1. Zivilgesellschaft unter Druck
Die Menschenrechte stehen weltweit unter Beschuss. Internationale Normen und Standards werden durch repressive Gesetze beschnitten, durch behördliches und politisches Agieren verletzt und auch in Strafprozessen nicht immer gewahrt. Längst sind nicht mehr nur autoritär regierte Länder von den entsprechenden Entwicklungen betroffen. Sie berühren den zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraum. Zivilgesellschaftlich Engagierte berufen sich vielfach auf die Menschenrechte als moralische Grundlage und sind durch sie gleichzeitig in ihren Aktionsformen geschützt.
Die internationale gemeinnützige Organisation Civicus, die den Zustand der Zivilgesellschaft regelmässig analysiert, warnt vor einer wachsenden Gefährdung zivilgesellschaftlicher Freiheiten. Besonders kritisch sei der Umgang mit Demonstrationen und mit der Pressefreiheit.1 Auch darüber hinaus steigt weltweit die Zahl von Berichten, welche Beschränkungen dokumentieren. Daher müssen Grundrechtseinschränkungen immer auch im Rahmen einer zunehmenden Gängelung von zivilgesellschaftlichem Engagement und politischem Aktivismus analysiert werden. Sie zählen zum Shrinking Civic Space, also zu Einschränkungr des zivilgesellschaftlichen Handlungsspielraums.2
Wie Civicus bestätigt, sind Proteste und Demonstrationen besonders oft von Shrinking-Civic-Space-Phänomenen betroffen. Global vollzieht sich ein Trend, sie im Namen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einzuschränken.3 Demonstrantinnen und Demonstranten werden dabei als Bedrohung für die Sicherheit dargestellt, mit Anwendung rechtswidriger Gewalt und willkürlichen Verhaftungen eingeschüchtert oder durch die Nichtgewährung von Genehmigungen, Stop-and-search-Taktiken oder Überwachungsmassnahmen an der Ausübung ihrer Grundrechte gehindert.
Die einschüchternden Praktiken umfassen auch die Kriminalisierung von Demonstranten, etwa indem sie des Terrorismus oder der Aufwiegelung beschuldigt werden. Immer häufiger werden auch Notstandsbefugnisse als Vorwand genutzt, um abweichende Meinungen zu kontrollieren oder zu unterdrücken.4 Wenn Veranstalter oder Teilnehmer von Demonstrationen durch drohende Repressionen derart abgeschreckt werden, dass sie auf ihre Grundrechtsausübung verzichten, liegen eine grundrechtswidrige Abschreckung und ein Einschüchterungseffekt der entsprechenden Praktiken und Regulierungen vor.
2. Grundrechte in der Schweiz
Dank dem überdurchschnittlichen materiellen Lebensstandard, hoher Rechtssicherheit, einer bewegten Geschichte diplomatischen Engagements und grosser politischer Stabilität erscheint die Menschenrechtsbilanz der Schweiz im internationalen Vergleich sehr gut. Diverse Menschenrechtindizes bestätigen diese Einschätzung. Dennoch bestehen auch hierzulande vereinzelt Probleme beim Menschen- und Grundrechtsschutz, wie internationale 5 und nationale 6 Berichte zeigen. Es liegt daher nahe, anzunehmen, dass sich auch in der Schweiz der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft in den letzten Jahren verengt hat.
Ein gesonderter Blick gebührt diesbezüglich auch hierzulande der Wahrung des Rechts, zu demonstrieren. Demonstrationen bezeichnen Kundgebungen mit Appellwirkung, die das Ziel verfolgen, auf öffentlichem Grund untereinander oder gegen aussen Meinungen Ausdruck zu verleihen und damit den öffentlichen Diskurs mitzugestalten.7
Sie stellen in der direktdemokratischen Schweiz besonders für marginalisierte und kurzfristige Anliegen sowie für Akteure mit geringen Ressourcen ein nicht zu ersetzendes politisches Mittel dar, dessen Erhalt von «entscheidender Bedeutung für das Wohlergehen demokratischer Gesellschaften»8 ist. Die Demonstrationsfreiheit ist in der schweizerischen Verfassung nicht selbständig grundrechtlich geschützt, jedoch über die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit gesichert.9
In jüngster Zeit häuften sich die Hinweise darauf, dass diese Grundrechte und damit das Recht, zu demonstrieren, in der Schweiz unter Druck geraten sind. Unlängst rügte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Genfer Behörden (EGMR-Urteil 21881/20 vom 15.3.2022) und die Zürcher Polizei (EGMR-Urteil 20231219_77686_16 vom 19.12.2023) für deren restriktiven Umgang mit Demonstrationen. Im letzten Jahr gewann die Demonstrationsfreiheit zusätzlich an Brisanz: Am 1. Mai 2023 erblindete in Zürich ein junger Mann durch von der Polizei eingesetztes Gummischrot im Rahmen einer Demonstration.10
Mitte vergangenen Jahres forderten drei Uno-Sonderberichterstatter vom Bundesrat Aufklärung bezüglich des Umgangs mit Demonstrationen im Berner Botschaftsviertel und der damit im Zusammenhang stehenden Strafverfolgung von zwei Menschenrechtsverteidigerinnen.11 Im Oktober rügte das Uno-Menschenrechtsbüro die Schweiz dafür, durch pauschale Demonstrationsverbote Grundrechte schwer und unverhältnismässig zu beschränken.12
Die Verbote bezogen sich auf Versammlungen am Wochenende vom 21./22. Oktober 2023 in den Städten Bern, Zürich und Basel und wurden auch durch zivilgesellschaftliche und politische Akteure teilweise scharf kritisiert. Wenige Wochen später lanciert die Schweizer Sektion von Amnesty International zusammen mit renommierten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft schliesslich einen Appell für die Demonstrationsfreiheit. Die Menschenrechtsorganisation reagiert damit darauf, dass «in der Schweiz das Recht auf Protest durch restriktive Gesetze und unverhältnismässige Praktiken der Behörden untergraben»13 wird. Diese Beobachtung bezieht sich allerdings nicht nur auf das vergangene Jahr.
Vor dem Hintergrund fehlender Studien zur Demonstrationsfreiheit in der Schweiz, zu einem global angespannten Klima für zivilgesellschaftliches Handeln sowie diversen Verschärfungen relevanter Rechtsgrundlagen in den vergangenen Jahren habe ich mich im Rahmen einer Studie mit der Wahrung des Rechts, zu demonstrieren, befasst.14
Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wurde darin der Handlungsspielraum der schweizerischen Zivilgesellschaft in Bezug auf die Veranstaltung von und die Teilnahme an Demonstrationen und seine Veränderung im letzten Jahrzehnt analysiert. Konkret wurden die gültigen Rechtsgrundlagen, die Befugnisse und Praktiken von Behörden, die Rechtsprechung sowie der Diskurs rund um das Demonstrationsgeschehen in der Schweiz als zentrale Indikatoren des Shrinking Civic Space untersucht.
3. Umkämpfter öffentlicher Raum
Die Untersuchungen haben negative Entwicklungen und Verletzungen der Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit im letzten Jahrzehnt in der Schweiz zutage gefördert. Deren abschreckende Wirkung wurde sowohl durch Gerichte als auch die Lehre wiederholt bestätigt. Beschränkungen vollzogen sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig und mit regionalen Unterschieden. Letzteres ist dem Umstand geschuldet, dass die Schweiz viele für Demonstrationen relevante Bereiche, wie die Bewilligung von Versammlungen und das Polizeirecht, föderal regelt.
Daher gibt es landesweit in Bezug auf die Demonstrationsfreiheit weit über 2000 relevante Verordnungen, Gesetze und Reglemente. Hinzu kommen Unterschiede bei den politischen Mehrheiten und der Besetzung von Schlüsselpositionen in Regierungen und Polizeibehörden. Meine Analyse konzentrierte sich auf die wichtigsten Bestimmungen und Praktiken auf nationaler und kantonaler Ebene, mit Fokus auf die Grossstädte Bern, Basel, Genf und Zürich. Von den sechs am häufigsten diskutierten Shrinking-Civic-Space-Phänomenen15 in Bezug auf die Demonstrationsfreiheit fanden sich in der Schweiz Anzeichen für fünf Phänomene. Anzeichen für Shrinking Space durch Einschränkungen des Internets fanden sich dagegen nicht.
3.1 Gesetzesgrundlagen
Verschärfungen ergaben sich hauptsächlich durch Neuerungen in Polizeigesetzen sowie die Einführung des Genfer Versammlungsgesetzes LMDPu und umfassen die Ausweitung der Haftung von Veranstaltern bei Schäden und Vergehen und die Möglichkeit der Kostenüberwälzung für Polizeieinsätze auf Teilnehmer und Veranstalter. Dabei stellte das Kantonsgericht Luzern in einem Urteil zu den Luzerner Bestimmungen in Artikel 32a PolG LU fest, dass sich eine «Kostenüberwälzung häufig explizit oder implizit gegen grundrechtlich geschützte Aktionen» richtet (KG LU 7H 15 261, E. 5.1), und bestätigte die damit einhergehende Gefahr eines Chilling-Effekts.
Relevant sind ferner Neuerungen im Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (Terrorismusgesetz) und die Verschärfung des Terrorismusstrafrechts. Mit dem neuen Terrorismusgesetz wurden die Möglichkeiten präventiver Gefahrenabwehr im Zusammenhang mit sogenannten terroristischen Gefahren massiv ausgeweitet,16 was zu einer Vorverlagerung der Strafbarkeit führte. Besonders umstritten ist die unpräzise Definition terroristischer Aktivitäten (Artikel 23e Absatz 2 PTM) und die Vagheit des Begriffs des Gefährders. National wie international wurde kritisiert, dass die neuen Bestimmungen die Möglichkeit einer restriktiven, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gefährdenden Auslegung eröffneten.17
Die Verschärfungen ergänzen bereits restriktive Gesetzesgrundlagen, welche eine generelle Genehmigungspflicht, die Bestimmungen zum Straftatbestand des Landfriedensbruchs und die Zulassung von Gummischrot als weniger tödliche Waffe umfassen. Der Straftatbestand des Landfriedensbruchs (Artikel 260 StGB) wurde durch die Harmonisierung der Strafrahmen, etwa was die Mindeststrafen angeht, vergangenes Jahr verschärft. Dabei ist er aufgrund seiner Vagheit und weil seine Anwendung «keine individuelle gewalttätige Handlung» (OGE BE SK 21 397, E 12.2) voraussetzt, schon länger umstritten. Gemäss der Rechtsprofessorin Evelyne Schmid wirkt er dadurch besonders abschreckend und trifft mitunter Zufallsopfer.18
Strafrechtsprofessor Gerhard Fiolka bestätigt, der Straftatbestand sei «damit faktisch ein taugliches Instrument dafür, eine Strafbarkeit für alle in einer Gruppe Anwesenden zu begründen, wenn man nicht nachvollziehen kann, wer tatsächlich Gewaltstraftaten begangen hat».19 Die weitgehend intransparenten Regulierungen der Überwachung des öffentlichen Raumes und die unzureichende Regelung biometrischer Erkennungssysteme schaffen ein zusätzlich unsicheres Handlungsumfeld für Demonstrierende.
3.2 Bewilligungspraxis
Restriktives Verwaltungshandeln als auch erhöhte Bewilligungsauflagen und -gebühren haben die Bewilligungspraxis in den vergangenen Jahren verschärft. Die Beschränkungen manifestierten sich in Fällen von nicht erteilten Genehmigungen, etwa aufgrund verpasster Anmeldefristen, zu konfrontativ eingeschätzten Gegendemonstrationen sowie in Bezug auf bestimmte Orte, Zeiten und Personen. Eine Einzelfallprüfung erfolgt nicht immer, beispielsweise werden im Botschaftsviertel von Bern so gut wie keine Demonstrationen bewilligt.20
Zu den Restriktionen gehören ferner hohe Gebühren für die Gesuchsbearbeitungen, lange Eingabefristen, komplexe Antragsformulare sowie Bestimmungen zu Veranstalterpflichten. Letztere umfassen etwa verlangte Sauberkeits- und Verkehrskonzepte oder die Organisation und die Bezahlung eines eigenen Sicherheitsdienstes.
3.3 Versammlungsverbote
Versammlungsverbote und -auflösungen ergeben sich primär als Folgen verschärfter Bewilligungsbestimmungen und -praktiken sowie einer Priorisierung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Sie scheinen vielerorts häufiger und restriktiver angewandt zu werden. In der Schweiz fehlen allerdings Zahlen zu Versammlungsauflösungen und -verboten, weshalb es sich hierbei um eine Schätzung handelt.
Von Verboten besonders betroffen scheinen spontane Demonstrationen und Gegendemonstrationen zu sein, von Auflösungen dagegen unbewilligte Demonstrationen. Ihr Schutzanspruch wird durch Polizei, Öffentlichkeit und Gerichte mitunter nicht respektiert. Letztere werden, auch ohne dass es zu Gewalttätigkeiten kommt, zuweilen präventiv aufgelöst. Beispielsweise wurden 2023 in Basel die Demonstration zum Weltfrauentag und die 1.-Mai-Demonstration präventiv aufgelöst.21
Oft kommt es im Rahmen von Auflösungen zum Einsatz von Polizeigewalt, von Reizstoffen, Wasserwerfern und Gummischrot sowie zu Einkesselungen. In einigen Städten, darunter Basel, ist die Tendenz erkennbar, bei der Auflösung von Demonstrationen besonders restriktiv bis eskalativ vorzugehen. Den Behörden wird zudem vorgeworfen, gegen linke, emanzipatorische Demonstrationen härter vorzugehen. Auch dieser Vorwurf liess sich nicht ausreichend evaluieren, wenn sich auch Hinweise auf eine besonders feindliche Stimmung gegenüber Klimademonstrationen fanden.
Auflösungen werden meistens damit begründet, dass Gewalt erwartet oder das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung gestört wurden, Teilnehmer Vermummungs- oder Sprühmaterial mit sich führten oder schlicht, weil eine Versammlung unbewilligt stattfand. Der Trend, aufgrund von Notständen und Sicherheitsbedenken oder befürchteter Störung der öffentlichen Ordnung die Demonstrationsfreiheit (präventiv) einzuschränken, ist auch in der Schweiz erkennbar. Beispielsweise wurden die generellen Demonstrationsverbote im Rahmen des Nahostkriegs im Oktober 2023 in den Städten Basel, Bern und Zürich mit Sicherheitsbedenken gerechtfertigt.
3.4 Gewaltanwendung
In diversen Medienberichten, Gerichtsentscheiden sowie Augenzeugenberichten und Videos von Polizeieinsätzen lassen sich Hinweise auf polizeiliches Fehlverhalten und unverhältnissmässige Gewaltanwendung finden. Inwiefern es sich dabei um Einzelfälle handelt, ist aufgrund fehlender statistischer Daten, die etwa Aufschluss über den Einsatz von Gummischrot, verletzte Demonstranten und Fälle von Polizeigewalt geben könnten, nicht abzuschätzen. Da Anzeigen gegen Polizisten aufgrund der geringen Erfolgschance und einer zu erwartenden Gegenanzeige sehr selten sind, fehlen ferner behördliche Erkenntnisse aus entsprechenden Ermittlungen.
Meine Recherchen zeigen, dass unbewilligte Demonstrationen besonders häufig von einschränkenden Praktiken, wie Gummischroteinsätzen und stundenlangen Einkesselungen, betroffen waren, selbst wenn sie friedlich verliefen. Wiederholt filmte die Polizei Demonstrationen zudem präventiv ab. Überdies sind Fälle von Restriktionen im Vorfeld oder im Nachhinein, etwa durch anlasslose Kontrollen oder Wegweisungen, bekannt. Schliesslich ist festzustellen, dass die Polizei Demonstrationen fast immer in Vollmontur und mit Bewaffnung begegnet und damit eine gewisse Drohkulisse aufbaut.
3.5 Kriminalisierung und Stigmatisierung
Der öffentliche Diskurs mitsamt dem politischen Klima und der Medienberichterstattung ist in Bezug auf Demonstrationen als zum Teil restriktiv bis feindlich und stark polarisiert zu beschreiben. Stigmatisierungen scheinen speziell linke und Klimademonstrationen zu betreffen. Ihre ideellen Ziele und Protestmittel werden infrage gestellt und Teilnehmer öffentlich als Krawallmacher oder Nichtsnutze diffamiert. Die Bestrebungen nach Kriminalisierung des Demonstrationsgeschehens zeigen sich besonders stark durch Äusserungen, Vorstösse und Initiativen von SVP-Politikern.
Die generelle Bewilligungspflicht bewirkt ihrerseits eine Kriminalisierung von unbewilligten Demonstrationen. Die vielfältige Kritik an der Anmeldepflicht und die wiederholten Hinweise auf den Schutzanspruch unbewilligter Demonstrationen änderten an der nationalen Praxis bisher nichts. Demonstranten scheinen zudem häufiger mit Freiheitsbeschränkungen, grossem Ermittlungseifer und abschreckend hohen Bestrafungen konfrontiert zu sein.
In Basel wurden auffallend oft hohe Strafen gegen Demonstranten ausgesprochen, besonders gravierend war ein Urteil des Strafgerichts Basel-Stadt von 2020: Eine bis dahin nicht straffällig gewordene Frau wurde wegen Landfriedensbruchs zu acht Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, weil sie an einer Demonstration zugegen war, bei der es zu «mehrfacher Gewalt und Drohungen gegen Beamte»22 gekommen war. Sie hatte sich laut Gericht nicht rechtzeitig vom Geschehen entfernt.
4. Fazit
Ein verschärfter sicherheitspolitischer Diskurs führte dazu, dass viele der geschilderten Restriktionen durch weite Teile der Bevölkerung mitgetragen oder gar befördert wurden. Störungen der öffentlichen Ordnung werden im Zuge dessen häufiger auf Kosten geltender Grundrechte verhindert und öffentliche Interessen immer stärker mit Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit assoziiert. Diese Verschiebung zeigte sich beispielhaft 2011 in Genf, als das kantonale Versammlungsgesetz unter breiter Zustimmung der Öffentlichkeit und trotz harscher Kritik von NGOs massiv verschärft wurde. Seither gilt in Genf bei Versammlungen ein Vorrang der öffentlichen Ordnung, womit die Polizei im Falle von Störungen unverzüglich eingreifen muss.
Es braucht mehr öffentlich zugängliche Daten, interdisziplinäre wissenschaftliche Studien und eine tiefergehende Recherche, um ein vollständiges Bild in Bezug auf die Wahrung der Demonstrationsfreiheit der Schweiz zu erhalten. Meine Recherchen zeigen bisher, dass sich besonders in Schweizer Grossstädten, aber auch auf nationaler Ebene teilweise besorgniserregende Einschränkungen der Freiheit, friedlich zu demonstrieren und öffentlich seine Meinung kundzutun, ergeben. Interviews mit Aktivisten bestätigen, dass sich dies abschreckend auf die Ausübung von Grundrechten auswirkt.23
Die Teilnahme an Demonstrationen wird so zunehmend zu einer Frage von Privilegien und der Inkaufnahme von Repressionen. Besonders Menschen ohne Papiere und Ausländer müssen es sich gut überlegen, sich auf diesem Wege politisch zu engagieren. Meines Erachtens bestehen ausreichend Hinweise, um in Bezug auf die Demonstrationsfreiheit in der Schweiz von einem umkämpften zivilgesellschaftlichen Raum24 zu sprechen.
Der Handlungsraum zivilgesellschaftlicher Akteure, in Bezug auf die Freiheit Kundgebungen, Blockaden und Mahnwachen zu organisieren und sich an ihnen zu beteiligen, ist umkämpft und bedroht, jedoch weiterhin vorhanden und offen.
Es braucht ein öffentliches und ein politisches Umdenken sowie Anpassungen in Bezug auf die Praxis und die Rechtsgrundlagen, um weitere Verschlechterungen zu verhindern. Einzelne Vergehen und gewaltbereite Demonstranten dürfen nicht weiter dazu genutzt werden, um Demonstrationen ganz zu unterbinden und Gesetze zu erlassen, welche die Versammlungs- und Meinungsfreiheit gefährden. Im Gegenteil sollten eine ermöglichende, schützende Haltung bei Versammlungen und die Einhaltung internationaler Standards wieder zur Maxime der schweizerischen Praxis werden.
Fussnoten siehe angehängtes PDF.