Nach jahrzehntelanger Vorarbeit wurde das nach neuen kriminologischen Erkenntnissen gestaltete Sanktionenrecht der Schweiz im Jahr 2007 in Kraft gesetzt. Bereits einige Monate darauf wurde es von konservativen Staatsanwälten angegriffen. Nach ihrer Auffassung sei es zu kompliziert ausgestaltet, die Verurteilten würden die Geldstrafe nicht verstehen. Weiter wirke die Geldstrafe – vor allem die bedingte – kaum rückfallhemmend. Und schliesslich müsse unter den Bedingungen dieser «Kuscheljustiz» die Kriminalität explodieren.
Wer sich über diese medienwirksamen, allerdings wissenschaftlich unhaltbaren Grundsätze ein Bild machen will, liest mit Vorteil den Bericht zur Evaluation der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, der 2012 fertiggestellt wurde (Botschaft zur StGB-Revision von 2012). Darin werden diese volkstümlichen Weisheiten und Auffassungen zu den Zusammenhängen zwischen Kriminalität, Sanktionswirkung und Rückfall umfassend dokumentiert. Sie stellten gleichzeitig den Ausgangspunkt für die neuerliche, 2012 in Angriff genommene Revision des Sanktionenrechts dar, die 2015 verabschiedet und auf den 1. Januar 2018 in Kraft gesetzt wurde.
Die am 24. Juni 2019 vom Bundesamt für Statistik veröffentlichten Ergebnisse der Urteilsstatistik geben Auskunft zur Anwendung des revidierten Sanktionenrechts im Jahr 2018. Diese interessanten Resultate zur Sanktionsaussprache wurden bisher übersehen. Im Folgenden werden sie mit Bezug zum Vorjahr respektive zur vorangegangenen 11-Jahres-Periode verglichen. Statistische Ausgangs- und Referenzzahl sind die zwischen 2007 und 2018 jährlich rund 105 000 im Strafregister eingetragenen Verurteilungen.
Die Geldstrafe ist weiterhin vorherrschend
Die am 1. Januar 2007 in Kraft gesetzte Revision des Sanktionenrechts brachte gleich im Jahr ihrer Einführung den Durchbruch der Geldstrafe, vor allem in der bedingten Sanktionsform. Sie ersetzte viele der bedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafen, die um 94 Prozent sanken, und der unbedingt verhängten, die um 54 Prozent zurückgingen.
In den Folgejahren wurden zwischen 2007 und 2017 jährlich im Durchschnitt 86 Prozent aller Sanktionen als Geldstrafen ausgesprochen, wobei der Anteil der bedingten Geldstrafen in allen Jahren bei über 80 Prozent lag. Die gemeinnützige Arbeit wurde vergleichsmässig zurückhaltend, ja immer zurückhaltender angewandt; 2007 wurden nur gerade 6 Prozent zur Leistung eines Einsatzes in gemeinnütziger Arbeit (be-, teil- oder unbedingt) verurteilt, 2017 noch 2 Prozent.
Auch im Jahr 2018 blieb die Geldstrafe dominierend. Ihre Anwendung stieg von 2017 zu 2018 sogar um 1 Prozentpunkt an. Es kann angenommen werden, dass die urteilenden Behörden, trotz Anwendbarkeit neuer Sanktionsformen, davon ausgingen, dass in 87 Prozent der Fälle Schuldausgleich, Spezialprävention oder andere Ziele der Strafanwendung mittels der Geldstrafe erreicht werden konnten, in 88 Prozent sogar mittels der bedingt zu vollziehenden. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass die bedingte Geldstrafe in gut 70 Prozent der Fälle mit einer Busse verbunden wird. Diese Kombination von bedingter Geldstrafe und Busse geht auf eine «Nachbesserung» zurück (Botschaft zu den Korrekturen am Sanktionsrecht 2005). Die Zahlen zeigen nun, dass diese neu eingeführten Kombinationsmöglichkeiten eindeutig gegen den Einsatz der teilbedingten Geldstrafe spielten, deren Häufigkeit bei 1300 Fällen im Jahre 2014 einen Höhepunkt erreichte und seither fiel, auf nur noch 200 Fälle im Jahr 2018. Es ist zu vermuten, dass das Verhängen dieser Kombination von bedingter Geldstrafe und Busse zugunsten des Einsatzes von bedingten Freiheitsstrafen geht.
Der Bagatellcharakter der in der Schweiz von den Strafvollzugsbehörden behandelten Straffälle geht aus der dem Verschulden anzupassenden Höhe der Geldstrafe hervor. 90 Prozent aller bedingten Geldstrafen werden mit Tagessätzen bis 90 Tage ausgesprochen, bei den unbedingten sind es 85 Prozent.
Meist kurze Freiheitsstrafen bis sechs Monate
Mit der Inkraftsetzung der Strafprozessordnung im Jahr 2011 wurde das vereinfachte, prozessökonomische Strafbefehlsverfahren eingeführt. Damit wurde den Staatsanwaltschaften die Aufgabe übergeben, bei sogenannten Bagatellfällen den Beschuldigten einen Strafvorschlag zukommen zu lassen, den diese annehmen oder ablehnen können. Unter Bagatellfällen versteht man Straftaten, die mit Busse, mit Geldstrafe von maximal 180 Tagessätzen oder Freiheitsstrafe nicht über 6 Monate bestraft werden. Im Jahr 2018 wurden – in massiv gestiegener Weise seit 2011 – über 91 Prozent aller Verurteilungen mit einem Strafbefehl erledigt.
Zwischen 2007 und 2017 wurden im Durchschnitt jährlich 11 Prozent Freiheitsstrafen verhängt, wobei 2 Prozent aller Sanktionen als bedingte und 9 Prozent als teilun- und unbedingte Strafen ausgesprochen wurden. Den teilbedingten Strafbefehlen kam nie eine grössere Bedeutung als durchschnittlich 0,6 Prozent aller Strafen zu.
Wie Grafik 1 zeigt, werden vor allem kurze, weniger als 6-monatige Strafen verhängt, nämlich in 74 Prozent der Fälle. Würde man hier die Obergrenze von 6 Monaten miteinbeziehen, die der nächsten Kategorie zugerechnet wird, käme man wahrscheinlich auf rund 85 Prozent kurze unbedingte Freiheitsstrafen. Weiter ist festzuhalten, dass die letzten drei aufgeführten Dauerkategorien von Strafen zwischen 2017 und 2018 allesamt rückläufig waren – mit Prozentanteilen von minus
15,25 und 33 Prozent.
Die Revision 2018 hat zu einem – für viele unerwarteten – Rückgang von 1 Prozent bei den unbedingten und teilbedingten Freiheitsstrafen geführt und ist somit gewissermassen Ausdruck der positiven Wirkung der Geldstrafen in der Zeit von 2007 bis 2017. Wären die Prognosen der konservativen Staatsanwälte wahr geworden, hätte es nach der Revision massiv mehr unbedingte Strafen geben müssen, da diese nun wieder im Strafarsenal verfügbar waren und in begründeter Form wieder angewandt werden durften. Dabei ist festzuhalten, dass weiterhin 54 Prozent aller un- und teilbedingten Freiheitsstrafen in den Kantonen der Romandie ausgesprochen werden, allen voran in Genf und der Waadt mit einem Anteil von knapp über 40 Prozent (Grafik 2). Der Kanton Waadt spricht mit einem Zehntel der schweizerischen Wohnbevölkerung rund ein Viertel aller Freiheitsstrafen aus, während der Kanton Genf mit 5 Prozent der Wohnbevölkerung 17 Prozent dieser Sanktionsformen verhängt. Zudem ordneten die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Genf allein rund 25 Prozent aller Untersuchungshaften der Schweiz an.
Es kann dabei davon ausgegangen werden, dass, wie in früheren Jahren, der grösste Anteil der in den Kantonen Waadt und Genf angewandten teil- und unbedingten Freiheitsstrafen gegen Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz ausgesprochen wurde – im Gegensatz zu vielen anderen Kantonen, in denen ebenfalls hohe Ausländeranteile auszumachen sind.
Erfreulich ist die bei steigender Wohnbevölkerung sich bestätigende Stabilität der unbedingten Freiheitsstrafen der vier Dauerkategorien von 6 Monaten und mehr, was einem Rückgang abgeurteilter schwerer Delikte gleichkommt. Ebenfalls positiv zu verzeichnen ist die Tatsache, dass die teilbedingte Freiheitsstrafe in der Dauerkategorie von 1 Jahr bis unter 3 Jahre zunehmend häufiger ausgesprochen wird als die unbedingte. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass bei einer Mehrheit von mittelschweren Straftaten aus spezialpräventiven Gründen auf den Vollzug der ganzen Dauer einer Strafe verzichtet werden kann.
Neue Freunde der kurzen bedingten Freiheitsstrafe
Die Einführung der Möglichkeit, erneut kurze bedingte Freiheitsstrafen aussprechen zu können, hat zwischen dem letzten Jahrzehnt (2007–2017) und 2018 zu einer Verdoppelung der Anwendung dieser Strafform geführt. Zählte man seit 2007 eine nahezu konstante Anzahl von jährlich 2500 bedingten Freiheitsstrafen, sind es neu ab 2018 5000. Diese Zahlen sind allerdings immer noch weit entfernt von den 43 000 bedingten Strafen des Jahres 2006. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass eine gewisse Anzahl Kantone besonders stark von dieser neuen Sanktionsform Gebrauch gemacht haben: Der Kanton Tessin (+225 Prozent), der Kanton Freiburg (+170 Prozent), die Kantone Zürich und Basel (je +150 Prozent). Bei den Kantonen Waadt und Genf liegt der Anstieg bei 125 Prozent. In Kantonen mittlerer Grösse (von Thurgau über Bern, Solothurn und Luzern) wurde diese neu zur Verfügung stehende Sanktionsform hingegen nicht häufiger eingesetzt als in den Vorjahren.
Die Rückfallrate ist seit der Revision 2007 kontinuierlich gesunken, nämlich von 28 Prozent im Jahr 2005 auf 20 Prozent im Jahr 2013, was einen Hinweis auf die Effizienz der Geldstrafe liefert. Auch die Rückfallrate der Entlassenen hat sich zwischen 2003 bis 2012 in die gleiche Richtung entwickelt, nämlich bei den Wiederverurteilungen von 48 auf 41 Prozent, bei den Wiedereinweisungen von 30 auf 15 Prozent. Dies ist ein Ausdruck davon, dass die Geldstrafe zu einem Wandel bei der Strafzumessung geführt hat und sich möglicherweise langsam zeitgenössischere Vorstellungen des Ausstiegsprozesses aus strafbarem Verhalten durchsetzen. Zum Vergleich: In den 1980er- und 1990er-Jahren führte eine Wiederverurteilung in 75 Prozent der Fälle notwendigerweise zu einer Wiedereinweisung.
Die Vertreter einer sofortigen Revision der Revision des Sanktionenrechts von 2007 verbreiteten Vorstellungen einer unpraktikablen Komplexität des Geldstrafensystems, sprachen der Geldstrafe eine mangelnde abschreckende Wirkung zu, räumten der kurzen Freiheitsstrafe eine seit Langem widerlegte höhere Präventivwirkung gegen Rückfall ein und sahen die Kriminalitätsrate infolge des neuen Sanktionensystems stark ansteigen. Alle Vorstellungen wurden durch den Praxiseinsatz des neuen Sanktionensystems widerlegt und seine Umsetzbarkeit und Wirksamkeit wurde statistisch belegt, wie die vorliegenden Zahlen zeigen. Die Rückkehr ins überholte System der Freiheitsstrafe wird somit im hohen Masse bis auf Weiteres ausgeschlossen.
Effizienz der Geldstrafe ist erwiesen
Die Geldstrafe wird heute jährlich 95 000 Mal angewandt, was deren einfache und effiziente Anwendbarkeit offensichtlich demonstriert, insbesondere in ihrer bedingten und teilbedingten Form. Die Tatsache, dass die Widerrufsrate dieser Sanktionsform stetig gefallen ist, kann nur als Beweis für deren Effizienz gedeutet werden, die zudem von den Rückfallraten bestätigt wird.
Auch auf die aus dem Strafvollzug entlassenen Personen übte die Revision 2007 eine positive Wirkung aus: Sie wurden seltener erneut mit sozial schädlichem Freiheitsentzug konfrontiert. Insgesamt fielen in der Reformzeit sowohl Rückfall- wie Kriminalitätsraten.
Es deutet alles darauf hin, dass mit der längst fälligen Revision das schweizerische Sanktionensystem nachhaltig modernisiert wurde und die Freiheitsstrafe, insbesondere die kurze, für die in der Schweiz wohnhafte Bevölkerung ausgedient hat. Allerdings ist zu vermuten, dass sie in diskriminierender Art und Weise noch einige Zeit für in der Schweiz straffällig gewordene Ausländer Anwendung finden wird – vor allem jene ohne Wohnsitz in der Schweiz.