Bei Bluttransfusionen muss das Spital den aktuellen Patientenwillen eruieren
Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) stellte in der Rechtssache Pindo Mulla gegen Spanien einstimmig eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) im Lichte der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 9 EMRK) fest.
Der Fall betraf Bluttransfusionen, die der Beschwerdeführerin, einer Zeugin Jehovas, während einer Notoperation verabreicht worden waren, obwohl sie sich vorab mehrfach geweigert hatte, sich selbst bei Lebensgefährdung einer Bluttransfusion zu unterziehen. Die Beschwerdeführerin führte stets eine entsprechende Dauervollmacht auf sich. Zudem war eine Patientenverfügung im offiziellen Register hinterlegt worden.
Als die Beschwerdeführerin mit schweren inneren Blutungen ins Spital eingeliefert wurde, lehnte sie in der Konsultation erneut eine Bluttransfusion ab, was in einer Einverständniserklärung festgehalten wurde. Ihr Zustand verschlechterte sich, sie wurde in ein anderes Spital transferiert. Die Anästhesisten setzten sich mit dem diensthabenden Richter in Verbindung. Der Richter genehmigte alle medizinischen Massnahmen, die zur Rettung des Lebens erforderlich seien. Die Beschwerdeführerin erhielt drei Bluttransfusionen, ohne dass sie über die Anordnung des zuständigen Richters informiert worden war.
Der Gerichtshof stellt in seinem Urteil zunächst klar, dass seine Rolle nur darin bestehe, zu beurteilen, ob die Autonomie der Beschwerdeführerin im medizinischen Entscheidungsprozess ausreichend respektiert worden sei. Dabei anerkennt er, dass die Entscheidung des zuständigen Richters darauf abgezielt habe, das Leben der Beschwerdeführerin zu retten. Gleichzeitig sei die Entscheidung einer Patientin, ob sie eine Behandlung annimmt, ein grundlegendes Prinzip im Bereich der öffentlichen Gesundheit und werde durch die Regel der freien und informierten Zustimmung geschützt.
Die Entscheidung, eine lebensrettende Behandlung abzulehnen, müsse dabei «klar, spezifisch und eindeutig» sein und «die aktuelle Position der Patientin in dieser Angelegenheit wiedergeben». Bei begründeten Zweifeln an einem dieser Aspekte seien die medizinischen Fachpersonen dazu verpflichtet, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um herauszufinden, was die Patientin wünscht. Ist dieser Wunsch nicht eindeutig feststellbar, bestehe die Pflicht, alles zu unternehmen, um das Leben der Patientin zu schützen.
Der EGMR betont weiter, dass bei Einführung eines Systems von Patientenverfügungen sichergestellt werden müsse, dass es auch wirksam funktioniert. In casu sei der diensthabende Richter nicht vollständig und korrekt informiert worden. So sei dem Richter mitgeteilt worden, die Ablehnung von Bluttransfusionen sei nur mündlich erfolgt. Die fehlende Information über die schriftlichen und aktuellen Willensäusserungen der Patientin hätte grossen Einfluss auf die Entscheidung des Richters gehabt.
Zudem sei die massgebliche Frage, ob die Beschwerdeführerin noch in der Lage sei, für sich selbst zu entscheiden, ausgeklammert und die Entscheidungsbefugnis auf die behandelnden Ärzte übertragen worden. Weder sie noch andere ihr nahestehende Personen seien vor der Operation über die Entscheidung des Richters informiert worden. Das habe dazu geführt, dass die Beschwerdeführerin ihre Autonomie im medizinischen Entscheidungsprozess nicht habe ausüben können.
In einem ähnlich gelagerten Fall kam der EGMR Anfang November zum Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 8 im Lichte von Artikel 9 EMRK vorliege. In der Sache Lindholm gegen Dänemark ging es um einen Dänen, der nach einem Unfall innere Blutungen erlitten hatte. Bei Spitaleintritt trug er eine zwei Jahre alte Patientenverfügung auf sich, wonach er als Zeuge Jehovas sämtliche Bluttransfusionen ablehne. Während des Krankenhausaufenthalts konnte das Personal seinen aktuellen Willen nicht erfragen, weil er nicht mehr handlungsfähig war. In der Folge wurde nach erfolgloser Behandlung eine Bluttransfusion vorgenommen. Die Ehefrau des zwischenzeitlich verstorbenen Patienten erhob Beschwerde gegen das Vorgehen der Ärzte.
Der EGMR hielt in dieser Konstellation fest, dass die nationalen Entscheidungsträger zu Recht entschieden hätten, dass nur eine aktuelle Ablehnung Bluttransfusionen bei bestehender Lebensgefahr ausschliessen könne. Ansonsten sei das medizinische Personal gehalten, die für die Lebensrettung notwendige Pflege zu erbringen. Nur so könne dem Risiko vorgebeugt werden, dass ein bewusstloser Patient aufgrund einer unzureichenden lebensnotwendigen Behandlung stirbt, in die er in Anbetracht des aktuellen Krankheitsverlaufs allenfalls eingewilligt hätte.
EGMR-Urteil 15541/20 vom 17.11.2024, Pindo Mulla c. Spanien;
EGMR-Urteil Nr. 25636/22 vom 5.11.2024, Lindholm c. Dänemark
Malta verletzt verschiedene Rechte von minderjährigen Asylsuchenden
In der Rechtssache J. B. und andere gegen Malta stellt der EGMR Verstösse gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK), gegen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf (Artikel 13 in Verbindung mit Artikel 3 EMRK), gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 Absatz 1 EMRK) sowie gegen das Recht auf eine rasche gerichtliche Entscheidung über die Rechtmässigkeit der Inhaftierung (Artikel 5 Absatz 4 EMRK) fest.
Der Fall betrifft die Inhaftierung von sechs bangladeschischen Staatsangehörigen, die im November 2022 nach ihrer Seenotrettung in Malta angekommen waren. Die Asylsuchenden wurden fast zwei Monate in einem Aufnahmezentrum und während mindestens vier weiteren Monaten im Safi Detention Center festgehalten. Sie gaben ihr Alter mit 16 bis 17 Jahren an. Fünf der Beschwerdeführer wurden im Mai 2023 in einem offenen Zentrum für Minderjährige untergebracht. Der sechste, der als Erwachsener eingestuft wurde, musste Malta im August 2023 verlassen, nachdem sein Asylantrag abgelehnt worden war.
In Bezug auf die fünf als minderjährig eingestuften Beschwerdeführer hielt der EGMR fest, dass sie etwa zwei Monate lang zusammen mit Erwachsenen im Erstaufnahmezentrum untergebracht worden seien. Gemäss dem Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter seien die sanitären Einrichtungen im Zentrum ungenügend gewesen. Inhaftierte hätten keinen Zugang zu einer sinnvollen Beschäftigung oder zu Kommunikationsmöglichkeiten gehabt. Die minderjährigen Beschwerdeführer hätten keine angemessene pädagogische Betreuung erhalten.
Alles in allem kam der EGMR zur Auffassung, dass die Haftbedingungen für die fünf unbegleiteten Minderjährigen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellten. In Bezug auf den Beschwerdeführer, der als volljährig eingestuft worden war, fand der EGMR dahingegen keine Verletzung von Artikel 3 EMRK. Jedoch stellte der Gerichtshof fest, dass allen Beschwerdeführern kein wirksamer Rechtsbehelf gegen die Haftbedingungen zu Verfügung stand.
In Bezug auf den Freiheitsentzug räumte der EGMR ein, dass es gerechtfertigt sein könne, Einwanderer innerhalb der Grenzen eines Hotspots festzuhalten, wenn diese Massnahme gesetzlich geregelt und für einen unbedingt notwendigen und begrenzten Zeitraum vorgesehen sei, namentlich während sie identifiziert, registriert und befragt werden.
Im vorliegenden Fall schien die erste Phase der Inhaftierung jedoch in einem rechtsfreien Raum angewandt worden zu sein. So war den Beschwerdeführern nicht mitgeteilt worden, wie lange und mit welcher Rechtsgrundlage sie festgehalten wurden. Nach zirka zwei Wochen wurde die Haft zwar formell angeordnet, namentlich um das Alter der Beschwerdeführer zu bestimmen.
Laut EGMR muss die Notwendigkeit der Inhaftierung von Minderjährigen sehr sorgfältig geprüft werden. Die Behörden hätten fast sechs Monate benötigt, um das Alter der Beschwerdeführer festzustellen. Die Haft sei nie richterlich überprüft und Anträge auf Haftentlassung nicht beantwortet worden. Entsprechend stand die Inhaftierung nicht im Einklang mit Artikel 5 Absatz 1 EMRK. In Bezug auf den als volljährig eingestuften Beschwerdeführer stellt der EGMR fest, dass seine Inhaftierung ab Haftanordnung mit Artikel 5 Absatz 1 EMRK vereinbar gewesen sei.
Indes sei in allen Fällen die Überprüfung der Haftanordnung unwirksam gewesen, zumal es der überprüfenden Behörde an der nötigen Unabhängigkeit fehle und die Überprüfung in einer Massenanhörung stattgefunden habe, bei der die Haft von etwa 47 Personen in einer Entscheidung bestätigt worden sei. Der EGMR ordnet gestützt auf Artikel 46 EMRK an, dass Massnahmen auf nationaler Ebene zu ergreifen seien, um sicherzustellen, dass künftig ein wirksamer Rechtsbehelf vorliege.
EGMR-Urteil Br. 1766/23 vom 22.10.2024, J.B. et al. c. Malta