plädoyer: Laut Artikel 190 der Bundesverfassung sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Das sagt aber nichts darüber aus, wie vorzugehen ist, wenn sich die beiden Erlasse widersprechen. Hat Völkerrecht Vorrang?
Martin Schubarth: Es gibt noch eine andere Bestimmung, nämlich diejenige des Vorrangs der Bundesversammlung. Gemäss Artikel 148 Absatz 1 der Bundesverfassung ist die Bundesversammlung, unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen, die oberste Gewalt im Bund. Diese Bestimmung wird von den Völkerrechtlern gerne unterschlagen. Ich behaupte: Solange diese Bestimmung in Kraft ist, kann man nicht von einem generellen Vorrang des Völkerrechts sprechen. Ich halte übrigens alle abstrakten Diskussionen über den Vorrang des Völkerrechts für sinnlos, weil es «das» Völkerrecht als einheitliche Materie nicht gibt.
Astrid Epiney: Im Recht gibt es nun einmal Normenhierarchien – zum Beispiel den Vorrang des Bundesrechts gegenüber kantonalem Recht. Ich bin deshalb gar nicht der Ansicht, dass die «abstrakte» Diskussion über den Vorrang des Völkerrechtes wenig zielführend sei. Die Bundesverfassung enthält zwar keine explizite Regelung des Vorrangs des Völkerrechtes. In Artikel 5 Absatz 4 heisst es aber, dass Bund und Kantone das Völkerrecht zu beachten haben. Und gemäss dem zitierten Artikel 190 sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Aber aus diesem Artikel 190 lässt sich keine Aussage über die Normenhierarchie entnehmen.
plädoyer: Und trotzdem geht Völkerrecht dem Landesrecht vor?
Epiney: Es gibt eine Reihe weiterer Bestimmungen, welche eine Einbindung der Schweiz in das Völkerrecht und eine «völkerrechtsfreundliche» Ausrichtung der Verfassung erkennen lassen. Im Übrigen gilt in der Schweiz das Völkerrecht automatisch im innerstaatlichen Bereich, sobald es für die Schweiz in Kraft getreten ist. Ein Beispiel: die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Aus einer Gesamtschau dieser Bestimmungen kann man mit guten Gründen ableiten, dass es einen grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts gibt. Auch das Bundesgericht geht klar von einem grundsätzlichen Vorrang des Völkerrechts aus.
plädoyer: Gilt die Schubert-Praxis des Bundesgerichts nicht mehr?
Epiney: Zum Teil. Gegenüber Bundesgesetzen geht das Völkerrecht gemäss dem Bundesgericht stets vor, ausser wenn der Bundesgesetzgeber «bewusst» gegen Völkerrecht verstossen wollte. Dies ist die berühmte Schubert-Praxis. Das Bundesgericht wendet sie aber in Bezug auf Menschenrechtsverträge nicht an. Diese gehen Schweizer Gesetzen auch dann vor, wenn der Gesetzgeber Völkerrecht nicht anwenden wollte.
plädoyer: Menschenrechtsverträge sind also zwingendes Völkerrecht. Und dies geht Landesrecht immer vor?
Schubarth: Ich möchte davor warnen, dass man allgemein von «dem» Völkerrecht spricht. Klar ist, dass zwingendes Völkerrecht vorgeht. Auch dass völkerrechtliche Prinzipien, wie das Verbot von Annexionen, verbindlich sind und nicht durch nationales Recht ausgehebelt werden können, steht ausser Diskussion. Das Problem liegt im Wesentlichen darin, dass im Lauf der letzten Jahrzehnte immer mehr Rechtsmaterien, die traditionell in die Kompetenz des demokratischen Gesetzgebers fallen, heute von völkerrechtlichen Instanzen überrollt werden. Dadurch wird der demokratische Gesetzgeber ausgehebelt. Dieses Problem hatten wir ursprünglich nicht oder lediglich ganz selten. Als man die Menschenrechtskonvention verabschiedet hat, ging es darum, die elementaren Menschenrechte, die in der Nazizeit auf fürchterlichste Weise verletzt wurden, für die Zukunft im europäischen Raum zu garantieren. Dafür hat man den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geschaffen. Dies war demokratisch abgesegnet. Das Problem ist, dass dieser Gerichtshof als dynamisches Verfassungsgericht zum Selbstläufer wurde.
plädoyer: Damit kritisieren Sie einen Teil der Strassburger Rechtsprechung. Aber soll denn eine nationale Instanz darüber richten, ob ein in Strassburg ergangener Urteilsspruch richtig und somit anwendbar ist?
Schubarth: In gewissen Fällen hat das Bundesgericht dies indirekt so zum Ausdruck gebracht. Es sagte nämlich schon: Wir nehmen das Urteil zur Kenntnis, wir leisten ihm aber keine weitere Folge. Ich vertrete die Auffassung, dass die nationalen Gerichte deutlich erklären sollen, wenn ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs mit dem geltenden schweizerischen Recht nicht zu vereinbaren ist. Nur so wird Strassburg nicht immer mehr zum Selbstläufer!
Epiney: Die Vereinbarkeit eines EGMR-Urteils mit dem schweizerischen Recht darf doch kein Kriterium für die Respektierung sein! Heute haben wir einen Mindeststandard an Menschenrechten in den Mitgliedstaaten des Europarats anerkannt. Und die Auslegungsinstanz dieser sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebenden Garantien ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, wie sich ausdrücklich aus der EMRK ergibt. Wird nun eine solche Gerichtsinstanz zur Auslegung von Verträgen eingesetzt, so impliziert dies auch die Massgeblichkeit und Beachtung ihrer Urteile. Wenn man das nicht will, darf man sich auf solche Vereinbarungen nicht einlassen.
plädoyer: Müsste die Schweiz aus dem Europarat austreten, wenn sie die Rechtsprechung in Strassburg nicht mehr respektieren würde?
Epiney: Ja, das wäre wohl letztlich die Konsequenz, zumindest wenn man die Urteile grundsätzlich als nicht mehr massgeblich ansehen würde. Die Schweiz hat in Anwendung der hier massgeblichen nationalen Verfahren die EMRK genehmigt und ratifiziert und damit einen menschenrechtlichen Mindeststandard auf völkerrechtlicher Ebene akzeptiert. Gegen diesen dürfen die nationalen Gesetze nicht verstossen. Die Instanz, die darüber entscheidet, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Schubarth: Ich werfe der Rechtsprechung in Strassburg vor, dass sie das Demokratieproblem übersieht. Auch die schweizerische Staatsrechtswissenschaft bringt dieses Demokratieproblem nicht hinreichend zur Sprache. Ich kann nicht verstehen, weshalb theoretisch vier Strassburger Richter, die vom schweizerischen Recht überhaupt nichts verstehen, die schweizerische Rechtsordnung unter Umständen grundlegend ändern können. Darauf läuft dieses System hinaus.
Epiney: Noch einmal: Die Schweiz hat den Beitritt zur EMRK wiederholt demokratisch beschlossen. Das letzte Zusatzprotokoll wurde mit einem referendumsfähigen Bundesbeschluss genehmigt, gegen das niemand das Referendum ergriff. Das System der Mindeststandards impliziert, dass gewisse Mindestgarantien unbedingt einzuhalten sind, auch wenn der demokratische Gesetzgeber etwas anderes entscheidet. Dies ist das sogenannte materielle Element des Rechtsstaates.
plädoyer: Gibt es einen Widerspruch zwischen Demokratie und Rechtsstaat? Muss man sich für das eine oder andere entscheiden?
Epiney: Nein, das ist ein zentraler Punkt. Meines Erachtens bedingen sich diese beiden Elemente gegenseitig. Es gibt sehr verschiedene Modelle, wie man Demokratie und Rechtsstaat austarieren kann. In der Schweiz ermöglicht es die Bundesverfassung dem Bundesgesetzgeber beispielsweise, gegen die Verfassung zu verstossen, wenn ihm dies auch nicht erlaubt ist. Aber wenn er es einmal macht, gilt das Gesetz trotzdem. Meines Erachtens darf das demokratische Element aber nicht allmächtig sein.
Schubarth: Vollkommen einverstanden! Die Bestimmung, dass Bundesgesetze vom Bundesgericht nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden können, hat folgende Idee als Grundlage: Wir überlassen es dem Gesetzgeber, die Verfassung zu konkretisieren, und wollen nicht, dass ein kleines Richtergremium dann den Gesetzgeber korrigiert. Leider funktioniert dieses Schema auf europäischer Ebene nicht mehr. Wir haben nämlich keinen europäischen Gesetzgeber, der dem Gerichtshof in Strassburg Paroli bieten könnte. Der Europarat hat bekanntlich keine Gesetzgebungsbefugnisse. Das bedeutet: Wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil fällt, das man nicht akzeptieren kann, ist keine Instanz da, die dies korrigieren könnte. Deshalb ist es Sache der nationalen Gerichte zu sagen, wenn etwas rechtsstaatlich und demokratietheoretisch nicht haltbar ist und deshalb Landesrecht anzuwenden ist.
plädoyer: Sagen Sie das aus der Perspektive der Schweiz? Auch Russland ist im Europarat. Was wäre, wenn Russland beschliessen würde, die Entscheide des EGMR nur von Fall zu Fall umzusetzen?
Schubarth: In Russland geht es um den Schutz elementarer Menschenrechte. In diesem Bereich hat der Strassburger Gerichtshof seine volle Berechtigung. Solche Probleme wie mit der Schweiz liessen sich vermeiden, wenn sich der Gerichtshof auf den Schutz der elementaren Menschenrechte beschränken würde.
Epiney: Der Europarat zählt rund 50 Mitgliedstaaten. Die Schweiz hat zum Glück kein grosses Problem mit fundamentalen Menschenrechten. Aber: Wenn die Schweiz beispielsweise das Verjährungsurteil im Asbestfall nicht akzeptieren würde, werden andere Staaten auch sagen, was ihnen nicht passt. Zum Beispiel auch Russland. Damit würde ein System ausgehebelt, dessen Grundgedanke es ist, in Europa einen Mindeststandard zu haben.
plädoyer: Herr Schubarth, geht Ihnen dieser Mindeststandard, wie er heute in der EMRK festgeschrieben ist, zu weit?
Schubarth: Nein. Das Problem liegt darin, dass die «Kernrechte», wie sie in der ursprünglichen Fassung festgehalten sind, durch die ausufernde Rechtsprechung des EGMR auf Gebiete ausgeweitet wurden, die in den Bereich des demokratischen Gesetzgebers fallen. Der Gerichtshof soll sich auf den Schutz elementarer Rechte beschränken.
Epiney: Die Frage bleibt, wer darüber entscheidet, was zu den «Kernrechten» gehört. Wir haben heute in Europa ein System mit einem Mindeststandard und einer Gerichtsinstanz, welche sich bewährt hat. Wir kennen seit vielen Jahrzehnten einen funktionierenden Menschenrechtsschutz, ausser in Staaten, die Probleme haben mit der Akzeptanz der Urteile. In Russland besteht beispielsweise das grosse Problem darin, dass Einzelurteile akzeptiert werden, jedoch in anderen Fällen nicht entsprechend angewendet, die Aussagen also nicht oder ungenügend generalisiert werden. Mit einem «innerstaatlichen Wahlrecht» bezüglich fundamentaler und anderer Menschenrechte würde man das ganze System in Frage stellen. Das wäre gefährlich.
plädoyer: Widerspricht der neue Ausweisungsmechanismus in der Bundesverfassung Artikel 8 der EMRK, welcher die Achtung des Familienlebens verlangt?
Epiney: Eine Ausweisung verstösst nicht grundsätzlich gegen die EMRK, aber ein Ausweisungsautomatismus. Denn der Einzelfall muss geprüft werden, es gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip. Sonst liegt ein Verstoss gegen die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 8 der EMRK vor.
Schubarth: Wenn es zulässig ist, eine Person zu einer langen Freiheitsstrafe zu verurteilen, sehe ich nicht ein, weshalb es nicht zulässig sein sollte, eine Person in ihr Heimatland auszuweisen. Dies jedoch unter der Voraussetzung, dass sich die Schweiz gegen die gelegentliche Ausübung eines Besuchsrechts nicht wehrt.
plädoyer: Das Problem des Vorrangs von Landesrecht oder Völkerrecht stellt sich beim nicht zwingenden Völkerrecht. Haben Sie einen Vorschlag, wie man diese Abgrenzung klarer regeln könnte?
Epiney: Man sollte einfach die geltende Rechtslage – so wie sie durch das Bundesgericht präzisiert wird – anwenden. Nach dem Bundesgericht geht das Völkerrecht im Grundsatz vor. Artikel 190 der Bundesverfassung sagt im Übrigen auch, dass das Völkerrecht zu beachten ist. Das Bundesgericht hat im Oktober 2012 in BGE 139 I 16 bestätigt, dass das Völkerrecht auch für neue Verfassungsinitiativen gilt. Wenn die Ausschaffungsinitiative daher unmittelbar anwendbar wäre, was sie nach dem Bundesgericht nicht ist, könnte sie wegen Artikel 190 der Bundesverfassung nicht angewendet werden.
plädoyer: Und wenn eine Initiative angenommen würde, die vorsieht, dass in der Bundesverfassung steht, Landesrecht geht dem Völkerrecht vor?
Epiney: Das wäre eine komplexe Situation. Wir haben nämlich immer noch Artikel 5 Absatz 4 der Bundesverfassung, welcher besagt, dass Bund und Kantone das Völkerrecht beachten.
plädoyer: Eine parlamentarische Initiative schlägt vor, dass dieser Artikel gestrichen wird.
Epiney: Das ginge in Richtung eines Systemwechsels. Dies wäre schwierig, da die völkerrechtliche Bindung nach wie vor bestehen würde. Die Schweiz würde dann eine Diskrepanz zwischen Völkerrecht und Landesrecht in Kauf nehmen bzw. vorsehen. Dies würde das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft in die Vertragstreue der Schweiz nicht erhöhen, auch wenn andere Staaten bereits heute den Vorrang des Völkerrechts innerstaatlich nicht allgemein anerkennen.
Schubarth: Dem stimme ich zu. Ich sehe die Lösung darin, dass der EGMR reformiert werden muss. Die Strassburger Richter müssen zur Kenntnis nehmen, dass es so nicht weitergehen kann.
Epiney: Man sollte sich wohl überlegen, wie man die Qualität der Strassburger Rechtsprechung durch prozessuale oder andere Regelungen verbessern kann – auch im Dialog mit den nationalen Verfassungsgerichten. Das liegt in der Kompetenz des Europarates. Und der Gerichtshof kann auch einige Massnahmen selbst treffen.
Schubarth: Das Bundesgericht sollte in gewissen Fällen opponieren. Das ist für mich Bestandteil dieses Dialogs. Ich halte es für legitim und in gewissen Fällen gar für notwendig, dass eine untere Instanz bockt. Nehmen wir den Asbestfall und betrachten ihn bezüglich der Rechtssicherheit. Die Strassburger Rechtsprechung kann doch nicht mit rückwirkender Wirkung das Schweizer Verjährungsrecht ändern. Ob und inwieweit das Verjährungsrecht für die Zukunft – also ohne verfassungswidrige Rückwirkung – geändert werden soll, muss in einem demokratischen Gesetzgebungsverfahren geklärt werden und kann nicht vom EGMR mit unhaltbarem Rückgriff auf fair trial im Einzelfall entschieden werden.
Astrid Epiney, 48, ist seit 1994 Professorin für Europarecht, Völkerrecht und schweizerisches öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Zudem ist sie geschäftsführende Direktorin des dortigen Instituts für Europarecht.
Martin Schubarth, 71, ist in Lausanne Avocat-Conseil (Rusconi & Associés); er war früher Anwalt in Basel, von 1976 bis 1983 Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an den Unis Bonn und Hannover, von 1983 bis 2004 Bundesrichter.