Diese Frage ist zu einschränkend formuliert. Sie lässt sich so nicht mit einem «Ja» oder «Nein» beantworten. Was in der Bundesverfassung (BV) verankert werden sollte, ist eine differenzierte Regelung des Verhältnisses zwischen Landesrecht und völkerrechtlichen Bestimmungen. Es gibt Situationen, in denen die Verfassung und die Bundesgesetze den völkerrechtlichen Bestimmungen vorgehen sollen. Und andere, in denen die völkerrechtlichen Bestimmungen Vorrang vor dem Landesrecht haben.
Die Verfassung enthält bisher keine solchen Regelungen. Aus Artikel 190 BV ergibt sich lediglich, dass Bundesgesetze und völkerrechtliche Bestimmungen der Verfassung vorgehen – welche der beiden im Konfliktfall Vorrang haben, ist offen. Das Bundesgericht entwickelte deshalb zu diesem Konflikt eine differenzierte Rechtsprechung: Grundsätzlich gehen die völkerrechtlichen Bestimmungen dem Landesrecht vor. Aber ausnahmsweise gehen Bundesgesetze vor. Dies dann, wenn der Gesetzgeber ganz bewusst abweichend vom völkerrechtlich Vereinbarten legiferierte (sogenannte Schubert-Praxis). Als Gegenausnahme ist eine solche abweichende Legiferierung nicht massgebend, wenn dadurch Menschenrechte verletzt würden (sogenannte PKK-Praxis).
In jüngster Zeit haben nun Urteile des Bundesgerichts zu Diskussionen in der Politik geführt. So, als das Bundesgericht die PKK-Praxis explizit auf das Verhältnis zwischen Bestimmungen der EMRK und der Bundesverfassung zur Anwendung brachte oder als es ausführte, diese PKK-Praxis gelte auch in Bezug auf das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, das heisst, selbst wenn der Gesetzgeber bewusst abweichend vom Freizügigkeitsabkommen legiferieren würde, ginge Letzteres vor.
Diese Diskussion zeigt, dass es beim Verhältnis zwischen Völkerrecht und Landesrecht um eine grundsätzliche Frage geht. Ihre Beantwortung ist abhängig von staatspolitischen Abwägungen und Gewichtungen. Sie sollte daher nicht einfach der Judikative überlassen werden. Der Verfassungsgeber sollte sich darüber äussern können, wie er dieses Verhältnis regeln will.
Kürzlich publizierte ich einen Diskussionsbeitrag für eine mögliche Regelung: Die differenzierte bundesgerichtliche Rechtsprechung soll in die Verfassung aufgenommen werden, die PKK- Praxis allerdings nur, soweit Grundrechte und Menschenrechte betroffen sind – also nicht in Bezug auf normale völkerrechtliche Verträge (etwa das Freizügigkeitsabkommen). Ergänzt werden soll diese Regelung – angelehnt an die Bundesgerichtspraxis – durch eine Bestimmung, wonach die Verfassung in praktischer Konkordanz auszulegen ist. Das heisst: Die einzelnen Verfassungsbestimmungen sind gegeneinander abzuwägen.
Hingegen soll das Speziellere nicht dem Allgemeinen oder das Neuere nicht dem Älteren vorgehen. Zudem soll sichergestellt werden, dass im Einzelfall die Normenhierarchie eingehalten wird. Dass also der Einzelne gerichtlich rügen kann, dass eine gesetzliche Regelung seine verfassungsmässigen Rechte verletzt. Das ist eine auf den konkreten Einzelfall beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit (siehe auch «Verfassung – Bundesgesetze – Völkerrecht: Besteht Bedarf auf Anpassung der Bundesverfassung?», in: Jusletter vom 7. Oktober 2019).