plädoyer: Ledige müssen heute je eine eigene Steuererklärung einreichen – Verheiratete eine gemeinsame. Was rechtfertigt diese ungleiche Behandlung?
Leo Müller: Die Ehe ist eine persönliche, rechtliche und wirtschaftliche Einheit. Das Verhältnis zum Staat soll daher gemeinsam geregelt werden – auch bei der Steuererklärung. Es wäre widersprüchlich, wenn der Staat eine eheliche Gemeinschaft zulässt und regelt, aber bei den Steuern eine Trennung anordnet.
plädoyer: Laut Bundesverfassung sollen alle Bürger nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden. Widerspricht eine Besteuerung nach Zivilstand nicht diesem Grundsatz?
Andrea Gisler: Doch. Es ist nicht mehr zeitgemäss, Eheleute gemeinsam zu besteuern. Die Gesellschaft hat sich in den letzten 40 Jahren stark gewandelt. Es gibt eine Vielfalt von Lebensformen. Dieser Entwicklung muss das Steuersystem Rechnung tragen. Wenn jede natürliche Person eine Steuererklärung einreicht, werden alle gleich behandelt.
Müller: In den vergangenen Jahren hat der Gesetzgeber die Ehe gestärkt. Bei der «Ehe für alle» etwa forderte man die Möglichkeit, dass alle Paare, auch gleichgeschlechtliche, von der Ehe profitieren sollen. Man wollte solche kleinen Einheiten schützen. Sagt man jetzt im Steuerbereich nein, wir wollen diese Gemeinschaft nicht, ist das der falsche Weg.
Gisler: Dieser Vergleich überzeugt nicht. Bei der «Ehe für alle» wollte man die gleichgeschlechtlichen Paare nicht mehr diskriminieren. Auch sie sollten die Möglichkeit zur Ehe haben.
plädoyer: Oft ist von einer sogenannten Heiratsstrafe die Rede. Doch vergleicht man, was Paare vor und nach der Heirat zahlen, fällt auf: In den meisten Kantonen zahlen Steuerpflichtige nach der Heirat weniger Steuern, vor allem Paare mit tiefen und mittleren Einkommen. Sollte man statt von der Heiratsstrafe nicht eher vom Heiratsbonus sprechen?
Müller: Nein. Die Kantone und Gemeinden haben es geschafft, die Heiratsstrafe abzuschaffen, mit abgemilderten Tarifen für Eheleute. Hier ist das Problem gelöst. Doch beim Bund besteht diese Heiratsstrafe weiterhin, seit 40 Jahren. Die Bundessteuer ist sehr sozial ausgestaltet. Wir haben in den unteren Einkommensbereichen viele, die keine Bundessteuern zahlen. Leute mit höherem Einkommen zahlen wegen dem stark progressiven Tarif jedoch umso mehr. Ab den mittleren Einkommen beginnt die Heiratsstrafe zu greifen – das ist zu beseitigen.
Gisler: Es gibt Konstellationen, in denen eine Heiratsstrafe vorliegt. Aber es gibt genauso viele Ehepaare mit einem Heiratsbonus. Rund die Hälfte der Familien zahlt gar keine direkte Bundessteuer. Sie leiden unter keiner Heiratsstrafe. Das Problem beschränkt sich auf Personen mit höheren Einkommen.
Müller: Die Beurteilung ist relativ einfach. Zählt man zwei Einkommen zusammen, kommt man in eine höhere Progression. Heiratet ein Paar mit einem Einkommen von zweimal 50'000 Franken, zahlt es auf 100'000 Franken mehr Bundessteuern als separat.
Gisler: Berücksichtigt man die Steuerlast von Bund und Kantonen über alle Einkommensklassen hinweg, gleichen sich Heiratsbonus und Heiratsstrafe in etwa aus. Man darf sich aber nichts vormachen: Auch bei der Individualbesteuerung wird es immer Steuerpflichtige geben, die besser oder schlechter fahren als vorher. Eine absolute Steuergerechtigkeit ist nicht machbar. Das Ziel soll ein Steuersystem sein, das zeitgemäss ist und nicht einzelne Zivilstände bevorzugt. Es soll für viele möglichst gerecht sein.
plädoyer: Der Bundesrat hat vergangenen Dezember einen Gesetzesvorschlag zur Individualbesteuerung vorgelegt. Braucht es da die Initiative für die Individualbesteuerung überhaupt noch?
Gisler: Die Initiative legt den Grundsatz fest: Jede Person soll unabhängig vom Zivilstand besteuert werden. Die Initiative braucht es, um den Druck auf das Parlament aufrechtzuhalten.
plädoyer: Der Bundesrat schickte zwei Varianten in die Vernehmlassung. In einer ersten füllt jede Person ihre eigene Steuererklärung aus und wird für das eigene Einkommen besteuert. Eine gute Idee?
Gisler: Ja. Zentral ist, jeder Steuerpflichtige zahlt Steuern für sein eigenes Einkommen und Vermögen, unabhängig von seinem Zivilstand. Das ist einfach und fair. Auch die Heiratsstrafe ist damit vom Tisch.
Müller: Mit der Individualbesteuerung schafft man zwar die Ehesteuer ab, schafft aber ein neues Problem. Sie bestraft Einverdienerehen. Beispiel: Verdient ein Ehegatte etwa 120'000 Franken und der andere kümmert sich in der Familienphase um die Kinder, zahlt der Erwerbstätige wegen der Progression mehr Steuern mit der Individualbesteuerung, als wenn beide Partner je 60'000 Franken verdienen.
Gisler: Das stimmt. Solche Fälle würden mit der Individualbesteuerung schlechter fahren. Aber deutlich mehr Paare würden damit entlastet. Zudem bewirkt sie eine Gleichbehandlung der verschiedenen Lebensformen. Heute ist es so, dass man Paare von einem Zweitverdienst abhält, vor allem gutverdienende. Wegen der Steuerprogression und hohen Kinderbetreuungskosten lohnt es sich für den Zweitverdiener nicht – in der Regel die Frau –, erwerbstätig zu sein.
plädoyer: Ist es gerechtfertigt, Paare mit ungleicher Rollenaufteilung zu benachteiligen?
Gisler: Es geht darum, Fehlanreize zu beseitigen und Anreize für die Erwerbstätigkeit beider Partner zu setzen. Das führt zu einer gleichberechtigten Gesellschaft. Die traditionelle Familie mit dem Ernährer und der Hausfrau ist ein Auslaufmodell. Auch zur Bekämpfung des Fachkräftemangels ist es wichtig, die Frauen im Erwerbsleben zu behalten, insbesondere gut ausgebildete Frauen.
Müller: Es kann nicht Staatsaufgabe sein, die Leute über das Steuersystem zu zwingen, wie sie ihr Leben gestalten sollen.
Gisler: Ich verstehe das. Aber Arbeit muss sich lohnen. Wir sind darauf angewiesen, dass die Leute arbeiten und dass sich das für sie lohnt. Viele Frauen werden sehr gut ausgebildet und bleiben dann zu Hause oder arbeiten in einem Kleinstpensum. Die finanzielle Abhängigkeit ist riskant bei einer Scheidung und nachteilig für die eigene Altersvorsorge. Die heutige Familienbesteuerung ist frauenfeindlich.
Müller: Ja, es gibt diese Fehlanreize. Deshalb muss die Heiratsstrafe beseitigt werden, aber nicht mit einem Modell, das Einverdienerehen benachteiligt.
plädoyer: Der Bundesrat legte eine zweite Variante vor: Bei Ehepaaren mit einem Hauptverdiener soll dieser bis zu 14'500 Franken vom Einkommen abziehen dürfen. Wäre das ein guter Kompromiss?
Müller: Nein. Abzüge sind kein Mittel, um eine ungerechte Steuer auszubügeln.
Gisler: Auch ich lehne diese Variante ab, allerdings aus anderen Gründen. Die Idee der Individualbesteuerung ist, dass Frauen nicht aus dem Erwerbsleben gedrängt werden. Der hohe Steuerabzug des Bundesrats torpediert dieses Ansinnen und widerspricht der verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung von Frau und Mann.
plädoyer: Die Mitte-Partei hat eine eigene Initiative «Ja zu fairen Bundessteuern auch für Ehepaare» lanciert. Danach sollen Ehepaare weiterhin nur eine einzige Steuererklärung einreichen. Eine Benachteiligung von Ehepaaren wird jedoch ausdrücklich verboten. Welches Steuersystem will die Mitte?
Müller: Die Initiative fordert lediglich, dass steuerliche Nachteile wegen der Ehe abgeschafft werden. Sie lässt offen, wie man das umsetzt. Man könnte die Heiratsstrafe etwa abschaffen, indem man das wie in den Kantonen umsetzt – also mit tieferen Steuertarifen für Eheleute. Erlässt das Parlament innerhalb von drei Jahren nach Annahme der Initiative keine andere Umsetzung, kommt die sogenannte alternative Steuerberechnung zum Zug. Das Steueramt würde ermitteln, was die Eheleute zahlen würden, wenn sie ledig wären, und sie müssten dann nur den tieferen Betrag zahlen.
Gisler: Die Familienbesteuerung ist überholt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) empfahl der Schweiz, die Individualbesteuerung einzuführen, wie sie die meisten europäischen Staaten kennen. Das Modell der Mitte läuft auf eine Förderung des Einverdienerhaushalts heraus. Das sollte man beseitigen.
Müller: Nein. Unsere Initiative hat nichts mit einer traditionellen Rollenverteilung zu tun. Sie ist lebensformneutral. Jedes Ehepaar soll selbst entscheiden können, wie es zusammenleben will. Der Staat darf niemanden bestrafen, der sich um die Familienarbeit kümmert. Das Ehepaar darf wählen, wie es leben will.
Gisler: Solange man eine gemeinsame Besteuerung der Ehegatten hat, wird es so laufen wie bisher: Der Mann kümmert sich um die Finanzen, füllt die Steuererklärung aus und legt sie der Frau zur Unterschrift vor. Erst bei der Scheidung wird vielen Frauen bewusst, dass der überwiegende Teil des Einkommens und Vermögens beim Mann ist.
Müller: Wenn eine Frau nicht selbständig ist, kann man das nicht über die Steuererklärung regeln. Das Steuerrecht kann Frauen nicht zu mehr Interesse und Verantwortung zwingen. Es ist nicht Aufgabe des Steuerrechts, die Leute zu erziehen.
Gisler: Es würde das Bewusstsein für finanzielle Fragen schärfen, wenn alle ihre eigene Steuererklärung abgeben müssten.
plädoyer: Hätte die Initiative der Mitte auch Auswirkungen auf die Kantone?
Müller: Nein. Unsere Initiative wirkt sich nur auf die direkte Bundessteuer aus. Das Steuerharmonisierungsgesetz und damit die kantonalen Steuern verändern wir nicht. Mit einer Individualsteuer hingegen würde man etwas über das ganze System stülpen, obwohl das Problem bei den Kantonen und Gemeinden bereits gelöst ist. Alle 26 Kantone müssten das Steuersystem umgestalten.
Gisler: Wenn man das Steuersystem nur beim Bund ändert, bewirkt man nicht viel, weil die Hälfte aller Familien keine Bundessteuern zahlt. Die Mitte-Initiative hat nur die Abschaffung der Heiratsstrafe im Fokus. Die Individualbesteuerung hingegen hat noch andere Faktoren im Blick, die aus Gleichstellungssicht wichtig sind.
Müller: Diese Probleme muss man separat lösen. Wir haben die Kita-Unterstützung beschlossen, wir haben Kinderabzüge erhöht. Gleichberechtigung geht auch ohne Individualbesteuerung.
plädoyer: Die Ehe hat nicht nur Auswirkungen auf die Steuern, sondern auch etwa bei den Sozialversicherungen. Sollte man diese auch zivilstandsneutral ausgestalten?
Gisler: Selbstverständlich. Bei der AHV will eine Volksinitiative die Plafonierung der Renten von Ehegatten aufheben. Darüber kann man schon reden. Aber dann muss man bei der AHV auch alle Privilegien der Ehe aufheben. Laut Statistik werden jedes Jahr etwa 400 Millionen Franken von Ledigen zu Eheleuten verschoben. Blickt man auf die Sozialversicherungen, liegt ein Heiratsbonus vor. Auch bei den Erbschaftssteuern sollte man Konkubinat und Ehe gleich behandeln.
Müller: Es stimmt, es gibt Anpassungsbedarf. Deshalb fordert Die Mitte mit einer zweiten Initiative die Aufhebung der Rentenplafonierung für Ehegatten. Eine Individualbesteuerung braucht es für solche Änderungen aber nicht.
Gisler: Ich finde die Entwicklung zu zivilstandsneutralen Regelungen wichtig. Man sollte an familiäre Betreuungspflichten anknüpfen statt an den Trauschein. Unser ganzes Steuer- und Sozialversicherungssystem baut auf ein traditionelles Rollenverständnis aus der Nachkriegszeit auf – der Mann ist der Ernährer und die Frau Hausfrau. Es gibt Revisionsbedarf.
plädoyer: Der Bund rechnet beim Wechsel auf Individualbesteuerung mit Steuerausfällen von rund einer Milliarde Franken. Ist das verkraftbar?
Gisler: Das ist eine Schätzung aufgrund einer eher vagen Datenlage. Klar ist: Es wird Ausfälle geben. Es ist aber damit zu rechnen, dass mehr Eheleute erwerbstätig werden. Das bringt zusätzliche Einnahmen bei den Steuern und bei den Sozialwerken. Die Steuerausfälle werden mit einer gewissen Verzögerung zumindest teilweise kompensiert.
Müller: Egal wie man die Heiratsstrafe abschafft, es führt zu Steuerausfällen. Diese dürften bei beiden Varianten etwa gleich hoch sein. Die Individualbesteuerung hat jedoch einen grossen Nachteil: Jedes Ehepaar müsste neu zwei Steuererklärungen einreichen. Das ergäbe 1,7 Millionen zusätzliche Steuerdossiers. Das ist eine administrative Last.
Gisler: Konkubinatspaare werden heute problemlos getrennt besteuert. Mit einer elektronischen Verarbeitung kann man die Steuern für alle Paare effizient veranlagen.
plädoyer: Gemäss Bundesrat entstehen durch die Individualbesteuerung bis 47'000 neue Stellen, da es Anreize gibt, mehr zu arbeiten. Eine gute Sache für die Wirtschaft?
Müller: Ja, aber auch mit unserer Initiative lohnt es sich, mehr zu arbeiten. Der Effekt ist derselbe.
Gisler: Bei unserem Modell ist der Anreiz, erwerbstätig zu sein, höher.
Leo Müller, 64, Rechtsanwalt und Notar in Ruswil LU, Nationalrat (Mitte), Mitglied des Initiativkomitees «Ja zu fairen Bundessteuern auch für Ehepaare», Präsident der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats.
Andrea Gisler, 55, Rechtsanwältin in Wetzikon ZH, Kantonsrätin (GLP), Mitglied des Zürcher Unterstützungskomitees für die Individualbesteuerungsinitiative, der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und im Vorstand von Alliance F.
Zwei Volksinitiativen hängig
Ehegatten werden heute bei den Einkommens- und Vermögenssteuern gemeinsam besteuert. Das führt zu Ungleichbehandlungen gegenüber Ledigen.
Die Volksinitiative zur Einführung einer Individualbesteuerung fordert einen neuen Artikel 127 Absatz 2bis in der Bundesverfassung: «Natürliche Personen werden unabhängig von ihrem Zivilstand besteuert.» Der Bundesrat hat als Gegenentwurf zwei Gesetzesvorschläge ausgearbeitet. Beide Varianten sehen die individuelle Besteuerung bei Bund und Kantonen vor. In einer ersten Variante erfolgt die Besteuerung unabhängig vom Zivilstand. In einer zweiten lässt der Bund bei Ehepaaren mit einem Hauptverdiener zusätzliche Steuerabzüge bis 14'500 Franken zu. Dies soll die Nachteile von Ehepaaren mit einem Hauptverdiener mildern.
Die Mitte-Partei schlägt mit der Volksinitiative «Ja zu fairen Bundesteuern auch für Ehepaare» einen Artikel 128 Absatz 3bis BV vor: «Das Einkommen eines Ehepaars wird zusammengerechnet. Das Gesetz sorgt dafür, dass Ehepaare gegenüber anderen Steuerpflichtigen nicht benachteiligt werden.»