plädoyer: Völkerrechtliche Verträge unterliegen laut Bundesverfassung dem Referendum, wenn es um den Beitritt zu einer internationalen Organisation geht, wenn sie unkündbar sind oder sie wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten. Heute kann das Volk also entscheiden, ob es wichtige Staatsverträge abschliessen will. Artur Terekhov, was stört Sie am geltenden Recht?
Artur Terekhov: Nicht viel. Ich bin sehr zufrieden, dass wir ein fakultatives Staatsvertragsreferendum haben. Mit der Souveränitätsinitiative würden jedoch zwei zusätzliche Pfeiler eingeführt: Einerseits sollen laut dem neuen Artikel 54a der Bundesverfassung völkerrechtliche Verträge generell unzulässig sein, wenn sie die Schweiz verpflichten würden, in den Schutzbereich der Grundrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger einzugreifen.
Andererseits wären Staatsverträge unzulässig, gemäss denen sich die Schweiz verbindlich nach der Rechtsprechung von anderen Staaten oder von supranationalen Gremien orientieren müsste. Mit der Initiative wären insbesondere der geplante Pandemievertrag der Weltgesundheitsorganisation oder ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union unzulässig, Letzteres jedoch nur, soweit ein Schiedsgericht vorgesehen wäre.
plädoyer: Die Initiative will das Verhältnis von Völkerrecht und nationaler Souveränität klären. Erreicht sie ihr Ziel?
Goran Seferovic: Nein, im Gegenteil. Die Initiative enthält eine sehr komplexe Regelung und würde zu enormer Rechtsunsicherheit führen. Es geht ja nicht nur darum, keine neuen Staatsverträge abzuschliessen, die in unsere Grundrechte eingreifen. Sie zielt auch auf bestehende Staatsverträge. Bei einer Annahme der Initiative müssten die Bundesbehörden und die Bundesversammlung in einem ersten Schritt alle Staatsverträge danach durchforsten, ob einer dieser Staatsverträge in unsere Grundrechte eingreift. Es werden vermutlich sehr viele Staatsverträge betroffen sein.
Terekhov: Der Initiativtext enthält in Artikel 54a Absatz 4 bewusst einen grossen Ausnahmekatalog. Unter anderem sind die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), Verträge des internationalen Privatrechts, einschliesslich des Zivilverfahrensrechts, Doppelbesteuerungsabkommen oder Schengen/Dublin ausgenommen.
plädoyer: Weshalb haben Sie diese Bereiche in der Initiative ausgeschlossen?
Terekhov: Es ist unbestritten, dass das Völkerrecht und damit auch Staatsverträge aus Gründen der Rechtssicherheit nötig sind, sobald sich Lebenssachverhalte nicht nur auf ein einziges Land beschränken. Selbstverständlich wird länderübergreifend Handel getrieben, werden Familien gegründet, Reisen durchgeführt – und auch Kriminalität hört nicht an den Landesgrenzen auf. Für all dies braucht es Völkerrecht.
Seferovic: Ich zweifle an diesem Ausnahmekatalog. Ein Blick in den Initiativtext – konkret in Artikel 190 Absatz 3 – zeigt, dass auch diese Staatsverträge von allen rechtsanwendenden Behörden auf ihre Konformität mit den in der Bundesverfassung enthaltenen Grundrechten frei überprüft werden sollen. Das bedeutet: Schweizer Gerichte müssten die Europäische Menschenrechtskonvention auf die Respektierung der Grundrechte hin prüfen.
Terekhov: Das ist theoretisch richtig. Aber ich denke nicht, dass das Bundesgericht ein Urteil fällen würde, wonach die EMRK grundrechtswidrig sei. Wir haben diese Norm in den Initiativtext genommen, weil wir die Bundesverfassung als die oberste Rechtsquelle im Land betrachten. Diese Klausel wird in 99,5 Prozent aller Fälle keine praktischen Auswirkungen haben. Es geht vielmehr um seltene Ausnahmen, die im Einzelfall zu unverhältnismässigen, mithin verfassungswidrigen Resultaten führen können.
Ein Beispiel: wenn jemand offensichtlich zu Unrecht auf einer Uno-Sanktionsliste steht und das Bundesgericht wie in BGE 133 II 450 eine Rechtskontrolle nur in Bezug auf eine Verletzung zwingenden Völkerrechts vornehmen darf. Das ist ein Missstand, der künftig vermieden werden soll.
Seferovic: Sie hoffen also, dass das Bundesgericht diesen Absatz nicht allzu weit auslegen wird. Ich verstehe den Text aber so, dass die Schweizer Grundrechtspraxis der Rechtsprechung des Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) in Strassburg vorgehen muss. Wenn dieser ein Grundrecht weiter auslegt, als die Schweiz es tut, dann wäre künftig die engere Grundrechtsauslegung der Schweiz verbindlich.
Terekhov: Nein. Die Initiative sieht vor, dass völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss referendumsfähig war, für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden verbindlich sind.
Seferovic: Das ist gerade bei der EMRK nicht der Fall. Sie unterstand damals nicht dem Referendum. Damit wäre sie für die rechtsanwendenden Behörden nicht massgebend. Die Initiative schafft hier Rechtsunsicherheit.
Terekhov: Die Schweiz ratifizierte später Zusatzprotokolle zur EMRK, und diese unterstanden dem Referendum. Somit hat sich das Volk gesamthaft hinreichend dazu bekannt.
plädoyer: Gemäss Bundesverfassung darf mit einer gesetzlichen Grundlage und einem hinreichenden öffentlichen Interesse in Grundrechte eingegriffen werden. Wieso soll die Schweiz nicht auch Staatsverträge abschliessen dürfen, die solche Eingriffe zulassen?
Terekhov: Es gibt einen entscheidenden Unterschied: Ein Gesetz wird im Parlament detailliert behandelt. Die Mitglieder beider Kammern können Änderungsanträge zu jedem einzelnen Absatz stellen. Bei einem völkerrechtlichen Vertrag hingegen verhandelt der Bundesrat in Eigenregie – und am Ende kommt ein fertig ausgehandelter Staatsvertrag ins Parlament. Es kann dann nur Ja oder Nein zum Gesamtpaket sagen.
Wenn der Staat in die Grundrechte der Bürger eingreifen will, soll er das deshalb im Rahmen eines formellen Gesetzes machen und nicht im Rahmen völkerrechtlicher Verträge. Bei Letzteren werden schnell einmal faule Kompromisse eingegangen nach dem Motto: Der Vertrag greift zwar in die Grundrechte ein und schwächt unsere Souveränität, aber wir stimmen zu, weil die Vorteile überwiegen. So erodieren Freiheitsrechte der Bevölkerung.
Seferovic: Das klingt gut. Doch im Kern ist die Initiative demokratiefeindlich. Erstens, indem sie bei den betroffenen Staatsverträgen eine doppelte Hürde aufbaut. Die Stimmbevölkerung könnte über solche Verträge nur noch in zwei Schritten abstimmen: indem sie zuerst die betreffende Verfassungsbestimmung ändern müsste und zweitens weil die Auslegung der neuen Bestimmungen der Verfassung zu grosser Rechtsunsicherheit führen würden. Das sehen wir bereits in dieser Diskussion.
Sie sprechen von lediglich 0,5 Prozent aller bereits abgeschlossenen Staatsverträge, die betroffen sein werden. Doch die Behörden müssten bei jedem Vertrag prüfen, ob Grundrechte betroffen sind. Dann müsste ein grosser Teil der Staatsverträge vermutlich gekündigt werden. Es wäre klarer, man würde über die Kündigung oder den Abschluss von einzelnen Verträgen abstimmen. Ich bin der Meinung: Je mehr wir abstimmen können, desto besser.
Terekhov: Es gibt einen unverhandelbaren Kern von Freiheitsrechten, in die man nur unter engen Voraussetzungen eingreifen darf. Laut dem Zürcher Staatsrechtler Andreas Kley ist die Verfassung dazu da, dem Bundesrat Fesseln anzulegen. Genau dies möchten wir mit der Initiative erreichen. Wir wollen der Regierung und dem Parlament Fesseln anlegen, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen und Staatsverträge abschliessen, die unsere Grundrechte einschränken.
Seferovic: Ich bin einverstanden, dass man den Behörden Fesseln anlegt. Aber nicht dem Volk. Das ist hier das Problem: Man führt faktisch eine qualifizierte Hürde ein, indem man Staatsverträge, die von der Initiative erfasst werden, erst nach einer Verfassungsänderung abschliessen könnte.
plädoyer: Das Volk könnte den Artikel 54a, mit dem gewisse Staatsverträge verboten werden, später wieder aus der Verfassung streichen, wenn es zum Schluss kommt, er habe sich nicht bewährt.
Seferovic: Das wird nicht passieren. Und das beabsichtigen die Initianten auch. Ist Artikel 54a einmal da, werden keine neuen Verträge mehr verhandelt. Dann wird auch kein Staatsvertrag diskutiert, bei dem zuerst die Verfassung geändert werden müsste, um anschliessend den Staatsvertrag dem Referendum zu unterstellen. Man müsste in einer solchen Konstellation zwei Mal abstimmen.
Terekhov: Falls das Ausland einen Vertrag will, welcher der Schweizer Verfassung entgegensteht, wäre eine Teilrevision der Verfassung möglich. Es ist vernünftig, wenn man ein klares, allenfalls gar qualifiziertes Votum von Volk und Ständen fordert, bevor man in die Freiheitsrechte der Bevölkerung eingreift.
Seferovic: Und vor dem Richter haben Sie keine Angst? Man wirft dem Bundesgericht ja vor, es lege die Grundrechte immer breiter aus. Das würde dazu führen, dass der Spielraum für Vertragsabschlüsse immer kleiner wird. Die Initiative hängt die Staatsvertragskompetenz an die Praxis des Bundesgerichts zu den Grundrechten. Damit stellen Sie den Souverän unter die Knute des Bundesgerichts.
Terekhov: Der Initiativtext zielt klar auf einen traditionellen Grundrechtsbegriff ab. Die Ausweitung von Schutzpflichten oder die Drittwirkung von Grundrechten unter Privaten fällt nach Meinung des Initiativkomitees nicht darunter.
Seferovic: Das steht aber im Initiativtext so nicht drin.
Terekhov: Die Initiative muss auch historisch und teleologisch ausgelegt werden. Es wäre nie der Wille der Initianten, ein privatrechtliches Diskriminierungsverbot über rechtsfortbildende Grundrechtsauslegungen einzuführen. Ein solches Verbot wäre ein massiver Eingriff in die freiheitlichen Abwehrrechte des Einzelnen.
plädoyer: Der Bundesrat müsste laut Initiativtext Staatsverträge kündigen, wenn sie nicht mehr zulässig wären. Würde er dies unterlassen, dürften die entsprechenden Verträge nicht mehr angewendet werden. Führt das nicht zu einer völlig unübersichtlichen Situation?
Seferovic: Doch, das würde zu einem grossen Durcheinander führen. Es wäre denkbar, dass politische Behörden völkerrechtliche Verträge nicht kündigen, obwohl sie es müssten. Dann dürften die rechtsanwendenden Behörden diese Verträge nicht mehr berücksichtigen. Wir haben dann also Verträge, die weiterhin in Kraft stehen, aber die nationalen rechtsanwendenden Behörden dürfen sie nicht mehr berücksichtigen.
Terekhov: Das ist nur konsequent: Völkerrechtliche Verträge, die gegen die Initiative verstossen, dürften vom Bundesgericht und den übrigen rechtsanwendenden Behörden schlicht nicht angewendet werden. Das ist eine verbindliche Auslegungsregel, um sicherzustellen, dass sich Bundesrat oder Parlament nicht über die Verfassung hinwegsetzen. Heute darf dies das Parlament gestützt auf Artikel 190 der Bundesverfassung.
plädoyer: Laut Initiativtext wären auch Schiedsgerichte verboten. Sie sind im Völkerrecht aber ein gängiger Streitbeilegungsmechanismus. Auch die Schweiz hat sie in vielen Abkommen integriert, etwa in Freihandelsabkommen mit den Efta-Staaten, Kanada oder lateinamerikanischen Staaten. Weshalb soll die Schweiz auf Schiedsgerichte verzichten?
Terekhov: Zunächst: Auf Freihandelsabkommen findet die Initiative von vornherein keine Anwendung, da geht die Frage an der Sache vorbei. Doch grundsätzlich gilt: Jedes Schiedsgericht erodiert die nationale Souveränität. Es hat mehr Einfluss als die Bundesverfassung oder das Bundesgericht. Eine grosse Mehrheit in der Bevölkerung ist sich dessen gar nicht bewusst. Mit der Initiative kann nun darüber diskutiert werden. Ich bin zuversichtlich, dass es der Bevölkerung nicht einleuchtet, dass irgendein Schiedsgericht über unserem Bundesgericht stehen soll.
Seferovic: Die Folge dieser Überlegung für die Schweiz wäre ein Isolationismus. Staaten sind von der traditionellen völkerrechtlichen Idee her Subjekte im Verkehr mit anderen Staaten. Kein Staat würde sich einem nationalen Gericht eines anderen Staats unterwerfen. Also stellt sich die Frage, was man denn machen soll, wenn Staaten Streit untereinander haben. Dafür braucht es ein Schiedsgericht.
Terekhov: Nicht unbedingt. Das Lugano-Übereinkommen beispielsweise kommt als elementarer Vertrag des internationalen Handels- und Wirtschaftsrechts auch ohne Schiedsgerichte aus. Mit dem Beitritt zum Abkommen stimmten wir zu, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg einzig bis zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung verbindlich ist. Eine weiterentwickelte Rechtsprechung des EuGH ist nicht verbindlich, wird vom Bundesgericht aber übernommen, sofern keine triftigen Gründe dagegensprechen. All dies zeigt: Internationale Vertragsbeziehungen funktionieren bestens auch ohne Schiedsgerichte.
Seferovic: Wir reden heute nicht über privatrechtliche Streitigkeiten. Es geht um Streitigkeiten unter Staaten. Und für diese Differenzen gibt es meist kein übergeordnetes Gericht. Schiedsgerichte schaffen Rechtssicherheit. Ein Verzicht darauf hätte negative Auswirkungen auf die Wirtschaft.
Artur Terekhov, 29, ist selbständiger Jurist ausserhalb des anwaltlichen Monopolbereichs in Oberengstringen ZH und Verfasser der Souveränitätsinitiative.
Goran Seferovic, 46, ist Anwalt und Professor für öffentliches Recht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Winterthur und Privatdozent an der Uni Zürich.
Die Ziele der Souveränitätsinitiative
Die Initiative will zwei Artikel in der Bundesverfassung ändern. Ein neuer Artikel 54a BV verbietet, dass die Schweiz völkerrechtliche Verpflichtungen eingeht, die in den Schutzbereich von verfassungsmässigen Grundrechten eingreifen. Die Schweiz müsste solche Verträge kündigen oder Vorbehalte anbringen. Ausgenommen ist eine Reihe von Verträgen, zum Beispiel die EMRK, Internationales Privat- und Strafrecht sowie Freihandelsabkommen.
Die Schweiz dürfte sich künftig keiner internationalen Gerichts- und Schiedsgerichtsbarkeit unterwerfen, abgesehen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg sowie vom Internationalen Gerichtshof und vom internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Die Initiative sieht zudem vor, Artikel 190 BV anzupassen. Neu sollen für Behörden nur noch Bundesgesetze und referendumsfähige Staatsverträge massgebend sein. Behörden dürften Staatsverträge, die der Initiative entgegenstehen, nicht mehr anwenden. Zudem müssten sie Staatsverträge im Einzelfall auf ihre Konformität mit verfassungsmässigen Grundrechten überprüfen. Der Wortlaut der Initiative findet sich unter www.grundrechte-ja.ch