Laut Aussenminister Ignazio Cassis erreicht die Schweiz als neutraler Staat mit Diplomatie mehr als mit Verurteilungen und Sanktionen. Folglich wäre zu erwarten, dass der Bundesrat seine Sanktionspolitik gegen Syrien mit diesen Äusserungen in Einklang bringt.
Denn die seit 2011 von der Europäischen Union beschlossenen und von der Schweiz mitgetragenen Wirtschaftssanktionen gegen Syrien haben enorme Auswirkungen auf das Land. «Die internationalen Sanktionen gegen Syrien sind so breit, dass sie ganze Wirtschaftssektoren inklusive Zahlungssystem lahmlegen und das Überleben der ganzen Bevölkerung gefährden, unabhängig von Religion, Ethnie und Geschlecht», sagt John Elbner. Er ist Geschäftsführer von Christian Solidarity International Schweiz (CSI-Schweiz) und wurde durch seinen Einsatz in Konfliktgebieten wie Syrien und Sudan international bekannt. Das machte jüngst auch der Uno-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy in einem Bericht klar. Die syrische Wirtschaft gehe in einem «alarmierenden Ausmass» zurück, hält er darin fest. Das Bruttoinlandprodukt sei seit 2011 um zwei Drittel gefallen.
Tatsächlich: Der Wert der syrischen Währung beträgt heute noch ein Zehntel des Werts von 2010. Auch die Lebensmittel haben sich laut Jazairy bereits um das Acht- bis Zehnfache verteuert. Der Krieg, der bereits über 250 000 Tote, sechs Millionen intern Vertriebene und vier Millionen Flüchtlinge verursacht hat, habe die Wirtschaft des Landes erschüttert. Jazairy: «Und die Sanktionen erschüttern sie noch mehr.» Er stellt einen «dramatischen Anstieg des Leids der syrischen Bevölkerung» fest.
Insbesondere sei die medizinische Versorgung enorm betroffen: Medikamente, Ersatzteile und Software könnten von Syrien aus nicht eingekauft werden. In der Tat liefern europäische Unternehmen in den Libanon oder in einen Golfstaat, von wo die Produkte nach Syrien transferiert werden. Damit fallen für den Endabnehmer doppelte Steuerzahlungen an. Die Wartezeit kann bis zu einem Jahr betragen, da alle offiziell aus Syrien bestellten Produkte vor der Liefergenehmigung von einem Sanktionskomitee in der EU und in den USA überprüft werden.
Für die Bevölkerung ist dies eine Katastrophe: «In allen Bereichen der syrischen Gesellschaft besteht dringendst Bedarf an Ersatzteilen, um alles – von medizinischen Geräten über Strom- und Wasserversorgung bis hin zu Traktoren, Krankenwagen, Bussen und Fabriken – funktionsfähig zu halten.» Der Schaden für die Wirtschaft habe unmittelbare Auswirkungen auf die ganze Bevölkerung. «Ich bin zutiefst besorgt über die Art und Weise, wie die Sanktionen umgesetzt werden», so Jazairy.
Sein Bericht stösst in Europa auf taube Ohren. Der Europarat hat am 28. Mai einstimmig die Wirtschaftssanktionen um ein weiteres Jahr bis Juni 2019 verlängert. Auch die USA – deren Sanktionen gegen Syrien seit 1979 in Kraft sind – reagieren nicht.
Bundesrat hält an Sanktionen fest
Doch wie verhält es sich mit der Schweiz, die sich ihrer humanitären Tradition rühmt? Auch sie bewegt sich nicht. Der Bundesrat wurde zweimal aufgefordert, seine Sanktionen gegen Syrien zu überprüfen. So reichte CVP-Nationalrätin Maja Ingold Anfang 2017 eine Interpellation ein und wies darauf hin, dass die Sanktionen als Kollektivstrafe gegen das syrische Volk wirkten, das so für die Taten seiner Regierung büsse. Damit stelle die Schweiz ihre humanitäre Tradition und Neutralität in Frage.
Mitte März 2018 verlangte SP-Nationalrat Mathias Reynard per Postulat erneut eine Überprüfung der Sanktionen. Er stellte die Frage, ob die Sanktionen wirklich die verantwortlichen Personen treffen würden und ob die Zivilbevölkerung vor den negativen Folgen geschützt sei. Die Antwort des Bundesrates: «Die Sanktionen sind Teil des aussenpolitischen Instrumentariums, das einen Beitrag zu einer politischen Lösung des Konflikts leisten soll.» Die Schweiz unternehme dazu wie die EU gezielte Anstrengungen, so das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten. Der Bundesrat meint nur ganz allgemein, «die Vermeidung negativer humanitärer Auswirkungen von Sanktionen» sei ihm ein «grosses Anliegen»: «Gezielte Sanktionen sollen möglichst direkt die verantwortlichen Personen treffen und die Zivilbevölkerung vor negativen Folgen von Sanktionsmassnahmen schützen.»
“Es muss menschlichere Wege geben”
Die Sanktionen erreichen jedoch laut Uno-Bericht dieses Ziel nicht. Die Behauptungen der Staaten, man habe die Sanktionen verhängt, «um die syrische Bevölkerung zu schützen oder eine demokratische Veränderung voranzutreiben, vertragen sich schwerlich mit dem wirtschaftlichen und humanitären Leid, das sie verursachen», schreibt Jazairy. Es sei an der Zeit, «sich zu fragen, warum die unbeabsichtigten Konsequenzen heute schwerer wiegen, als es vernünftigerweise von demokratischen Staaten akzeptiert werden kann». Was immer die politischen Ziele seien, die mit den Massnahmen einseitig verfolgt worden seien, «es muss menschlichere Wege geben, sie im vollen Einklang mit dem Völkerrecht zu erreichen».
Beim Staatssekretariat für Wirtschaft sieht man das anders. Mediensprecher Fabian Maienfisch sagt: Die Sanktionen stellten «ein gangbares Mittel für am Konflikt unbeteiligte Staaten dar, um die Einhaltung des humanitären Völkerrechts gemäss Artikel 1 des Genfer Abkommens durchzusetzen».
Jazairy betont hingegen: «Die Sanktionen verschlimmern die Situation nur. Das syrische Volk sollte doch nicht für einen internationalen Konflikt von unglaublicher Komplexität leiden müssen. Alle, die die grundlegenden Menschenrechte erfüllen wollen, brauchen unsere Hilfe, nicht unsere Bürokratie.»
Professor Marc Bossuyt, ehemaliger Präsident des Verfassungsgerichtshofs in Belgien, äusserte sich in mehreren Uno-Dokumenten wiederholt kritisch zu Wirtschaftssanktionen und ihren Auswirkungen auf die Menschenrechte. Bossuyt weist auf Anfrage darauf hin, dass zwar die gesamte Erklärung der Menschenrechte berücksichtigt werden müsste, aber einige Bestimmungen besonders wichtig seien: «Das Recht auf Leben (Artikel 3), das Recht auf Freiheit von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (Artikel 5), das Recht auf einen angemessenen Standard von Leben, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung und medizinische Versorgung (Artikel 25) sind besonders anfällig für die Verletzung unter Sanktionsregimen.»
Der Bericht von Sonderberichterstatter Idriss Jazairy zeigt genau das auf: All diese Rechte werden in Syrien durch das Sanktionsregime der EU, der Schweiz und der USA verletzt. An sie ist der Bericht adressiert. Doch die angesprochenen Staaten verschliessen Ohren und Augen. Nach einem Bericht der ESCWA, der UN-Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien, handelt es sich um die schärfsten Sanktionen, die seit 1945 jemals gegen ein Land verhängt wurden.