Smart-Care heisst das jüngste Kind der Suva. Es ist erst drei Monate alt, steht für die Umstellung der grössten Schweizer Unfallversicherung auf ein neues digitales Schadenmanagement und treibt Schadenanwälte bereits zur Weissglut. Der staatliche Unfallversicherer führt seit Anfang Jahr einen neuen, automatisierten Schadenabwicklungsprozess ein.
Die Digitalisierung hat laut Rechtsvertretern von Unfallopfern erhebliche Konsequenzen. So kritisiert der Luzerner Anwalt Marco Unternährer: «Früher hatten Case Manager den klaren Leistungsauftrag, die Verunfallten persönlich zu betreuen und wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren.» Seit der Reorganisation gebe es keine persönliche Ansprechperson mehr.
Die Suva begründet die Änderungen mit der rasanten Weiterentwicklung bei der IT und der künstlichen Intelligenz. Sprecherin Natascha Obermayr sagt: «Mit der Digitalisierung des Schadenmanagements macht sich die Suva fit für die Zukunft.» Routineaufgaben bei Bagatellunfällen – zum Beispiel Schnittverletzungen oder Verstauchungen – würden neu automatisiert erledigt. Computer bearbeiten demnach Unfälle, indem sie den konkreten Fall mit Entscheiden zu anderen Unfällen vergleichen und basierend auf Wahrscheinlichkeitsgraden anerkennen oder einem Spezialisten zum Entscheid vorlegen. Ab Mitte 2022 sollen auch Taggeldabrechnungen automatisiert erfolgen. Abgelehnt würden Leistungen nur nach manueller Prüfung, betont Obermayr.
Neuerdings erlässt “Ihre Suva” Verfügungen
Mehrere Anwälte erzählen von anonymen E-Mails und Briefen der Suva, unterschrieben nur mit «Ihre Suva». Auch Verfügungen werden nicht mehr persönlich unterschrieben. Der Zürcher Rechtsanwalt Markus Steudler erhielt kürzlich eine Verfügung betreffend Integritätsentschädigung und Rente, die mit «Ihre Suva» unterzeichnet war. «Ich muss den Autor der Verfügung aber kennen, um allfällige Ausstandsgründe prüfen zu können», sagt Steudler. Die Suva verletze die Verfahrensrechte der Klienten, wenn sie die zuständigen Verantwortlichen nicht mehr namentlich nenne.
Den Draht zu den Spezialisten gekappt
Rechtsvertreter von Verunfallten stellen verschiedene negative Auswirkungen fest. Der Basler Anwalt Jan Herrmann hält fest, dass Unfallereignisse mit erheblichen gesundheitlichen Folgen durch die Case Manager der Suva bislang kompetent und speditiv bearbeitet worden seien: «Die Erreichbarkeit einer kompetenten Fachperson mit detaillierten Dossierkenntnissen war mit der direkten telefonischen Durchwahlmöglichkeit und Anschrift auf die persönliche E-Mail-Adresse gewährleistet.» Der Luzerner Rechtsanwalt Alex Beeler beschwerte sich schriftlich bei der Suva: «Telefonanrufe werden von einem Teammitarbeiter entgegengenommen, der mangels klarer Fallzuteilung nicht kompetent Auskunft geben kann.»
Rechtsanwalt Marco Unternährer fragte die Geschäftsleitung nach den Vorteilen der Restrukturierung. Suva-Generalsekretär Marc Epelbaum schrieb ihm, die Reorganisation bringe den Versicherten insofern einen Mehrwert, da sie «effizienter und kompetenter von Fachexperten beraten werden könnten». Bezüglich Kosten rechne die Suva mit einem Projektnutzen von rund 30 Millionen Franken im Jahr 2027. «Diese Einsparungen reduzieren die Verwaltungskosten der Suva und kommen in Form von tiefen Prämien unseren Versicherten direkt zugute.» Die Reorganisation des Schadenmanagements soll Ende 2026 umgesetzt sein. Bis dahin will die Suva 20 Prozent der über 800 Vollzeitstellen im Schadenmanagement einsparen – also 160 Vollzeitstellen. Gemessen an Aufwand und Ressourcen ist die Reorganisation laut Suva-Sprecherin Obermayr «das «grösste Vorhaben» in der 100-jährigen Geschichte der Anstalt.
Professor Ueli Kieser kritisiert das Vorgehen der Suva. Im Leistungsbereich komme der direkten Verbindung von geschädigter Person und Versicherung ein hoher Stellenwert zu. «Deshalb ist ja auch für komplexe Fälle das Case Management geschaffen worden. Die nun eingeleitete Entwicklung ist aus Sicht der Versicherten nicht schlüssig.» Selbstverständlich sei eine digitalisierte, unpersönliche Schadenerledigung schlanker, einfacher und günstiger. «In einer Gesamtrechnung kann das Resultat aber anders aussehen. Die namentliche Ansprache ist und bleibt wichtig.»
Frust auch bei Suva-Mitarbeitern
Das Case Management wurde 2003 eingeführt und vom damaligen Geschäftsleitungsmitglied Willi Morger als Erfolg gefeiert. Die Resultate sprachen für das neue Konzept: 2004 ging die Zahl der Neurenten um 4 Prozent zurück, 2005 um 16,2 Prozent. 521 Verunfallte, die sonst in der Invalidität gelandet wären, blieben so im Arbeitsprozess, was einer Kosteneinsparung von rund 190 Millionen Franken in zwei Jahren entsprach. Laut Morger war dies auf das neue Case Management zurückzuführen. Auf Anfrage, warum die Suva nun von diesem Weg abrücke, hat Morger «keine vernünftige Antwort». Viele Mitarbeiter innerhalb der Suva seien denn auch «frustriert». Einige würden in Frührente gehen, «weil sie das neue System nicht mittragen möchten».
Laut Suva-Sprecherin Obermayr kümmern sich weiterhin Mitarbeiter des Schadenmanagements um komplexe Aufgaben. Sie würden mit Verunfallten, Betrieben, Leistungserbringern und weiteren Partnern wie Anwälten immer dann persönlich Kontakt aufnehmen, «wenn es vom Verlauf her sinnvoll oder notwendig ist».
Für Rechtsanwalt Marco Unternährer hingegen ist klar, dass bei der Restrukturierung die Verunfallten auf der Strecke bleiben». Er beobachte seit Jahren «einen Abbau des sozialversicherungsrechtlichen Gedankens» bei der Suva. Als Beispiel dafür nennt er «die restriktive Anwendung von Rentenbeurteilungen durch den Rechtsdienst oder überhastete Wiedereingliederungsprozesse». Die Suva entwickle sich weg von einer Sozialversicherung hin zu einer privaten Versicherung. Er fasst die Reorganisation unter dem Begriff «Suva Profit-Center» zusammen. Angesichts der satten Gewinne und Reserven von rund 60 Milliarden Franken erscheine ihm dieser Begriff der Wirklichkeit am nächsten.
Die Suva schwimmt im Geld
Die Suva ist seit 1918 tätig und beschäftigt am Hauptsitz in Luzern, in den schweizweit 18 Agenturen und in den zwei Rehabilitationskliniken Bellikon und Sitten rund 4370 Angestellte. Als selbständiges Unternehmen des öffentlichen Rechts mit 4,3 Milliarden Franken Prämienvolumen versichert sie rund 130 000 Betriebe mit zwei Millionen Berufstätigen gegen Unfallfolgen. 2021 erzielte die Suva mit ihren Anlagen an der Börse eine Anlageperformance von 7,5 Prozent. Ihr Anlagevermögen stieg um 3,9 Milliarden Franken – von 55,7 auf 59,5 Milliarden Franken. Das Vermögen der Suva ist zurzeit grösser denn je.