plädoyer: Die Revision senkt den minimalen Umwandlungssatz für Renten von 6,8 auf 6 Prozent. Wer nur im Obligatorium versichert ist, erhält künftig eine 12 Prozent tiefere Rente. Ist diese Kürzung nötig?
Lukas Müller-Brunner: Ich wehre mich gegen den Vorwurf der Rentenkürzung. Gekürzt wird nur die Leistung pro Monat, nicht pro Leben. Den Umwandlungssatz zieht man bei der Verrentung bei, um aus einem Kapital eine jährliche Zahlung zu machen. Ein entscheidender Faktor ist die Lebenserwartung. Seit Jahrzehnten steigt die Lebenserwartung. Im Überobligatorium können die Pensionskassen reagieren und den Umwandlungssatz reduzieren. Im Obligatorium geht das nicht. Dort sind sie darauf angewiesen, dass der Gesetzgeber handelt.
Gabriela Medici: Durch die Reform drohen Rentenkürzungen und ein schlechterer Schutz für die Versicherten. Die Leistungsreduktion ist nicht nötig. In fast allen Kassen ist der Umwandlungssatz bereits tiefer, durchschnittlich bei 5,3 Prozent, weil die Kassen bei überobligatorisch Versicherten tiefer gehen können. Die Reform würde ihren Handlungsspielraum vergrössern. Betroffen wären alle Versicherten, nicht nur Geringverdiener im Obligatorium.
plädoyer: Die Lebenserwartung der 65-Jährigen ist seit 2017 etwa gleich hoch, bei Frauen steigt sie seit 2012 nicht mehr. Die Kassen leben gut mit dem heutigen Gesetz, sie konnten ihre Reserven erhöhen.
Müller-Brunner: Eine so kurzfristige Betrachtung ist nicht sinnvoll. Wir untersuchen die Entwicklung in Fünfjahresschritten. Und da sieht man jedes Mal eine Zunahme der Lebenserwartung im Zeitpunkt des Rentenalters 65 bei den Versicherten.
plädoyer: Im Obligatorium sind Löhne bis 88'200 Franken versichert. Mehr als die Hälfte der Angestellten verdient weniger. Die Reduktion des Umwandlungssatzes würde also die Leistungen der Kassen für sehr viele Leute reduzieren.
Müller-Brunner: Nein. Schaut man sich die Versichertenbestände an, spüren nur etwa 15 Prozent den Mindestumwandlungssatz. Nur sie sind lediglich im Obligatorium versichert. Alle übrigen Versicherten haben genug überobligatorisches Kapital. Wir machen die Reduktion des Mindestumwandlungssatzes insofern nur für Pensionskassen, die nah am gesetzlichen Minimum sind. Sie werden sich aus dem Markt zurückziehen, wenn der Gesetzgeber nicht reagiert. Dann wird niemand mehr die gesetzlichen Mindestpläne anbieten. Das kann sozialpolitisch nicht das Ziel sein.
plädoyer: Bereits 2010 fand eine Abstimmung zur Senkung des Umwandlungssatzes statt. Die Kassen behaupteten, sie würden jedes Jahr 500 bis 600 Millionen Franken Verlust machen, wenn die Vorlage nicht durchkommt. Sie wurde abgelehnt. Doch die Reserven der Kassen haben sich seither mehr als verdoppelt.
Müller-Brunner: Es ist positiv, dass die Reserven gestiegen sind. Die Kassen haben gehandelt, weil die Lebenserwartung steigt. Also legen sie entsprechend Kapital zur Seite, damit sie die Leistung lebenslang erbringen können.
Medici: Es ist offensichtlich, dass es den Kassen sehr gut geht und zu wenig Geld an die Versicherten fliesst. Der Bundesrat hat deshalb auch vor kurzem den Mindestzins für die Altersguthaben der Erwerbstätigen erhöht. In vielen Pensionskassen laufen gar Diskussionen, wie man die Leistungen wieder erhöhen kann. Ich kenne keine einzige Pensionskasse, die dringend auf die Senkung des Umwandlungssatzes auf 6 Prozent angewiesen wäre.
plädoyer: Die Pensionskassen erzielten in den zehn Jahren bis 2021 auf dem Alterskapital eine durchschnittliche Rendite von 5,3 Prozent. Sie haben den Versicherten aber nur 2,4 Prozent gutgeschrieben. Mit der Differenz von knapp drei Prozent erhöhten die Kassen die Reserven weiter. Weshalb geben sie den mit dem Geld der Versicherten erzielten Gewinn nicht an diese weiter?
Müller-Brunner: Der Grossteil der Reserven wird verwendet, um länger die gleichen Leistungen zu bezahlen. Die Kasse muss allen Rentnerinnen und Rentnern, denen sie vor zehn Jahren einen sehr hohen Umwandlungssatz zugesprochen hat, die Leistungen lebenslang weiterzahlen. Man kann versprochene Leistungen nicht im Nachhinein reduzieren.
Medici: Die Pensionskassen berücksichtigen die zukünftige Entwicklung der Lebenserwartung bereits in ihren sogenannten Generationentafeln. Das letzte Mal, als man diese Tafeln aktualisierte, wurde klar, dass die künftige Lebenserwartung zu hoch eingeschätzt wurde. Resultat: Plötzlich wurden Reserven frei. Das war 2020. Damit hätte man die Leistungen verbessern oder die Renten an die Teuerung anpassen können. Viele Rentner leiden unter der Teuerung. Aber in der zweiten Säule gibt es keinen Anspruch auf einen Teuerungsausgleich.
Müller-Brunner: Es stimmt, es gibt im Gesetz keine Vorschrift für eine obligatorische Anpassung der Altersrenten an die Teuerung. Doch mit Artikel 36 BVG gibt es eine gesetzliche Bestimmung, die regelt, wie man mit der Teuerung umgehen soll. Danach entscheidet der Stiftungsrat basierend auf der finanziellen Situation der Kasse, ob und wie stark man die Rente an die Teuerung anpasst – die einzig sinnvolle Lösung.
Medici: Der Bevölkerung versprach man vor 50 Jahren einen automatischen Teuerungsausgleich. Das Parlament hat ihn nie umgesetzt.
plädoyer: Über die Anpassung der Renten an die Teuerung entscheidet der Stiftungsrat. Darin sind aber nur Arbeitgeber und Angestellte vertreten, keine Rentner. Ist dies nicht problematisch?
Müller-Brunner: Ich sitze in mehreren Stiftungsräten. Dort vertrete ich primär die Interessen der Destinatäre, und zwar von allen, egal ob sie bereits pensioniert sind oder nicht. Und es gibt Kassen mit Rentnern im Stiftungsrat, etwa die Pensionskasse des Kantons St. Gallen. Das ist eine Bereicherung. Ich sehe keinen Bedarf, das Gesetz anzupassen.
Medici: Das braucht es auch aus meiner Sicht nicht, solange die Renten langfristig gleich hoch bleiben.
plädoyer: Sollten die Pensionskassen nicht zuerst ihre Kosten senken, bevor sie Leistungen der Versicherten reduzieren? Ihre Vermögensverwaltung kostet etwa zehnmal mehr als beim norwegischen Staatsfonds, der auch etwa 1,2 Billionen Franken verwaltet. Und bei der AHV kostet die Vermögensverwaltung weniger als halb so viel wie bei den Pensionskassen.
Müller-Brunner: Der norwegische Staatsfonds und der AHV-Ausgleichfonds sind beides einheitliche Fonds. Bei den Pensionskassen hingegen haben wir keinen grossen Topf, sondern ein System mit rund 1300 einzelnen Kassen. Jede hat eine andere Risikostrategie. Eine BVG-Minimalkasse zum Beispiel kann weniger Risiko eingehen als eine Kasse mit viel Kapital im Überobligatorium.
Medici: Im Umfeld der Kassen profitieren heute zu viele Experten, Makler und Verwalter. Wir haben gut geführte Pensionskassen mit Vermögensverwaltungskosten von 0,2 Prozent. Doch der Durchschnitt liegt bei 0,5 Prozent. Das sind acht Milliarden Franken zu hohe Vermögensverwaltungskosten pro Jahr. Mit diesem Geld könnten die Kassen den Versicherten monatlich rund 200 Franken mehr Rente zahlen. Und es sind auch Versicherungsgesellschaften im Pensionskassengeschäft tätig. Sie dürfen 10 Prozent der Erträge aus der zweiten Säule für sich behalten. Das finde ich stossend: Bevor man die Leistungen der Versicherten kürzt, sollte man die Kosten der Vermögensverwaltung eindämmen.
plädoyer: Die Revision will den obligatorisch versicherten Lohnanteil erhöhen. Ein sinnvoller Vorschlag?
Medici: Der Teil des Lohns, der in der zweiten Säule versichert sein soll, wird massiv ausgebaut, vor allem bei Leuten mit tiefen Einkommen wie zum Beispiel Teilzeitangestellten. Das kostet die Betroffenen aber während der Erwerbstätigkeit real viel mehr – und am Schluss erhalten sie trotzdem weniger Rente als heute. Die Versicherten zahlen also unter dem Strich mehr für weniger Rente. Die Zahlen des Bundesrats belegen das. Beispiel: Wer jetzt 25 Jahre alt ist und während 40 Jahren bei einem mittleren Einkommen von 72'000 Franken in das neue BVG einzahlt, muss jeden Monat etwa 160 Franken mehr einzahlen und erhält dennoch eine tiefere Rente als heute garantiert.
Müller-Brunner: Die Reform ist keine Abbauvorlage. Die Versicherten sparen mehr Geld fürs Alter. Am Schluss erhalten insbesondere Personen mit tiefen Einkommen eine höhere Rente. Und weil die Lebenserwartung steigt, muss die Kasse diese Rente länger zahlen. Versicherte, die nicht mehr genug Zeit haben, das zusätzliche Geld einzuzahlen, erhalten Übergangsleistungen. Beispiel: Wer heute schon 60 ist, bekommt mit der Revision eine Zusatzrente.
plädoyer: Was passiert, wenn das Volk die Revision ablehnt?
Müller-Brunner: Vereinfacht gesagt: gar nichts. Denn die Kassen funktionieren bereits heute mit dem Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent. Wir bleiben jedoch bei einem Gesetz stehen, das 1985 für einen ganz anderen Arbeitsmarkt erfunden wurde. Damals ging man von einem Hauptverdiener aus. Teilzeitangestellte und Mehrfachbeschäftigte kommen mit dem bestehenden Gesetz zu kurz.
Medici: Fast alle Kassen haben Teilzeitangestellte bereits besser versichert. Das Rentenproblem der Teilzeitangestellten ist, dass sie sich in der restlichen Zeit um die Familie kümmern oder Care-Arbeit leisten. Das führt in der zweiten Säule zu grossen Lücken. Die Reform löst dieses Problem nicht.
plädoyer: Die aktuelle BVG-Revision ändert Prämien und Renten. Wurde damit nicht die grosse Chance verpasst, die grössten Schwächen der zweiten Säule zu beseitigen? Beispiel: Heute sind punkto Umwandlungssatz die nur im Obligatorium Versicherten bessergestellt als diejenigen, die höhere Prämien zahlen und überobligatorisch versichert sind. Wäre es nicht fairer, die Grundversicherung und die Zusatzversicherung wie bei der Krankenkasse klar zu trennen? Dann würden überobligatorisch Versicherte genau sehen, was sie für ihr Geld bekommen.
Medici: Die Idee geht in die richtige Richtung. Vor allem müsste man die Grundversicherung stärken, den Schutz der Versicherten.
Müller-Brunner: Es gibt im Überobligatorium keine gesetzlichen Mindestleistungen, das stimmt. Aber das ist ja genau das Konzept des Überobligatoriums. Man geht über die Mindestleistungen hinaus. Der Stiftungsrat legt die Leistungen fest. Er ist paritätisch aus Vertretern von Angestellten und Arbeitgeber zusammengesetzt. Die Versicherten können Einfluss auf die Leistungen nehmen, sie sehen, was sie fürs Geld bekommen.
plädoyer: Die paritätische Besetzung der Stiftungsräte steht im Gesetz. Funktioniert die Mitsprache der Arbeitnehmervertreter in der Realität?
Medici: Es gibt Kassen, bei denen es bestens funktioniert. Doch es gibt eine Entwicklung weg von Betriebskassen zu immer grösseren Sammelstiftungen. Diese sind weit weg von den Versicherten – und auch vom Arbeitgeber. Das Bundesgericht schreibt zwar vor, dass die Angestellten vor einem Kassenwechsel angehört werden müssen. Am Schluss entscheidet aber der Arbeitgeber.
plädoyer: Wie könnte man das gesetzlich besser regeln?
Medici: Die Angestellten müssten als Vertreter in die Stiftungsräte auch solche wählen können, die nicht im Betrieb arbeiten. Damit könnte man die Abhängigkeit vom Arbeitgeber vermindern und auch Fachkompetenz einbringen.
Müller-Brunner: Man kann nicht von wenigen Einzelfällen auf das ganze System schliessen. In den allermeisten Fällen funktioniert die Vertretung von Arbeitgeber- und Angestelltenseite bestens. Die Leute werden geschult, haben eine Weiterbildungspflicht. Wo es nicht klappt, ist die Aufsichtsbehörde in der Lage, einzugreifen.
plädoyer: Die Zinsen tragen viel zum Altersguthaben bei. Der vom Bundesrat jährlich festgelegte Mindestzins ist unabhängig vom erwirtschafteten Ertrag. Sollte er sich nicht nach der konkreten Vermögensrendite richten?
Müller-Brunner: Nein, es braucht keine Änderung. Der Bundesrat stützt sich bei seinem Entscheid zum Mindestzins jeweils auf die Empfehlung der BVG-Kommission, eines Expertengremiums. Und die Kassen dürfen ja mehr zahlen. Sie taten dies auch. Der ausbezahlte Durchschnittszins liegt deutlich höher als der Mindestzins.
Medici: Der Mindestzins müsste gemäss Gesetz der Rendite entsprechen, die eine Pensionskasse im Durchschnitt erzielen kann. Doch der Mindestzins war immer deutlich tiefer. Und der Mindestzins gilt nur auf dem obligatorischen Teil. Die Folge davon sieht man etwa im Rekordjahr 2021. Die Versicherer zahlten im Überobligatorium im Durchschnitt nur 0,15 Prozent Zins. Das zeigt: Wo nichts garantiert ist, gibt es Kassen, die praktisch nichts leisten.
Lukas Müller-Brunner, 41, Betriebswirtschafter, Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbands Asip, Zürich
Gabriela Medici, 38, Juristin, stellvertretende Sekretariatsleiterin des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, Bern
Abstimmung über die Revision der beruflichen Vorsorge
Voraussichtlich Anfang Juni 2024 wird die Schweiz über die Revision des Gesetzes über die berufliche Vorsorge abstimmen. Ein Hauptpunkt der Vorlage ist die Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent. Der Satz bestimmt, wie hoch die jährliche Altersrente der Pensionskasse mindestens sein muss. Pro 100'000 Franken Altersguthaben beträgt die Mindestrente heute 6800 Franken pro Jahr, neu wären es noch 6000 Franken.
Die Rentensenkung im Obligatorium soll für einen Teil der Übergangsgeneration mit einem Rentenzuschlag gemildert werden. Wer in den 15 Jahren nach Inkrafttreten der Revision pensioniert wird, würde je nach Höhe der Rente einen Zuschlag bis zu 200 Franken pro Monat erhalten. Knapp die Hälfte der Pensionierten der Übergangsgeneration könnten mit einem Rentenzuschlag rechnen.
Finanziert wird er durch zusätzliche Lohnprozente von Arbeitgebern und Angestellten. Neu wären bereits Einkommen ab 19'845 Franken obligatorisch versichert statt wie bisher ab 22'050 Franken. Das obligatorisch versicherte Einkommen wird von 62'475 auf 70'560 Franken erhöht.
SP und Gewerkschaftsbund ergriffen gegen die Änderung das Referendum.