plädoyer: Im Jahr 2023 gab es bei insgesamt mehr als 7500 Fällen am Bundesgericht nur 391 elektronische Eingaben. Der Anteil digitaler Eingaben liegt somit im tiefen einstelligen Prozentbereich. Es besteht offensichtlich kein Bedürfnis nach elektronischen Eingaben. Weshalb nun ein Zwang dazu?
Jacques Bühler: In der Schweiz orientierten wir uns beim Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ) an den Nachbarstaaten. Sie haben einen höheren Prozentsatz an elektronischen Eingaben. Ein Grund dafür ist, dass der digitale Weg dort einfacher gestaltet ist als heute in der Schweiz und generell effizienter ist. Aber es liegt vor allem auch daran, dass sie ein Obligatorium eingeführt haben.
Claudia Schreiber: Es bräuchte kein Obligatorium, wenn die Arbeitsabläufe in der digitalen Anwaltskanzlei wirklich einfacher und effizienter wären, wie es oft dargestellt wird. Ein Hauptgrund, weshalb sich der elektronische Rechtsverkehr in der Schweiz bisher nicht durchsetzen konnte: Die Behörden waren mit elektronischen Eingaben vielfach überfordert. Man könnte auch ein Obligatorium einführen, sobald die freiwillige Beteiligung eine festzulegende Schwelle überschritten hat. Das wäre ein Anreiz für die Justiz, eine für alle Verfahrensparteien praktikable und auch rechtskonforme Umsetzung sicherzustellen.
Bühler: Das Obligatorium zur elektronischen Kommunikation gilt nicht nur für die Anwaltschaft, sondern auch für Gerichte und Staatsanwaltschaften. Dadurch wird sichergestellt, dass Anwältinnen und Anwälte bei elektronischen Eingaben auch elektronisch Antworten erhalten.
plädoyer: Claudia Schreiber, wie wird sich die Digitalisierung auf die Anwaltskanzleien auswirken?
Schreiber: Die Digitalisierung verändert alle Arbeitsabläufe grundlegend: Ein Stück Papier und eine Datei sind nicht das Gleiche. Viele verstehen unter Digitalisierung lediglich, Papier durch PDFs zu ersetzen und diese hin- und herzuschicken. Darum geht es nicht. Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Ubiquität, also die Allgegenwart von elektronischen Unterlagen. Denn Digitalisierung ist viel mehr als nur elektronischer Rechtsverkehr.
Bühler: Sie finden im Bundesgesetz nirgends den Begriff PDF. Im Gesetz ist nur von «Dokument» die Rede. Dieses entspricht gemäss der Botschaft einer Datei, was praktisch alles umfassen kann. Der Bundesrat wird die zugelassenen Dateiformate in einer Verordnung festlegen.
Schreiber: Entscheidend ist: Mit der Digitalisierung kommen neue Prüf- und Bearbeitungsroutinen und damit auch neue Sorgfaltspflichten auf die Anwälte zu. Beispiel: Die Anwälte müssen offensichtlich gefälschte Beweismittel erkennen und sollten diese nicht einreichen. Das gilt auch für elektronische Beweismittel. Ich kann also nicht einfach ein Beweismittel eines Klienten ohne Prüfung weitergeben. Wir müssen elektronische Beweismittel auf den gesamten Inhalt prüfen. Bei einer Fotodatei müssen wir also auch Exif-Metadaten wie Informationen über den Zeitpunkt der Aufnahme, die Einstellungen, die Kamera und so weiter prüfen. Allein schon diese Triage mit Spezialsoftwares ist aufwendig.
Bühler: Anwälte haben heute bereits dieselben Sorgfaltspflichten.
Schreiber: Nein, die konkreten Sorgfaltspflichten sind bei einem Papierdokument und einer Datei unterschiedlich. Eine Datei ist wie ein Eisberg – ein Teil ist für Laien erkennbar, der Teil «unter Wasser» kann unter Umständen nur mit Spezialsoftwares und spezifischem Wissen sichtbar gemacht werden. Und eine Datei präsentiert sich unterschiedlich, je nachdem, mit welcher Software man sie betrachtet. Das ist bei einem Stück Papier nicht der Fall.
plädoyer: Das wird den Aufwand in den Kanzleien erhöhen und damit auch die Kosten für die Klienten.
Schreiber: Davon gehe ich aus. Ich analysiere für den Bernischen Anwaltsverband die möglichen Mehrkosten für die Anwaltschaft, dabei habe ich gewisse Annahmen zu Sorgfaltspflichten und Arbeitsabläufen auch anhand von internationalen Standards getroffen. Mein Fazit: Es wird einen massiven Ausbau der Supportprozesse geben, also der betrieblichen Prozesse wie IT und Datenmanagement.
Bühler: Die Nutzung der Justizplattform ist für die Parteien und somit auch für die Anwaltschaft kostenlos. Der Bundesrat wird die Aufteilung der Kosten zwischen den Kantonen festlegen. Die jährlichen Betriebskosten der Plattform wurden auf etwa 7,4 Millionen Franken geschätzt. Die Gerichte und Staatsanwaltschaften geben aktuell jedoch rund 20 Millionen Schweizer Franken jährlich für Portokosten aus. Wenn bis 2030 oder später die Hälfte der Posttransaktionen über die Plattform läuft, könnten die Einsparungen bei den Portokosten den Betrieb der Plattform finanzieren.
Schreiber: Wer die Einsparungen bei den Portokosten als entscheidenden Vorteil sieht, denkt nur an den elektronischen Rechtsverkehr. Der grösste Aufwand liegt bei allen Parteien in den Arbeiten, die vor und nach der elektronischen Eingabe auf uns zukommen. Es gibt Gerichte, die heute bereits bei einfachen Aufgaben wie dem Abspielen von proprietären Videoformaten Probleme haben. Die neuen Arbeitsabläufe und Anforderungen beispielsweise im Umgang mit elektronischen Beweismitteln werden auch in der Justiz zu erheblichen Mehrkosten führen.
plädoyer: Die Anwaltschaft wird gezwungen, neue Softwares zu benutzen, mehr Personal zu beschäftigen, die IT-Infrastruktur auszubauen. Ist dies mit der Wirtschaftsfreiheit vereinbar?
Schreiber: Der springende Punkt ist, ob die Anwälte für den zusätzlichen Aufwand entschädigt werden. Insbesondere in Strafverfahren müssen Anwälte in der Lage sein, elektronische Beweismittel gegebenenfalls umfassend zu prüfen. Dies geht mit Mehrkosten für Spezialsoftwares und dafür ausgebildetes Personal einher. Diese offensichtlichen Mehrkosten müssen bei der amtlichen Entschädigung berücksichtigt werden.
Bühler: Sehr wenige Strafverfahren sind wirklich komplex. Nur 5 Prozent der Straffälle werden von der Staatsanwaltschaft an die Gerichte weitergeleitet, oft bei Fällen mit Haftstrafen über sechs Monaten oder komplexeren Beweismitteln. 95 Prozent der Fälle werden somit von der Staatsanwaltschaft im Strafbefehlsverfahren erledigt, mit kurzen Strafen oder Bussen. Also muss nur in 5 Prozent der Fälle eine tiefere Prüfung der Beweismittel erfolgen.
Schreiber: Anwälte sind mehrheitlich in diesen 5 Prozent tätig. Und auch wenn nicht in jedem Strafverfahren digital-forensische Abklärungen nötig sind: Der Strafverteidiger muss das Basiswissen haben, um zu erkennen, wann es angezeigt ist, elektronische Beweismittel umfassend zu prüfen. In diesen Fällen müssen die entsprechenden Softwares und das Know-how bereits vorhanden sein.
plädoyer: Gemäss Gesetz können die Kantone selbst entscheiden, ab wann Anwälte die elektronische Plattform benutzen müssen. Sorgt das nicht für eine völlig unübersichtliche Situation?
Bühler: Das Bundesamt für Justiz rechnet damit, dass ein erster Teil des Gesetzes am 1. Juli 2025 in Kraft treten könnte, sofern das Referendum nicht ergriffen wird. Dazu gehören das Kapitel über die öffentlich-rechtliche Körperschaft und der Datenschutz. Dies ermöglicht die Gründung der öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die für den Betrieb der Plattform zuständig sein wird.
Der Rest, einschliesslich der Verfahrensgesetze und weiterer Regelungen, soll voraussichtlich am 1. Juli 2026 in Kraft treten. Die Artikel, die für Anwälte ein Obligatorium vorsehen, treten spätestens fünf Jahre später in Kraft. Die Kantone können entscheiden, ob sie das Obligatorium früher umsetzen wollen. Ein Kanton kann das Obligatorium ab dem 1. Juli 2027 vollständig einführen, während es in anderen Kantonen noch nicht gilt. Das wird alles publiziert, sodass es keine Überraschungen oder Schwierigkeiten gibt.
Schreiber: Diese Lösung mit der etappenweisen Einführung des Obligatoriums je nach Kanton und Verfahrenstyp zu unterschiedlichen Zeitpunkten ist sehr bedauerlich. Andererseits hoffe ich, dass die Behörden nun die Übergangsregelungen so umsetzen, dass das Obligatorium erst dann kommt, wenn das Justizpersonal effektiv sachgerecht mit Dateien und dem elektronischen Verfahrensdossier umgehen kann, inklusive der Validierung und Würdigung von elektronischen Beweismitteln.
plädoyer: Kürzlich erfolgten Cyberangriffe auf Arztpraxen in Lausanne. Hunderte Mediziner hatten wochenlang keinen Zugriff auf ihre IT-Systeme und Patientendossiers. Das zeigt: Wo heikle Daten sind, greifen Hacker an. Gehen wir mit dem obligatorischen elektronischen Verkehr nicht ein hohes und unnötiges Risiko ein?
Bühler: Es gibt keine absolute Sicherheit. Wir rechnen mit Angriffen und sind entsprechend vorbereitet. Die Kommunikation zwischen einer Partei, also dem Anwalt oder der Anwältin, und der Plattform erfolgt über einen sicheren verschlüsselten Kanal. Auf der Plattform wird die hochgeladene Datei auf Schadsoftware geprüft, und unmittelbar danach wird sie verschlüsselt auf der Plattform abgelegt. Die Dokumente sind alle einzeln verschlüsselt. Und alle einzelnen Schlüssel sind selbst auch noch einmal verschlüsselt. Wenn wir einen Hacker haben, der auf die Plattform kommt, was sieht er? Nur verschlüsselte Dateien von Fällen.
plädoyer: Die Eingaben werden auf der Plattform neu verschlüsselt und nicht auf dem ganzen Weg von der Anwaltskanzlei bis zum Gericht, wie das in der Botschaft des Bundesrats stand. Das heisst doch, der Plattformbetreiber hat Zugang zu den Daten und damit auch allfällige Hacker. Sehen Sie keine Gefahr für die Wahrung des Post- und des Anwaltsgeheimnisses?
Bühler: In der bundesrätlichen Botschaft hiess es auch, die Dateien seien auf der Plattform auf Schadsoftware zu überprüfen. Beides, also eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und eine Schadsoftwareprüfung, ist nicht möglich. Wir haben uns für eine der beiden Varianten entscheiden müssen. Es gibt immer ein Restrisiko. Die obersten Systemadministratoren wissen, wo die Schlüssel sind, um das Ganze zu entschlüsseln. Diese Leute werden von der Sicherheit her strengstens überprüft, sie werden bei den Firmen in regelmässigen Abständen auch ausgewechselt. Wir haben auch Risiken akzeptiert, die sich ausserhalb der Plattform abspielen.
Wenn ein Anwalt die Kanzlei verlässt, aber noch Zugriff auf Fälle hat, die er dort betreut hat, und die Kanzlei ihm diese Rechte nicht entzieht, besteht ein Risiko, dass jemand auf Daten zugreift, auf die er eigentlich keinen Zugriff mehr haben sollte. Das gilt auch für Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie alle anderen Beteiligten. Dieses Restrisiko kann nur durch Sensibilisierung und Kommunikationsmassnahmen minimiert werden.
Schreiber: Der Bernische Anwaltsverband hat Ende Januar ein neues Merkblatt veröffentlicht, das sich mit der Anbindung von Anwaltssoftwares an die Plattform Justitia.swiss befasst. Eine Empfehlung geht in die Richtung, die Sie angesprochen haben: Anwälte sollten sich vom Entwickler ihrer Anwaltssoftware beispielsweise ausdrücklich erklären lassen, wie die Anmeldeinformationen vor unbefugtem Zugriff geschützt werden können.
plädoyer: Wenn die Plattform am letzten Tag der Frist nicht erreichbar ist, dürfen Anwälte die Eingabe auf Papier einreichen. Sie können die Eingabe auch am nächsten Werktag, an dem die Plattform erreichbar ist, elektronisch einreichen, müssen die Nichterreichbarkeit aber glaubhaft machen. Wie ist dies konkret möglich?
Schreiber: Die Glaubhaftmachung der Nichterreichbarkeit bereitete dem Bernischen Anwaltsverband von Anfang an Sorgen. Wir konnten im Parlament in letzter Minute noch eine praktikable Lösung einbringen, zusammen mit einer Arbeitsgruppe, die sich spontan auf der Juristenplattform Iusbubble gebildet hat. Nun kann man ohne Glaubhaftmachung der Nichterreichbarkeit der Plattform die Frist wahren, indem man den Beweis der Existenz der einzureichenden Dateien am Tag des Fristablaufs einreicht.
Das ist mit der Übermittlung des Hashwerts einfach möglich, also mit einem digitalen Fingerabdruck der Dateien. Das ist eine zeitsparende Alternative zur Eingabe in Papierform, die aufwendig und in gewissen Fällen technisch nicht möglich ist.
Bühler: Bereits heute kann man Eingaben digital bei den Gerichten einreichen. In einem Fall am Bundesgericht konnte man eine Datei, die über eine anerkannte sichere Mailplattform eingereicht wurde, aber nicht öffnen. Da wir den Hashwert hatten, gaben wir der Partei eine Frist, die Datei auf einem Stick erneut zuzusenden. Als wir den Stick erhielten, verglichen wir die Hashwerte, sie stimmten überein. Das Verfahren funktioniert also. Es wird bereits angewendet, wenn nötig.
Gesprächsteilnehmer
- Jacques Bühler, 64, Erster Adjunkt des Generalsekretärs des Bundesgerichts und Gesamtleiter des Projekts Justitia 4.0.
- Claudia Schreiber, 54, Rechtsanwältin und im Vorstand des Bernischen Anwaltsverbands verantwortlich für das Ressort Digitalisierung.
Das neue Gesetz zur elektronischen Justiz
Das Parlament verabschiedete im Dezember das Bundesgesetz über die Plattformen für die elektronische Kommunikation in der Justiz (BEKJ). Dieses gilt für Straf- und Zivilprozesse, Bundesverwaltungs- und weitere vom Bund geregelte Verfahren. Die Referendumsfrist läuft bis am 19. April. Das Gesetz sieht und anderem
Folgendes vor:
- Die Behörden führen die Akten elektronisch.
- Behörden und berufliche Vertreter, etwa Anwälte, müssen Dokumente zwingend elektronisch austauschen.
- Eingaben, Akteneinsicht, Entscheideröffnungen und andere schriftliche Kommunikation erfolgen über digitale Justizplattformen.
- Der Bund und die Kantone können sich an einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft beteiligen, welche eine Plattform betreibt. Ein Kanton kann auch eine eigene Plattform betreiben.
- Der Bundesrat bestimmt das Inkrafttreten.
- Ab dem Zeitpunkt des vollständigen Inkrafttretens haben die Kantone bis zu fünf Jahre Zeit, um den elektronischen Prozess für obligatorisch zu erklären. Anwälte haben je nach Kanton ein bis vier Jahre Zeit, um vom Papier zum elektronischen Prozess zu wechseln.