plädoyer: 1967 besetzte Israel den Gazastreifen, seit 2005 belagert es das Gebiet. Beides verletzt das Völkerrecht. Bei den letzten Wahlen 2006 erhielt die Hamas in den besetzten Gebieten Palästinas die Mehrheit der Stimmen. Im Gazastreifen stellt sie seit 17 Jahren die Regierung und ist für die Verwaltung zuständig – inklusive Schulen, Spitäler, Sozialleistungen und Polizei. Jetzt will der Bundesrat die Hamas verbieten. Ist das sinnvoll?
Nicole Barandun: Diese Darstellung ist verkürzt und stellt die Situation im Nahen Osten einseitig dar. Entscheidend ist, dass es sich bei der Hamas um eine nicht staatliche Organisation handelt. Das unterscheidet sie von Israel. Bei einem Staat hat man andere Mittel, um diesen im Falle von Verfehlungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Ahmed Ajil: Staatliche wie nicht staatliche Organisationen sind an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Es gäbe daher Möglichkeiten, beide Parteien mit gleichen rechtlichen Mitteln zu behandeln. Bei nicht staatlichen Organisationen ist es jedoch für Politikerinnen und Politiker schlicht einfacher, sie als terroristisch zu bezeichnen. Die Hamas ist überall im Gazastreifen. Sie sitzt nicht irgendwo am Rande der Stadt in einem Gebäude, wo man klar sagen kann, hier ist die Gruppierung. Im Gegenteil, die Hamas ist eng verbunden mit der Gesellschaft und verschiedenen Institutionen.
Barandun: Die Hamas hat aus meiner Sicht schon lange vor dem menschenverachtenden Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 die Voraussetzungen erfüllt, um als terroristische Organisation eingestuft werden zu können.
plädoyer: Aus der Sicht vieler Palästinenser sind die Hamas-Milizen Freiheitskämpfer. Die USA und Israel sehen sie als Terroristen. Handelt die Schweiz bei einem Verbot neutral?
Ajil: Die Frage der Neutralität ist mehr eine politische als eine rechtliche. Die Schweiz will im Nahostkonflikt zwar den Anschein von Neutralität behalten, hat aber durch ihre einseitigen Stellungnahmen faktisch Position für Israel bezogen. Das ist nicht neutral.
plädoyer: Schweizer Firmen lieferten militärisch nutzbare Waren an Israel, obwohl sich Israel im Krieg befindet. Darf das ein neutraler Staat?
Barandun: Die Neutralität und auch das Kriegsmaterialgesetz verbieten Waffenlieferungen an eine Kriegspartei. Materialien, die primär für den zivilen Gebrauch bestimmt sind, aber auch militärisch genutzt werden können, sogenannte Dual-Use-Güter, dürfen nach Israel exportiert werden.
plädoyer:Die Uno hat der Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konvention den Auftrag erteilt, eine Friedenskonferenz zu organisieren. Scheidet die Schweiz als glaubwürdige Vermittlerin nicht aus, wenn sie eine Konfliktpartei verbietet?
Ajil: Im Jahr 2021 schrieb die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats noch, ein Verbot der Hamas würde die Vermittlerrolle der Schweiz im Nahen Osten gefährden. Die Schweiz müsse ihre guten Dienste ausbauen, um mehr Sicherheit in der Region zu schaffen, statt die Hamas zu verbieten. Zudem würde ein Hamas-Verbot der Schweiz schaden. Innert dreier Jahre änderte das Parlament seine Ansicht ins Gegenteil.
Barandun: Der Angriff vom 7. Oktober 2023 hat vieles verändert. Die Schweiz ist Uno-Mitglied, und seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine gibt es auch bei uns einen breiten Konsens, dass ein neutraler Staat gegen Angriffskriege Stellung beziehen darf, ja muss, ohne dadurch die Neutralität zu verletzen. Gute Dienste können nicht nur durch neutrale Staaten erbracht werden. So vermittelt etwa das Nato-Land Türkei zwischen Russland und der Ukraine.
plädoyer: Wie soll die Schweiz eine Friedenskonferenz durchführen, wenn die Hamas verboten ist? Muss sie die Konferenz ins Ausland verlegen?
Barandun: Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Hamas Gesprächspartner sein wird für Friedensgespräche.
plädoyer: Im Gazastreifen findet ein Massaker an der Zivilbevölkerung statt mit gegen 50'000 Toten und über
100'000 Schwerverletzten. Über 70 Prozent sind Frauen und Kinder. Israel verhindert die medizinische Versorgung und hungert die Bevölkerung aus. Gleichzeitig diskutiert das Schweizer Parlament ein Hamas-Verbot. Weshalb kritisieren weder Bundesrat noch Parlament die Verletzung des Völkerrechts und der Uno-Resolutionen durch Israel?
Barandun: Diesen Vorwurf kann ich in dieser undifferenzierten Weise nicht unterstützen. Er blendet den Auslöser des aktuellen Konflikts und die Handlungen der Hamas völlig aus. Die Schweiz kann mit ihrem Vorsitz im Uno-Sicherheitsrat ihre Themen dort direkt einbringen und macht das auch. Das Parlament sieht natürlich auch das Leid der Zivilbevölkerung in Palästina. Der Nahostkonflikt wird in den Kommissionen differenziert behandelt.
plädoyer: Laut Artikel 260ter des Strafgesetzbuchs gelten Organisationen als terroristisch, die den Zweck haben, eine Bevölkerung mit Gewaltverbrechen einzuschüchtern oder einen Staat oder eine internationale Organisation zu einem Verhalten zu nötigen. Ist die Hamas nach dieser Definition eine terroristische Organisation?
Ajil: Nach der Rechtsprechung zum früheren Artikel 260ter StGB nicht. Er galt, bevor terroristische Organisationen in den Tatbestand aufgenommen wurden. So sagte das Bundesgericht etwa bei den Tamil Tigers in Sri Lanka, Terrorakte seien nicht ihre Hauptaktivität, sondern wurden im Rahmen ihres Befreiungskampfs begangen. Das reichte nicht für die Einstufung als terroristische Organisation. Bei der Hamas liegt der Fall ähnlich. Zentral ist der Befreiungskampf, wobei die Hamas auch sehr viele zivile Aktivitäten ausübt. Terroristische Aktivität findet am Rand statt. Offen ist aber, wie der neue Artikel 260ter StGB, der seit dem 1. Juli 2021 in Kraft ist, von den Gerichten ausgelegt wird. Es gibt noch kein Referenzurteil.
Barandun: Das Parlament will genau diese Unsicherheit beseitigen. Die Hamas terrorisiert die israelische und die eigene Bevölkerung. Aus meiner Sicht ist die Hamas mitnichten eine Befreiungsorganisation – selbst wenn man der Meinung ist, dass Israel in diesem Konflikt das Völkerrecht verletzt.
plädoyer: Im Strafrecht gilt: Keine Strafe ohne Gesetz. Strafnormen müssen deshalb eindeutig formuliert sein. Der Anti-Terror-Tatbestand im Strafgesetzbuch ist aber unscharf gefasst. Zudem darf der Bundesrat Organisationen mit gleichen Zielsetzungen wie die Hamas verbieten. Werden künftig auch andere Rebellen wie die kurdische PKK oder die Huthi im Jemen unter die Terrornorm fallen?
Barandun: Nein, so einfach ist das nicht, es besteht auch kein direkter Zusammenhang. Grundsätzlich bevorzuge ich, wenn Bundesrat und Parlament gestützt auf einen fundierten Gesetzgebungsprozess und eine breite Vernehmlassung definieren, bei welchen Organisationen es sich um Terrororganisationen handelt und man diese weitreichende Entscheidung nicht allein den Gerichten überlässt.
Ajil: Greift ein Parlament einem solchen Entscheid vor, erhält die Anwendung von Anti-Terror-Gesetzen eine politische Verzerrung. Bei der PKK kam es noch zu keinem Urteil. Die Unterscheidung, was Terror und was politischer Widerstand darstellt, ist immer auch eine politische Frage. Umso wichtiger ist deshalb eine sorgfältige rechtliche Beurteilung.
Barandun: Aus meiner Sicht ist es richtig, wenn politische Fragen durch die Politik, das heisst den Gesetzgeber, entschieden werden. Als Gesetzgeber darf und soll das Parlament das auch.
plädoyer: Artikel 74 des Nachrichtendienstgesetzes erlaubt ein Verbot einer Terrororganisation, wenn sie durch die Uno sanktioniert wird oder die Sicherheit gefährdet ist. Weshalb will die Schweiz eine Organisation verbieten, bei der diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind?
Barandun: Die Uno stuft bis heute nur den IS und die Al-Qaïda als terroristische Organisationen ein. Bei der Hamas liegen die Interessen der Mitgliedstaaten weit auseinander. Gerade weil die Schweiz die Frage anders beurteilt, konnte sie das Hamas-Verbot nicht auf Artikel 74 Nachrichtendienstgesetz stützen.
Ajil: Die Mehrheit der Staatengemeinschaft ist gegen ein Hamas-Verbot. Die Schweiz positioniert sich mit einem Verbot bei der Minderheit.
plädoyer: Was ändert sich im Nahen Osten, wenn die Schweiz die Hamas verbietet?
Barandun: Der Grund für das Hamas-Verbot ist kein aussenpolitischer, sondern vor allem ein innenpolitischer. Es geht darum, die Strafverfolgung zu erleichtern und unseren Behörden zu ermöglichen, Massnahmen zu ergreifen, um die innere Sicherheit zu schützen – und auch die des Finanzplatzes.
Ajil: Das Argument überzeugt mich nicht. Damit eine innenpolitische Angelegenheit vorläge, bräuchte es eine klare Bedrohung der Schweiz. Das ist nicht der Fall. Einzig die Situation in Nahost änderte sich. Es gab in Europa keine Anschläge wie bei IS und Al-Qaïda.
plädoyer: Der heutige Tatbestand der kriminellen Organisation stellt eine Beteiligung und Unterstützung einer kriminellen Organisation unter Strafe. Ist klar, welche Handlungen strafbar sind?
Ajil: Das Anti-Terror-Strafrecht will den terroristischen Akt verhindern. In den letzten zehn Jahren ging es jedoch im Grossteil der Fälle, die vor dem Bundesstrafgericht landeten, um Propaganda für Organisationen wie den IS oder Al-Qaïda. Leute, die sich für die syrische Zivilbevölkerung stark machten, dabei aber Bilder und Videos teilten, die auf eine verbotene Organisation hindeuteten, wurden rechtlich gesehen zu Terrorismusunterstützern.
Barandun: Bei der Frage, welche Unterstützungshandlungen genau strafbar sind, vertraue ich auf die Justiz. Befürchtungen, dass eine Pro-Palästina-Demo nicht mehr möglich sein wird, sind unberechtigt. Aber eine Hamas-Fahne dürfte man nicht mehr schwenken.
plädoyer: Gemäss der IS- und Al-Qaïda-Verbotsnorm war Propaganda klar verboten. Im Verbot von terroristischen Organisationen im Strafgesetzbuch ist nur noch die Rede von strafbarer Unterstützung. Wäre ein Like hinter einer Hamas-Propaganda auf einer Internetplattform strafbar?
Ajil: Ein Like ist nicht strafbar. Aber es ist an der Schwelle zur Strafbarkeit. Wenn ich die Rechtsprechung anschaue, sehe ich ein präventives Strafrecht, das eine Gefahr für die Rechtssicherheit mit sich bringt. Es fragt sich, ob es sinnvoll ist, wenn sich das Bundesstrafgericht in Bellinzona mit zwei, drei Bildern befassen muss, die jemand über Whatsapp verschickte. Wenn man das auf die Hamas überträgt, dann geraten Leute, die Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung äussern, rasch in den Fokus der Strafverfolger.
Barandun: Auch hier müssen die Strafbehörden entscheiden, was als Unterstützung gilt und wo die Grenzen gezogen werden. Aber man muss sich auch auf Social Media und an Demonstrationen an die Gesetze halten.
Ajil: Man kann nicht alle unerwünschten Kommentare im Internet strafrechtlich sanktionieren. Durch die Qualifizierung einer Organisation als terroristisch werden Sympathiebekundungen aus diesem Zusammenhang gezielt verfolgt. Seit den Attentaten vom 11. September 2001 in den USA liegt der Fokus auf islamistisch geprägten Bewegungen. Das führt zu einem Fokus auf unterschiedliche Ausprägungen von gelebtem und politischem Islam. Andere problematische Äusserungen werden nicht verfolgt, die etwa die Tötung von palästinensischen Zivilpersonen durch das israelische Militär rechtfertigen. Sie erhalten nicht die gleiche rechtliche Aufmerksamkeit.
plädoyer: Humanitäre Hilfe ist auch eine Form der Unterstützung. Machen sich Schweizer bei einem Hamas-Verbot strafbar, wenn sie einer Schule oder einem Spital im Gazastreifen Medikamente spenden oder Nahrungsmittel?
Barandun: Nein. Artikel 260ter StGB nimmt die humanitäre Hilfe ausdrücklich aus. Entscheidend ist, was man mit der Hilfe bezwecken will. Die Leistung von humanitärer Hilfe an Menschen in Palästina wird selbstverständlich nicht unter Strafe gestellt.
Ajil: Das stimmt so nicht. Das Gesetz erlaubt nur humanitäre Dienste, die von einer unparteiischen humanitären Organisation wie dem IKRK gemäss Genfer Übereinkommen erbracht werden. Entscheidend ist, wie das Gericht die Definition der «Unparteilichkeit» auslegen wird. Je nachdem kann es sein, dass Hilfsorganisationen, die im Gazastreifen vor Ort sind, auf dem Radar der Strafverfolger landen.
Barandun: Entscheidend ist der subjektive Tatbestand: Wer die Absicht hat, die Zivilbevölkerung zu unterstützen, unterstützt Menschen, keine terroristische Organisation. Der Gesetzgeber will humanitäre Hilfe nicht unterbinden.
plädoyer: Welche Folgen hätte ein Hamas-Verbot durch die Schweiz?
Ajil: Wenn man den Raum für gewaltfreies Engagement einschränkt, können sich gewalttätige Gruppierungen als Retter der muslimischen Sache aufspielen. Das zeigte sich bei IS und Al-Qaïda, die so geschickt für sich warben. Ein Verbot einer Gruppierung kann daher eine Radikalisierung fördern.
Nicole Barandun, 56, Rechtsanwältin in Zürich, Nationalrätin Mitte
Ahmed Ajil, 34, Kriminologe an der Universität Luzern
Bundesrat: Neues Gesetz soll die Hamas verbieten
Der Bundesrat hat dem Parlament einen Entwurf für ein «Bundesgesetz über das Verbot der Hamas sowie verwandter Organisationen» in die Vernehmlassung geschickt. Die beiden Räte werden das Gesetz im Dezember beraten.
Artikel 1 des Entwurfs hat folgenden Wortlaut:
Art. 1 Verbot
1 Folgende Organisationen und Gruppierungen sind verboten:
a. die Hamas;
b. Tarn- und Nachfolgeorganisationen der Hamas sowie Organisationen und Gruppierungen, die im Auftrag oder im Namen der Hamas handeln.
2 Der Bundesrat kann Organisationen und Gruppierungen verbieten, deren Führungspersonen, Zielsetzung oder Mittel mit denjenigen der Hamas übereinstimmen und die mittelbar oder unmittelbar terroristische oder gewalttätig-extremistische Aktivitäten unterstützen und damit die innere oder äussere Sicherheit konkret bedrohen. Er konsultiert vorgängig die für die Sicherheitspolitik zuständigen Kommissionen. Das Verbot ist zu befristen; es kann verlängert werden.
3 Die verbotenen Organisationen und Gruppierungen gelten als terroristische Organisationen nach Artikel 260ter Absatz 1 Buchstabe a Ziffer 2 des Strafgesetzbuchs.