Schweiz darf homosexuellen Mann nicht in den Iran wegweisen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt in der Rechtssache M. I. gegen die Schweiz fest, dass die Abschiebung eines homosexuellen iranischen Staatsbürgers das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 3 EMRK) verletzen würde.
Der Iraner hatte die Schweiz um Asyl ersucht und geltend gemacht, ihm drohten aufgrund seiner sexuellen Orientierung im Iran ernsthafte Nachteile an Leib und Leben. Seine Flucht war durch die Entdeckung seiner sexuellen Orientierung durch seine Familie ausgelöst worden. Die Schweizer Behörden lehnten sein Asylgesuch ab. Sie argumentierten, M. I. sei bei einer Rückkehr in den Iran keinem Verfolgungsrisiko ausgesetzt, sofern er seine sexuelle Orientierung zurückhaltend und nicht öffentlich auslebe.
Der EGMR hält zunächst fest, dass nicht jede homosexuelle Person im Iran von Verfolgung betroffen sei. Er betont jedoch, dass es bei der Einschätzung der Schweizer Behörden an einer gründlichen Analyse der individuellen Gefahrenlage im Einzelfall und im Lichte der aktuellen Umstände fehlte. Von einer Person könne nicht verlangt werden, wesentliche Aspekte ihrer Identität oder Persönlichkeit – vorliegend ihre sexuelle Orientierung – bis auf weiteres zu verbergen, um Misshandlungen zu vermeiden.
Homosexualität könne im Iran mit erheblichen Strafen, einschliesslich der Todesstrafe, geahndet werden. Zwar mache die Existenz solcher Strafgesetze im Zielstaat die Abschiebung einer Person nicht automatisch mit der EMRK unvereinbar. Eintscheidend sei, ob ein tatsächliches Risiko bestehe, dass diese Strafen tatsächlich angewandt werden. In Bezug auf den Iran würden Berichte zeigen, dass Homosexuelle in der Praxis strafrechtlich verfolgt werden. Überdies belegten internationale Berichte eine weit verbreitete Homophobie und Diskriminierung Homosexueller, die sich aus staatlich geförderter Hetze ergebe. Es sei zweifelhaft, ob die iranischen Behörden in der Lage und willens wären, M. I. den erforderlichen Schutz vor Misshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zu bieten.
Der Gerichtshof kommt zum Schluss, dass die Schweizer Behörden das Risiko einer unmenschlichen Behandlung für den Beschwerdeführer als homosexuellen Mann im Iran sowie die Frage, ob staatlicher Schutz vor Misshandlungen durch nichtstaatliche Akteure verfügbar wäre, nicht ausreichend geprüft haben.
EGMR-Urteil 56390/21 vom 12.11.2024, M.I. c. Schweiz
Erste Urteile zu Pushbacks von Asylsuchenden durch Griechenland
Der EGMR hat sich in zwei Fällen mit den Vorwürfen von Rückführungen schutzsuchender Personen ohne Asylprüfung durch Griechenland in die Türkei befasst (sogenannte Pushbacks).
Der Fall A. R. E. gegen Griechenland betrifft eine Türkin, die wegen politischer Verfolgung nach Griechenland flüchtete. Sie wurde von den griechischen Behörden festgehalten und ohne Asylprüfung in die Türkei zurückgebracht. Dort inhaftierten sie die türkischen Behörden.
Der EGMR stellt mehrere Konventionsverletzungen durch die griechischen Behörden fest: Die Beschwerdeführerin sei ohne Prüfung ihrer Asylgründe oder der Risiken einer Rückkehr in die Türkei zurückgeschoben worden. Damit habe Griechenland das Verbot unmenschlicher Behandlung (Artikel 3 EMRK) sowie ihr Recht auf eine wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK) verletzt. Zudem sei die Beschwerdeführerin vor ihrer Rückführung ohne rechtliche Grundlage inhaftiert worden.
Sie habe keine Informationen über die Gründe ihrer Festnahme oder die Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung erhalten, wodurch ihr Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 5 Ziffern 1, 2 und 4 EMRK) verletzt worden sei. Der EGMR erkennt die schwierigen Umstände an, in denen sich die Beschwerdeführerin befand, stellt jedoch fest, dass keine ausreichenden Beweise für eine konkrete Lebensgefahr oder unmenschliche Behandlung während des Pushbacks vorliegen.
Im Urteil G. R. J. gegen Griechenland geht es um einen unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan, der in Griechenland Asyl beantragte. Er gab an, von der griechischen Küstenwache in einem Schlauchboot auf dem Meer ausgesetzt worden zu sein, bevor ihn die türkische Küstenwache gerettet habe. Als Beweis unterbreitete er audiovisuelle Aufnahmen der Rettung durch die türkische Küstenwache sowie eine Bestätigung seiner Darstellung durch das UNHCR.
Der EGMR prüfte zunächst, ob es eine systematische Praxis von Pushbacks seitens der griechischen Behörden gibt. Er stellte fest, dass zahlreiche Berichte nationaler und internationaler Organisationen eine solche Praxis dokumentierten, insbesondere bei illegalen Einreisen in die Region Evros und auf griechischen Inseln wie Samos. Diese Berichte würden ein einheitliches Vorgehen beschreiben, bei dem Asylsuchende ohne Prüfung ihres Schutzstatus in die Türkei zurückgeschoben werden.
Das Gericht erklärt aber, die Existenz einer solchen Praxis entbinde den Beschwerdeführer nicht davon, Beweise für seine Behauptungen vorzulegen. Es bewertete seine Aussagen als widersprüchlich und unzureichend, um sowohl seine Anwesenheit in Griechenland als auch den behaupteten Pushback nachzuweisen. Daher verneinte das Gericht seinen Opferstatus gemäss Artikel 34 EMRK und erklärte die Beschwerde für unzulässig.
EGMR-Urteile 15783/21 vom 7.1.2025, A.R.E. c. Griechenland, und 15067/21 vom 7.1.2025, G.R.J. c. Griechenland
Landesverweis nach 20-jähriger Anwesenheit verletzt Konvention nicht
In der Rechtssache I. B. A. gegen die Schweiz stellt der EGMR fest, dass keine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK) vorliegt.
Der Beschwerdeführer, ein in der Schweiz ansässiger Tunesier, wurde wegen Sozialhilfebetrugs strafrechtlich verurteilt und für fünf Jahre des Landes verwiesen. Trotz seinem über 20-jährigen Aufenthalt in der Schweiz und den Auswirkungen des Landesverweises auf seine Kinder entschieden die Schweizer Gerichte, dass die Landesverweisung gerechtfertigt sei. Die Rechtsmittel des Beschwerdeführers wurden allesamt mit der Begründung abgewiesen, dass seine Integration in der Schweiz unzureichend sei und keine unüberwindbaren Hindernisse für eine Rückkehr nach Tunesien vorlägen.
Der EGMR stellt fest, dass die Schweizer Gerichte die persönlichen Umstände des Antragstellers sorgfältig berücksichtigt hätten, einschliesslich seiner Straftaten, seiner Integration in der Schweiz und seiner familiären Bindungen. Das Gericht kommt deshalb zum Schluss, dass die Landesverweisung nicht zu einer unzumutbaren Belastung für das Familienleben des Beschwerdeführers führt und dass keine überzeugenden Gründe vorliegen, die nationale Entscheidung zu ändern.
EGMR-Urteil 28995/20 vom 26.11.2024, I. B. A. c. Schweiz