Der Bundesrat will völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten oder bei der Umsetzung eine Verfassungsänderung erfordern, obligatorisch dem Referendum unterstellen. Der Ständerat stimmte der Vorlage zu. Sie ist aber unnötig.
1. Ausgangslage
1.1 Vorstoss der FDP
Am 25. November 2018 haben Volk und Stände die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative verworfen. Bereits nach deren Einreichung hatte die FDP «Klärungsbedarf» beim Verhältnis von Völker- und Landesrecht behauptet und vom Bundesrat einen Lösungsvorschlag verlangt. Sie zeigte auch schon die Richtung auf, die einzuschlagen ihr vorschwebte: Völkerrecht, das Verfassungsrang hat, soll dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Es stünde damit hierarchisch über Völkerrecht, das nur dem fakultativen Referendum untersteht.1
1.2 Motion von Ständerat Andrea Caroni
Damit nahm die FDP das Anliegen der am 15. Juni 2015 von Ständerat Andrea Caroni eingereichten Motion 15.3557 auf: Der Bundesrat sollte beauftragt werden, dem Parlament eine Revision der Bundesverfassung (BV) zu unterbreiten, die für völkerrechtliche Verträge mit verfassungsrechtlichem Charakter ein obligatorisches Referendum vorsieht. Caroni begründete seine Motion mit drei Argumenten: Die anvisierte Regelung würde «in einer solch wichtigen Frage Klarheit und Rechtssicherheit schaffen. Die demokratische Mitsprache würde durch ein obligatorisches Referendum für diese wichtigen Verträge gestärkt. Gleichzeitig würde dank stärkerer Legitimierung auch das für die Schweiz wichtige Völkerrecht innerstaatlich gestärkt.»2 Am 29. Februar 2017 überwies das Parlament die Motion.
1.3 Bundesrätliche Vorlage
Nach Auffassung des Bundesrats hat ein völkerrechtlicher Vertrag «verfassungsmässigen Charakter», wenn es sich um «Angelegenheiten von besonderer und grundlegender Bedeutung» handelt, um «Normen, welche Grundrechte garantieren oder wichtige Grundzüge der Behördenorganisation regeln».3 Gemäss der Botschaft sollen daher künftig «völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten oder deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert», dem obligatorischen Referendum unterstellt werden.
Es folgen drei Beispiele: Bestimmungen über (1) «den Bestand der Grundrechte, die Bürgerrechte und die politischen Rechte, (2) das Verhältnis von Bund und Kantonen und die Zuständigkeit des Bundes und (3) die Grundzüge der Organisation und des Verfahrens der Bundesbehörden».4 Am 8. September 2020 stimmte der Ständerat der Vorlage mehrheitlich zu.5 Zu erwähnen ist, dass der Bundesrat 2010 eine der Motion von Ständerat Caroni entsprechende «Klarstellung» bereits einmal vorgeschlagen hatte – als direkten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Staatsverträge vors Volk!» –, was aber vom Parlament damals abgelehnt wurde.
2. Völkerrecht und Referendum
2.1 Das geschriebene Recht
Gemäss Art. 140 Abs. 1 lit. b BV untersteht der Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit oder zu supranationalen Gemeinschaften dem obligatorischen Referendum. Dem fakultativen Referendum unterstehen gemäss Art. 141 Abs. 1 lit. d BV völkerrechtliche Verträge, die unbefristet und unkündbar sind (Ziff. 1), die den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen (Ziff. 2), sowie Verträge, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert (Ziff. 3.).
Gemäss Art. 24 Abs. 2 Parlamentsgesetz (ParlG) genehmigt die Bundesversammlung die völkerrechtlichen Verträge, soweit nicht der Bundesrat zum selbständigen Vertragsabschluss ermächtigt ist. Gemäss dessen Abs. 3 genehmigt sie völkerrechtliche Verträge, die dem Referendum unterliegen, in der Form eines Bundesbeschlusses, andernfalls in der Form eines einfachen Bundesbeschlusses. Soweit die Verfassung mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert (z.B. «wichtige rechtsetzende Bestimmungen»), kommt dem Parlament bei der Abgrenzung referendumspflichtiger von nicht referendumspflichtigen Verträgen, aber auch hinsichtlich der Frage, ob ein Vertrag dem obligatorischen und dem fakultativen Referendum unterliegt, zwangsläufig ein Interpretations- bzw. Ermessensspielraum zu.
2. Referendum “sui generis”
Die Praxis kennt überdies das sogenannte obligatorische Referendum «sui generis». Dabei wird in methodischer Hinsicht nicht nach schematischen Kriterien entschieden. Vielmehr wird der Fokus auf die den Einzelfall charakterisierenden Elemente gelegt. Es handelt sich um kasuistisches, mithin unkodifiziertes Verfassungsrecht, das auf der Bindung an Präjudizien beruht. Bekanntlich kam dieses Referendum bislang in drei Fällen zur Anwendung: Ein erstes Mal 1920 anlässlich des Beitritts der Schweiz zum Völkerbund, ein zweites Mal 1972 beim Abschluss des Freihandelsabkommens mit der EWG und ein drittes Mal, als es 1992 um die Frage des Beitritts der Schweiz zum EWR ging.6
Immer handelte es sich um die grundlegende Frage des Verhältnisses der Schweiz zum Ausland. Die Essenz dieser Präjudizien lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein völkerrechtlicher Vertrag kann dem obligatorischen Referendum unterstellt werden, wenn (1) bedeutende sachliche oder politische Gründe dafür sprechen, (2) wenn er eine grundsätzliche Änderung der schweizerischen Aussenpolitik mit sich bringt, (3) wenn er tief in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreift.7
3. Überzeugende Gründe fehlen
Es gibt durchaus rechtslogische Motive für das Vorhaben: Unterliegen völkerrechtliche Verträge, die wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert, dem fakultativen Referendum und postuliert die Motion für völkerrechtliche Verträge, die Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten oder deren Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert, das für Änderungen der Bundesverfassung vorgesehene obligatorische Referendum, scheint dieser Parallelismus in der Tat logisch zu sein. Logik ist aber nicht immer der Weisheit letzter Schluss. Weder der Motionär noch der Bundesrat geben vor, die vorgeschlagene Neuerung sei notwendig. Überzeugende Gründe dafür sind auch nicht ersichtlich. Im Folgenden wird differenziert zwischen (1) völkerrechtlichen Verträgen, die eine Änderung der Bundesverfassung erfordern, (2) Verträgen, die hinsichtlich solcher Rechte lediglich wiederholen, was bereits in der Verfassung steht und (3) Verträgen, die zwar solche Rechte begründen und insoweit den Rechtekatalog der Verfassung faktisch erweitern, diese jedoch formell nicht ändern.
3.1 Verfassungsändernde Staatsverträge
Gemäss Art. 140 Abs. 1 lit. a BV unterliegen Änderungen der Bundesverfassung dem obligatorischen Referendum. Der Abschluss bzw. die Inkraftsetzung eines völkerrechtlichen Vertrages, dessen Umsetzung eine Änderung der Bundesverfassung erfordert, bewirkt nicht eo ipso deren Änderung. Nach geltendem Recht müsste mit entsprechendem Bundesbeschluss zunächst der Staatsvertrag dem fakultativen und hernach die Revision der Bundesverfassung dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. Das wäre kaum sinnvoll. Deshalb würde wohl in einem ersten Schritt die Verfassung teilrevidiert und bei einem positiven Ausgang der Abstimmung in einem nächsten Schritt der Staatsvertrag ratifiziert. Dieses Prozedere entspricht der althergebrachten Meinung, dass die Schweiz wichtige internationale Verpflichtungen nur eingehen soll, wenn das schweizerische Recht damit bereits im Einklang steht. Den Vertrag in der Folge der bereits teilrevidierten Verfassung auch noch dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, wäre sinnlos. Insoweit erwiese sich die Verfassungsnovelle im vielleicht wichtigsten Anwendungsfall als überflüssig.
3.2 Ohne neue verfassungsmässige Rechte
Bestimmte völkerrechtliche Verträge erheischen weder eine Änderung noch eine Ergänzung der Verfassung, noch erweitern sie deren Rechtekatalog. Es sind dies Verträge, welche hinsichtlich der Grundrechte, Bürgerrechte und politischen Rechte im Wesentlichen nur wiederholen, was ohnehin schon in der Verfassung steht. Das rechtfertigt kein obligatorisches Referendum.
3.3 Mit neuen Rechten von Verfassungsrang
Theoretisch scheint folgerichtig, völkerrechtliche Verträge dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, wenn sie Bestimmungen von Verfassungsrang enthalten, die zwar keine Änderung der Verfassung erheischen, jedoch deren Rechtekatalog faktisch erweitern. Nur dürfte es in der Praxis oft alles andere als klar sein, ob es sich im konkreten Fall auch um Rechte von Verfassungsrang handelt. Materielle EMRK-Zusatzprotokolle dürften dem obligatorischen Referendum unterliegen. Wie aber verhielte es sich zum Beispiel hinsichtlich der Kinderrechtekonvention,8 für die Schweiz in Kraft seit 1997? Deren Art. 12 gibt dem Kind das Recht, seine Meinung zu allen seine Person betreffenden Fragen oder Verfahren zu äussern.9 Hat dieses Recht Verfassungsrang? Unterläge demzufolge die Konvention nach Massgabe der bundesrätlichen Vorlage dem obligatorischen Referendum? Wie stünde es mit der Europäischen Sozialcharta?10 Mit dem Zusatzprotokoll zur Biomedizinkonvention,11 dem 4. Zusatzprotokoll zur EMRK?12 Alles offene Fragen. Wie Ständerat Daniel Jositsch in den Beratungen zu bedenken gab,13 wären Diskussionen um die Interpretation der Verfassung nicht bloss rechtstechnischer Natur. Vielmehr wäre damit zu rechnen, dass im Parlament ein hochpolitischer Streit ausgetragen würde, was nun dem obligatorischen Referendum unterstehen soll und was nicht.14 Man sollte es deshalb auch bei dieser Konstellation beim fakultativen Referendum bewenden lassen.
4. Angestrebte Wirkung
4.1 Stärkung der Mitsprache
Gemäss dem Motionär dient die Verfassungsnovelle der Stärkung der demokratischen Mitsprache. Das obligatorische Referendum wird es zwar Gegnern einer Vorlage leichter machen, diese zu bekämpfen. Allein das bedeutet keine demokratische Qualifikation. Zur demokratischen Mitsprache gehört in erster Linie die politische Auseinandersetzung. Diese dürfte gerade aufgrund des bei Lancierung des fakultativen Referendums erforderlichen Aufwandes grössere Bedeutung erlangen.
4.2 Rechtssicherheit
Es ist eine Illusion zu glauben, mit der auslegungsbedürftigen Kodifizierung, wie sie die Vorlage vorsieht, würde mehr Rechtssicherheit, mehr Voraussehbarkeit gewonnen – immerhin das Hauptargument der Motion. Die beispielhafte Aufzählung in der Vorlage gaukelt Klarheit vor, verunsichert aber im Grunde genommen. Zum einen ist die Aufzählung nicht abschliessend, zum andern birgt sie erhebliche Interpretationsspielräume. Ein Beispiel: Gemäss Ziff. 2 der Vorlage haben «Bestimmungen über das Verhältnis von Bund und Kantonen und die Zuständigkeit des Bundes» Verfassungsrang. Nun gibt es einen Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Deutschland über die Strasse zwischen Lörrach und Weil am Rhein auf Schweizer Gebiet (SR 0.725.122).15 Der Vertrag sieht vor, dass die Verbindungsstrasse im Eigentum des Kantons Basel-Stadt steht, der Bund aber befugt ist, «die Bauausführung (…) in polizeilicher Hinsicht und bezüglich der Einhaltung der (…) Pläne zu überwachen.»16 Dabei handelt es sich binnenrechtlich eindeutig um eine kantonale Kompetenz und demzufolge nach dem Wortlaut um einen Anwendungsfall der Vorlage. Man mag einwenden, dieser Staatsvertrag betreffe ja nur eine Strasse und nur einen Kanton. Das ändert aber nichts am Umstand, dass der Staatsvertrag nicht mit der sich aus der Verfassung ergebenden Kompetenzordnung im Einklang steht. Eine klare Antwort ergibt sich hingegen aus der Praxis zum obligatorischen Referendum «sui generis», das (nur) zum Zug kommt, wenn sehr bedeutende sachliche oder politische Gründe dafür sprechen.
5. Überführung in kodifiziertes Recht
Der Bundesrat gibt zwar in der Botschaft vor, das obligatorische Referendum «sui generis» ins geschriebene Recht zu überführen, sieht dann aber ausdrücklich davon ab, just den Kern der bisherigen Praxis (Staatsverträge von herausragender sachlicher oder politischer Bedeutung) in die Vorlage zu übernehmen.17 Massgebend soll einzig sein, dass ein Vertrag Bestimmungen von Verfassungsrang enthält.
5.1 Paradigmawechsel
Damit wird die Fragestellung von der politischen auf die verfassungsrechtliche Ebene verschoben, was einem Paradigmawechsel gleichkommt. Unklar ist dabei, was unter «Bestimmungen von Verfassungsrang» zu verstehen ist. Die Bundesverfassung enthält nebst fundamentalen Normen wie beispielweise Art. 3 (Souveränität der Kantone) oder Art. 5 (Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns) Bestimmungen, die eigentlich in einen baurechtlichen oder steuerrechtlichen Erlass gehörten, beispielweise das Minarettverbot (Art. 72 Abs. 3 BV) oder die Verbrauchersteuer auf Bier (Art. 131 Abs. 1 lit. c BV). Es müsste sich wohl um Bestimmungen von gewissem Gewicht handeln, wie das in der nicht abschliessenden Aufzählung (Ziff. 1–3) zum Ausdruck gelangt. Das Parlament käme nicht darum herum, die Verfassungsbestimmungen zu gewichten, zu hierarchisieren. Ein ungewöhnlicher, auch in der Wissenschaft nicht üblicher Vorgang, zumal die entsprechenden Entscheidungen des Parlaments unweigerlich politisch geprägt wären.
5.2 Irrelevanz bedeutender Gründe
Die Überführung des obligatorischen Referendums «sui generis» ins geschriebene Recht unter gleichzeitigem Ausschluss seines wichtigsten Kriteriums18 hätte u.a. zur Folge, dass die Unterstellung eines Staatsvertrages von herausragender politischer Bedeutung, der keine Änderung der Bundesverfassung mit sich bringt, inskünftig unzulässig wäre. Staatsverträge wie beispielsweise der Beitritt der Schweiz zum Völkerbund oder das mit der EWG vereinbarte Freihandelsabkommen könnten nach Massgabe der bundesrätlichen Vorlage bzw. der ständerätlichen Version nicht mehr dem obligatorischen Referendum unterstellt werden.
6. Cui bono?
Besteht keine Notwendigkeit für eine Ausdehnung des obligatorischen Referendums und sind auch keine überzeugenden Gründe dafür zu sehen, fragt sich, zu wessen Vorteil sich die Verfassungsnovelle auswirken würde. In der ständerätlichen Beratung hat Paul Rechsteiner19 seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, dass sich die Ausdehnung des obligatorischen Referendums letztlich gegen die Menschenrechte richten könnte. Was ist davon zu halten?
6.1 Verbindlichkeit des Völkerrechts
In diesem Zusammenhang kommen Art. 190 BV, wonach Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht verbindlich sind, sowie die vom Bundesgericht dazu entwickelte Praxis ins Spiel: Die Bundesverfassung erklärt Bundesgesetze und Völkerrecht für «massgebend» (Art. 190 BV), beantwortet aber die Frage ihres Verhältnisses im Konfliktfall nicht. Dazu besteht eine auf das 19. Jahrhundert zurückgehende 20 und noch heute massgebende Rechtsprechung: Dem Völkerrecht kommt im Verhältnis zu Bundesgesetzen grundsätzlich (Anwendungs-)Vorrang zu.21 Hiervon wird ausnahmsweise abgewichen, wenn der Bundesgesetzgeber «bewusst» gegen das Völkerrecht verstossen wollte. Diesfalls sollen die rechtsanwendenden Behörden an das Bundesgesetz gebunden sein (sog. Schubert-Praxis).22 Das gilt aber nicht hinsichtlich staatsvertraglich gewährleisteter Menschenrechtsverträge (z.B. die EMRK und der Uno-Pakt II). Diese gehen im Konfliktfall dem Landesrecht und namentlich Bundesgesetzen vor (sog. PKK-Praxis).23
6.2 Vorrang menschenrechtlicher Staatsverträge
Gemäss diesem Grundsatz erlangen staatsvertraglich gewährleistete Menschenrechtsverträge (Anwendungs-)Vorrang: Ein verfassungswidriger und gleichzeitig völkerrechtswidriger Erlass kann als nicht anwendbar erklärt werden. Mit andern Worten: Dank eines völkerrechtlichen Vertrages kann nötigenfalls Menschenrechten zum Durchbruch verholfen werden.
An dem aus Art. 190 BV hergeleiteten Vorrang menschenrechtlicher Staatsverträge würde die angestrebte Hierarchisierung der Staatsverträge zwar nichts ändern. Doch würde die Unterstellung völkerrechtlicher Verträge nach Art der EMRK oder des Uno-Pakts II unter das obligatorische Referendum namentlich Gegnern menschenrechtlicher Verträge, welchen deren Vorrang ein Dorn im Auge ist, in die Hände spielen. Die Bekämpfung des Beitritts zu solchen Verträgen würde aufgrund des erforderlichen doppelten Mehrs erleichtert, was sich je nach der tagespolitischen Stimmungslage in der Tendenz gegen die Menschenrechte richten könnte. Das könnte eine Antwort auf die Frage «cui bono» sein, womit dem Motionär jedoch keinerlei entsprechenden Motive unterstellt seien.
7. Ein Kompromiss?
Weder ist eine Ausdehnung des obligatorischen Referendums notwendig, noch bestehen dafür überzeugende Gründe. Sollte dennoch nach dem Ständerat auch der Nationalrat Handlungsbedarf bejahen und der Auffassung des Bundesrates folgen, wonach das ungeschriebene obligatorische Referendum «sui generis» ins geschriebene Recht zu überführen sei, müssten für die Entscheidung, welche völkerrechtlichen Verträge zusätzlich Volk und Ständen zu unterbreiten sind, nicht verfassungsrechtliche, sondern staatspolitische Überlegungen zum Zuge zu kommen.
Da Entscheidungen des Parlaments ohnehin politisch geprägt sind, wäre es nicht nur sachgerecht, sondern auch redlich, es bei staatspolitischen Kriterien bewenden zu lassen, wie sie nach der geltenden Praxis zum obligatorischen Referendum «sui generis» zum Zuge kommen.
Gleichzeitig gälte es aber zu verhindern, dass tagespolitische oder gar abstimmungstaktische Überlegungen bei der jeweiligen Entscheidung eine Rolle spielen würden. Die Voraussetzungen müssten daher restriktiv gefasst werden. Vorbild könnte dabei das frühere (fakultative) Behördenreferendum gemäss Art. 89 Abs. 3 aBV sein: Danach konnte die Bundesversammlung «völkerrechtliche Verträge von grundlegender Bedeutung» dem obligatorischen Referendum unterstellen.
In die gleiche Richtung weist ein Formulierungsvorschlag des Basler Staatsrechtsprofessors Markus Schefer, wonach dem Art. 140 Abs. 1 BV eine neue lit. bbis des Inhalts beizufügen wäre: «Volk und Ständen werden zur Abstimmung unterbreitet: völkerrechtliche Verträge von ausserordentlicher Tragweite, durch Beschluss der Mehrheit der Mitglieder jedes der beiden Räte.»24 Es versteht sich von selbst, dass tief in die verfassungsrechtliche Ordnung eingreifende Verträge darunterfielen.
1 «FDP will Konflikte mit Völkerrecht verhindern», in: Tages-Anzeiger vom 9.8.2016, S. 3.
2 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/sucher-curia-vista/geschaeft?Affair ld=20153557.
3 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/sucher-curia-vista/geschaeft?Affair ld=20153557.
4 Art. 140 Abs. 1 lit. b bis E-BV (BBl 2020, S. 1255).
5 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=49761.
6 Botschaft, BBl 2020, S. 1247 ff. (www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2020/1243.pdf).
7 Botschaft, BBl 2020, S. 1255 f. (www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2020/1243.pdf , S. 1255).
8 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19983207/index.html.
9 In BGE 124 III 90 erklärte das Bundesgericht Art. 12 der Uno-Kinderrechtekonvention als direkt anwendbar. Die Konvention unterlag dem fakultativen Referendum. Dieses wurde nicht ergriffen.
10 Botschaft, BBl 1983, S. 1241 ff. (www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc.do?id=10049048).
11 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/20011534/index.html.
12 www.menschenrechtskonvention.eu/protokoll-nr-4-emrk-9266.
13 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=49761#votum3.
14 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=49761#votum3.
15 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19770081/index.html.
16 www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19770081/index.html, Art. 1 Abs. 2.
17 Botschaft, BBl 2020, a.a.O., S. 1255 f.
18 www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2020/1243.pdf, S. 1255 f.
19 www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die verhandlungen?SubjectId=49761#votum7. Siehe dazu auch «Caroni bremst den Fortschritt», in: WOZ vom 5.11.2020, S. 9.
20 BGE 7 774, E. 4, S. 783, 18 189, E. 3, S. 193.
21 BGE 139 I 16, E. 5.1 28, 135 II 243, E. 1 249, 125 II 417 E. 4d 425.
22 BGE 99 Ib 39. Die Entscheidung hatte als Ausgangslage den Sachverhalt, dass der österreichische Staatsbürger Schubert Land in der Schweiz kaufen wollte, was ihm durch die kantonalen Behörden untersagt wurde, da dieser Landkauf bewilligungspflichtig sei. Die Behörden stützten sich auf ein neueres Gesetz und Schubert auf einen älteren Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich, wonach Schweizer und Österreicher beim Erwerb von Grundstücken gleich zu behandeln sind.
23 BGE 125 II 417. Fraglich war, ob die schweizerische Zollbehörde Propagandamaterial der kurdischen Vereinigung PKK beschlagnahmen durfte. Streitig waren das völkerrechtlich garantierte Meinungsäusserungsrecht sowie Regelungen, wie mit staatsgefährlichem Propagandamaterial umzugehen ist. Zur Bestätigung dieser Praxis siehe BGer 2C_716/2014 vom 26.11.2015, E. 3.2.
24 Schefer anlässlich einer Anhörung durch die staatspolitische Kommission des Nationalrates am 21.1.2021. Ist für die Unterstellung völkerrechtlicher Verträge unter das obligatorische Referendum die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder jedes der beiden Räte erforderlich, ist Art. 159 Abs. 1 BV durch eine neue lit. abis entsprechend zu ergänzen: Der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder jedes der beider Räte bedürfen jedoch: (...) die Unterbreitung völkerrechtlicher Verträge von ausserordentlicher Tragweite zur Abstimmung durch Volk und Stände.