützen. Der Gerichtshof stellte ausserdem fest, dass die von den Beschwerdeführenden erlittenen Verluste eine unvermeidbare Folge eines «aussergewöhnlichen und unvorhersehbaren» Kontexts einer globalen Pandemie gewesen seien.
EGMR-Urteil 24622/22 vom 29.8.2024, Pasquinelli et al. c. San Marino