chDie Schweiz darf verbindliche Uno-Sanktionen nicht bedenkenlos umsetzen. Das hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) in Strassburg am 21. Juni 2016 entschieden. Konkret geht es um den Fall von Khalaf M. al-Dulimi. Er soll als Finanzchef der irakischen Geheimdienste unter Saddam Hussein gewirkt haben. 2003 setzte das Sanktionskomitee der Uno den Iraker auf eine schwarze Liste und stützte sich dabei auf eine Resolution des Sicherheitsrates. Die Schweiz liess in der Folge rund 200 Millionen Franken, die Al-Dulimi hierzulande deponiert hatte, einfrieren. Der Iraker, der noch heute auf dieser Liste steht, wehrte sich dagegen erfolglos vor Bundesgericht. Begründung der Richter in Lausanne: Die Uno-Resolution lasse keinen Spielraum offen.
Al-Dulimi zog den Fall nach Strassburg weiter und und machte geltend, die Schweiz verwehre ihm den Zugang zu einem Gericht (Art. 6 Abs. 1 EMRK). Die Kleine Kammer des Gerichtshofs gab ihm recht. Die Schweiz zog daraufhin die Sache an die Grosse Kammer weiter.
Doch auch dort hat sie kein Gehör gefunden: Die Mehrheit der Strassburger Richter ist der Auffassung, bei der Uno-Resolution sei es gerade nicht so, dass sie keinen Ermessensspielraum lasse. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Sicherheitsrat nicht beabsichtige, den Mitgliedstaaten Verpflichtungen aufzuerlegen, die den Menschenrechten widersprechen. Solange eine Resolution die Möglichkeit einer gerichtlichen Prüfung nicht ausdrücklich ausschliesse, müsse die Resolution so verstanden werden, dass sie eine solche Kontrolle zulasse.
«Gerade die Auflistung von Personen auf einer Sanktionsliste kann schwerwiegende Eingriffe in die Rechte der Betroffenen haben», heisst es im Urteil. Die Schweizer Behörden seien also geradezu verpflichtet gewesen, die Rechtmässigkeit zu überprüfen, um das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Art. 6 EMRK nicht zu verletzen.
Schweizer Richterin nahm andern Standpunkt ein
Diese Position war innerhalb der Strassburger Richterschaft nicht unbestritten. In ihrem abweichenden Votum kritisierte die Schweizer EGMR-Richterin Helen Keller die Urteilsbegründung ihrer Kollegen scharf. Die Resolution sehe ganz klar keinen Ermessensspielraum für eine gerichtliche Überprüfung der Sanktionsmassnahmen durch die Uno-Staaten vor. Der Wortlaut der Resolution verpflichte die Mitgliedstaaten explizit, Vermögenswerte von Personen auf der schwarzen Liste «ohne Verzögerung einzufrieren und sofort in den Entwicklungsfonds für den Irak einzuzahlen». Diese Bestimmung kann gemäss Keller nicht missverstanden werden und schliesse eine gerichtliche Überprüfung durch die Uno-Mitgliedstaaten aus. Der Gerichtshof habe hier eine nicht statthafte Uminterpretation einer Uno-Resolution vorgenommen.
Europarechtlerin Astrid Epiney von der Universität Freiburg widerspricht: «Die Uno-Resolutionen schliessen die gerichtliche Überprüfung von Umsetzungsmassnahmen nicht aus.» Häufig bestünde auch bei der Umsetzung ein gewisser Gestaltungsspielraum: «Die Uno-Resolutionen sind soweit wie möglich in Einklang mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen auszulegen, das heisst, diese müssen in die Sicherheitsratsresolutionen quasi hineingelesen werden. So kann wohl in den allermeisten Fällen ein Konflikt vermieden werden.» In Konfliktfällen ist laut Epiney aber wohl ein Vorrang der EMRK anzunehmen, den man mit einer Art Ordre-public-Charakter menschenrechtlicher Verpflichtungen begründen könne.
Gemäss Andreas Auer, Professor an der Universität Zürich, ist es an der Zeit, «das menschenrechtlich absolut ungenügende Sanktionsverfahren aus rechtsstaatlichen Gründen in die Enge zu treiben». Auer schlägt vor, einen Vergleich mit der PKK-Rechtsprechung des Bundesgerichts zu wagen: «Bundesgesetze sind massgeblich, schreibt Art. 190 BV vor – aber nicht, wenn es um EMRK-Rechte geht, fügte das Gericht 1999 bei. Ebenso ist Art 103 der Uno-Charta grundsätzlich verbindlich – aber nicht, wenn es um Menschenrechte geht, meint der EGMR.» Damit sollte die Schweiz laut Auer leben können.
Zu lange Verfahrensdauer bei Haftentlassungsgesuch
In einem zweiten Fall rügte der Strassburger Gerichtshof die Schweiz, weil die Zürcher Behörden zu lange brauchten, um ein Haftentlassungsgesuch eines verwahrten Alkoholikers zu behandeln.
Der konkrete Fall: Ein 55-jähriger Mann sass seit 2002 in Verwahrung – wegen wiederholten Fahrens in angetrunkenem Zustand. «Er ist eine Gefahr für die Öffentlichkeit», befand das Gericht. Sechs Jahre später stellte sein Anwalt Matthias Brunner ein Haftentlassungsgesuch. Das Zürcher Amt für Justizvollzug lehnte ab. Der Anwalt zog den Fall an die Justizdirektion weiter. Auch hier hiess es: Antrag abgelehnt. 2009 wies dann auch noch das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab. Erst das Bundesgericht verfügte Ende 2011 die Entlassung.
Brunner gab sich mit der Entlassung seines Mandanten nicht zufrieden: Vor dem Gerichtshof für Menschenrechte bemängelte er die lange Verfahrensdauer zwischen der Eingabe des Haftentlassungsgesuchs und dem Entscheid des Verwaltungsgerichts.
Die Strassburger Richter geben Brunner jetzt recht: Die Kleine Kammer entschied am 10. Mai 2016 einstimmig, dass eine Verfahrensdauer von elf Monaten vom Haftentlassungsgesuch eines verwahrten Strafgefangenen bis zum ersten richterlichen Entscheid mit der EMRK (Art. 5 Abs. 4) nicht vereinbar ist (plädoyer 4/16). Nachdem keine der Parteien eine Neubeurteilung durch die Grosse Kammer verlangt hat, ist das Urteil seit August rechtskräftig.
Der Fall liegt damit beim Ministerkomitee, das die Umsetzung des Urteils auf innerstaatlicher Ebene zu überwachen hat. Die Konsequenzen für die Schweiz: Mehrere Kantone wie Zürich oder Basel-Stadt sind gezwungen, ihren Rechtsweg zu ändern. «Ohne Gesetzesänderungen wird man die EMRK-Garantien nicht erfüllen können», sagt Brunner. «Wenn man zuerst zwei Verfahren bei jenen Verwaltungsbehörden durchstehen muss, die ohnehin für den Freiheitsentzug verantwortlich sind, und erst nach Jahr und Tag ein Verwaltungsrichter in einem schriftlichen Beschwerdeverfahren das Dossier ansieht, widerspricht das Sinn und Geist eines alten Prinzips: ein unabhängiges Gericht und nicht die parteiische Vollzugsbehörde soll über Entlassungsgesuche entscheiden.» Die einzige rechtsstaatlich akzeptable Lösung sei, dass künftig Gerichte in einem ordentlichen kontradiktorischen Prozess und unter Gewährung der Parteirechte über Entlassungsgesuche entscheiden würden. «Ein Prozedere, das selbst bei der Ausfällung bedingter Geldstrafen selbstverständlich und unbestritten ist.»
Die Schweiz muss also handeln. Frank Schürmann vom Bundesamt für Justiz sagt: «Wir haben den Kanton Zürich gebeten, uns über geplante Änderungen in Gesetzgebung und Praxis zu orientieren.» Zudem wurden alle anderen Kantone eingeladen, dem Bundesamt mitzuteilen, «wie die einschlägigen Verfahren bei ihnen geregelt sind». Das weitere Vorgehen hänge vom Ausgang dieser Umfrage ab.
Susanna Stähelin, stellvertretende Generalsekretärin der Zürcher Justizdirektion, bestätigt: «Wir sind mit dem EJPD in Kontakt, um unser Vorgehen auch gesamtschweizerisch abzustimmen.» Die Direktion der Justiz und des Innern habe bereits den Auftrag gegeben, gemeinsam mit dem Amt für Justizvollzug und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich eine Auslegeordnung zu erstellen. «Es sollen das Fallaufkommen und mögliche neue Abläufe sowie Zuständigkeiten eingehend geprüft werden.»
Aargauer Regelung könnte als Vorbild dienen
Das EGMR-Urteil hat auch im Kanton Basel-Stadt Reaktionen ausgelöst. Martin R. Schütz, Mediensprecher beim Justiz- und Sicherheitsdepartement, sagt: «Mit der Vorschaltung mehrerer nichtrichterlicher Instanzen ist eine Verfahrenserledigung in konventionskonformer Frist gemäss den Massstäben des Gerichtshofes tatsächlich schwierig zu erreichen.» Deshalb werde bereits im Rahmen der in Angriff genommenen Revision des kantonalen Strafvollzugsgesetzes auch der Rechtsmittelweg im Licht des Entscheids des Gerichtshofs speziell geprüft.
Als künftiges Modell könnte der Kanton Aargau dienen: Auch hier gilt zwar bei Vollzugsfragen grundsätzlich, dass zuerst der verwaltungsinterne Instanzenzug gewahrt werden muss, bevor ein Gericht angerufen werden kann. Bei einem Gesuch um Entlassung aus dem Straf- und Massnahmenvollzug gilt aber eine Ausnahme. «Hier kann der Entscheid des Amts für Justizvollzug direkt beim Verwaltungsgericht mittels Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden, ohne dass zuerst ein verwaltungsinternes Beschwerdeverfahren zur Anwendung kommt», sagt Samuel Helbling vom Departement Volkswirtschaft und Inneres.