1. Allgemeiner Teil
1.1 Verwirkung von Rückforderungen
Die relevante Kenntnis für die Erhebung respektive die Verwirkung einer Rückforderung im Sinne von Artikel 27 Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) beginnt für eine Krankenkasse zu demjenigen Zeitpunkt, in welchem sie Kenntnis über eine vom Kantonsarzt erstellte Liste mit Ärzten ohne Berechtigung zur Abrechnung der Leistungen der obligatorischen Grundversicherung erlangt hat.
Weiter wurde in diesem Fall die Frage des guten Glaubens seitens der Arztpraxis thematisiert. Das Bundesgericht bestätigte den Gutglaubensschutz zumindest bis zur Mitteilung durch die Krankenkasse an die Praxis, dass keine Berechtigung zur Abrechnung zulasten der Grundversicherung bestehe. Die gegenteilige Ansicht der Praxis, gemäss welcher erst das kantonale Urteil den guten Glauben aufgehoben haben soll, wurde verneint.1
1.2 Beschwerdelegitimation der Sozialhilfe
Die bei der Invalidenversicherung angemeldete Versicherte erteilte den Sozialen Diensten der Gemeinde eine «Vollmacht zur Einholung von Informationen und Dokumenten». Gestützt auf diese Vollmacht beantragte der Sozialdienst die Zustellung der Verfahrensakten sowie der «laufenden Korrespondenz». Die Verfügung der Invalidenversicherung erging in der Folge ausschliesslich an die Klientin. Das Bundesgericht führte aus, dass nach Artikel 59 ATSG zur Beschwerde berechtigt ist, wer durch die angefochtene Verfügung oder den Einspracheentscheid berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung hat.
Nach der Praxis ist die Sozialhilfebehörde nicht bereits aufgrund des Umstandes, dass sie die versicherte Person unterstützt, zur Anfechtung einer leistungsablehnenden Verfügung berechtigt. Vielmehr wird eine unmittelbare oder konkrete Betroffenheit oder qualifizierte Beziehungsnähe verlangt.2 Eine solche Betroffenheit ist gegeben, wenn eine Person regelmässig Fürsorgeleistungen bezieht und die Invalidenversicherung eine ablehnende Verfügung erlässt. Gemäss Artikel 66 Absatz 1 Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV) sind zur Geltendmachung des Anspruchs auch Behörden oder Dritte, die den Versicherten regelmässig unterstützen, befugt.3
Die Vorinstanz verneint diese regelmässige Unterstützung mit dem Hinweis, dass die ausgerichtete Sozialhilfe mit Arbeitslosengeldern habe verrechnet werden können. Dies erachtete das Bundesgericht als unzutreffend. Aufgrund der Unterstützung ab 3. März 2021 bis März 2022 im Umfang von 48'771 Franken sei von einer regelmässigen Unterstützung im Sinne von Artikel 66 Absatz 1 IVV auszugehen, weshalb die Gemeinde respektive deren Sozialdienst beschwerdelegitimiert sei. Demnach wies das Bundesgericht die Angelegenheit zur Neuprüfung an die Vorinstanz zurück.
Sofern die Sozialbehörde den Anspruch auf Versicherungsleistungen für eine versicherte Person im Anmeldeverfahren geltend machen kann, steht ihr grundsätzlich die Beschwerdelegitimation zu.4
1.3 Parteientschädigung bei marginalem Obsiegen
Ein geringfügiges Obsiegen im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens genügt bereits, damit der Anspruch auf eine Parteientschädigung besteht. Wenn die Suva einen Invaliditätsgrad von 25 Prozent ermittelt, im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens ein Invaliditätsgrad von 29 Prozent geltend gemacht wird und im kantonalen Verfahren der Invaliditätsgrad schliesslich auf 28 Prozent festgelegt wird, so mag das zwar als ein «marginales Obsiegen» gewertet werden. Es ist aber trotzdem eine Parteientschädigung geschuldet.5
1.4 Unentgeltliche Rechtsvertretung
Im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsvertretung durch einen Rechtsanwalt kann nicht argumentiert werden, eine versicherte Person habe sich aus Angst vor einem Entzug der Obhut über ihre Kinder nach Einsicht in die medizinischen Unterlagen nicht an den Sozialdienst gewendet. Allein diese «Angst» stellt keinen ausreichenden Grund für die Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung durch einen Rechtsanwalt dar.6
1.5 Gutachten
Bezogen auf medizinische Gutachten war das vergangene Jahr geprägt von der Diskussion um die Gutachterstelle PMEDA AG, deren Qualität der Gutachten durch die Eidgenössische Kommission für Qualitätssicherung der medizinischen Begutachtung (EKQMB) beanstandet wurde. Die EKQMB empfahl, die Zusammenarbeit mit der PMEDA-Gutachterstelle zu beenden.7 Sie publizierte hierzu den Überprüfungsbericht vom 8. November 2023, in welchem die Qualitätsmängel der Gutachten der PMEDA AG aufgezeigt wurden.
Für laufende Gutachten wurde von den IV-Stellen eine vertiefte Prüfung vorgenommen. Neue Gutachtensaufträge wurden an die PMEDA nicht mehr vergeben. Im Urteil vom 26. Februar 2024 hat das Bundesgericht alsdann aufgrund der von der EKQMB festgestellten Qualitätsmängel an den PMEDA-Gutachten entschieden, dass diese – obwohl sie im Verfahren nach Artikel 44 ATSG veranlasst worden waren – beweisrechtlich gleich zu behandeln sind wie Berichte versicherungsinterner Ärzte. Deshalb reichen bereits geringe Zweifel an den Schlussfolgerungen aus, damit auf die Begutachtung nicht abgestellt werden kann und ein neues Gutachten notwendig wird.8
In diesem Zusammenhang besteht die erhebliche Problematik, dass im Verlauf der letzten Jahre viele invalidenversicherungsrechtliche Fälle auf der Grundlage von – wie sich nun herausgestellt hat – mit Mängeln behafteten Gutachten beurteilt wurden. In aller Regel werden die Erkenntnisse der EKQMB für ein Zurückkommen auf die früheren rechtskräftigen Entscheide nicht ausreichen. Im Rahmen allfälliger Revisionsverfahren im Sinne von Artikel 17 ATSG sollte jedoch den allfälligen Qualitätsmängeln der früheren Gutachten Rechnung getragen werden. Dies in dem Sinne, als nur geringe Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes gestellt werden (Artikel 87 IVV).
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat sich auch mit weiteren Aspekten zu Gutachten auseinandergesetzt:
So hat es festgehalten, dass allein die advokatisch anmutende Beurteilung eines versicherungsinternen Arztes nicht ausreicht, um Zweifel im Sinne von BGE 135 V 465 zu begründen.9
Nicht zwingend notwendig ist es, dass für die Beurteilung einer Borreliose-Erkrankung eine rheumatologische Untersuchung vorgenommen wird.10
Bezogen auf verwaltungsexterne Gutachter war die Frage zu beantworten, ob die Kontaktaufnahme der Clearingstelle der Militärversicherung mit einem Gutachter – mit dem Begehren um Ergänzung und Anpassung des Gutachtens, weil die Beantwortung einer Frage vergessen worden war –, ohne den vorgängigen Einbezug der versicherten Person, den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Das hat das Bundesgericht grundsätzlich bejaht. Andererseits hat das Gericht verneint, dass ein solches Vorgehen geeignet ist, eine Befangenheit des Gutachters zu begründen. Vielmehr sei das medizinische Gutachten an sich zu würdigen. Dieses sei in sich schlüssig und nachvollziehbar, weshalb darauf abgestellt werden könne.11
Gleichentags hat das Bundesgericht in Bezug auf gerichtliche Gutachten darauf hingewiesen, dass solchen erhöhte Beweiskraft beizumessen ist und nur bei erheblichen Zweifeln davon abgewichen werden kann. Nach Ansicht des Bundesgerichts war im zu beurteilenden Fall die vertrauensärztliche Kritik einer der Beschwerdegegnerinnen am Gutachten nicht von der Hand zu weisen. Es wies jedoch darauf hin, dass dem vertrauensärztlichen Bericht, selbst wenn er geeignet wäre, die Schlussfolgerung des Gerichtsgutachtens in Frage zu stellen, nur geringer Beweiswert zukommt, zumal die Beurteilung auch nicht auf den Originalakten beruhte.
Indem jedoch das kantonale Gericht es unterlassen hatte, weitere medizinische Abklärungen vorzusehen, sei der Untersuchungsgrundsatz verletzt worden. Die Angelegenheit wurde deshalb zu weiteren Abklärungen – Rückfragen beim Gutachter oder bei einer neuen Begutachtung – zurückgewiesen.12
1.6 Revisionen
Bezogen auf die Revision nach Artikel 53 Absatz 1 ATSG, welche innert einer 90-tägigen Frist nach Artikel 87 Absatz 1 VwVG (in Verbindung mit Artikel 55 Absatz 1 ATSG) vorzunehmen ist, sind die Versicherer angehalten, bei Vermutungen möglicher Revisionsgründe die entsprechenden Abklärungen voranzutreiben. Wenn aufgrund von eingeholten Strafakten die Vermutung der Möglichkeit eines höheren Invalideneinkommens entsteht, sind innert angemessener Frist weitere Abklärungen zu tätigen.
Das Zuwarten von eineinhalb Jahren bis zur Einsicht in die Steuerakten respektive der Beizug der Steuerakten erst im Rahmen der Prüfung einer geltend gemachten Verschlechterung des Versicherten entspricht nicht der Anforderung der Handlung innert angemessener Frist. Somit fällt eine Revision ausser Betracht. In solchen Konstellationen kann auch nicht auf Wiedererwägung erkannt werden, da keine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes vorliegt. Die Invalidenversicherung hat den Sachverhalt damals nach ihren Möglichkeiten zutreffend abgeklärt. Die Fehlerhaftigkeit könnte allenfalls daran liegen, dass der Beschwerdeführer falsche Angaben gemacht hat. Das stellt jedoch keine Verletzung der Pflichten der Invalidenversicherung dar, weshalb eine Wiedererwägung ausgeschlossen ist.13
2. Alters- und Hinterlassenenversicherung
2.1 Flexibler Rentenbezug
Im Recht der Alters- und Hinterlassenenversicherung wurden per 1. Januar 2024 im Rahmen der Reform AHV 21 die Möglichkeiten zum flexiblen Rentenbezug massiv ausgebaut. Neu ist im AHV-Recht nicht mehr vom Rentenalter, sondern vom Referenzalter die Rede. Die Möglichkeiten zur Flexibilisierung des Rentenbezuges wurden insoweit ausgebaut, als – sofern kein Invalidenrentenanspruch besteht – auch teilweise Vorbezüge respektive Aufschübe möglich sind. Der Vorbezug ist weiterhin in den zwei Jahren vor dem Referenzalter möglich. Er kann jedoch monatlich beantragt werden.
Gleiches gilt für den Aufschub des Bezugs der Altersrente. Dieser bleibt weiterhin für fünf Jahre aufschiebbar. Auch hier besteht jedoch die Möglichkeit von teilweisen Aufschüben. Weiterhin unverändert besteht die Beitragspflicht für Einkommen, welche nach dem Referenzalter erzielt werden. Anders als unter altem Recht kann aufgrund von Beitragszeiten sowie Einkommen nach Erreichen des Referenzalters eine Neuberechnung der Rente verlangt werden, womit das durchschnittliche Einkommen erhöht und allfällige Beitragslücken geschlossen werden können.
Im Rahmen der Revision 21 wurde auch das Rentenalter für Frauen schrittweise auf 65 Jahre erhöht. Entsprechende Ausgleichsmassnahmen (reduzierte Kürzungssätze bei Vorbezügen respektive Rentenzuschläge) wurden vorgesehen.
Im Kontext des flexiblen Bezugs der Altersrente hat das Bundesgericht die in Artikel 55ter Absatz 2 AHVV gestützt auf Artikel 39 Absatz 3 AHVG statuierte Methode zur Berechnung des Zuschlags beim Rentenaufschub als bundesrechtskonform erachtet.14
2.2 Witwer- und Witwenrenten
Das letzte Jahr war in AHV-rechtlicher Hinsicht geprägt von Nachfolgeurteilen des Urteils Beeler. Hier hat sich in verschiedenen Urteilen bestätigt, dass eine Weiterausrichtung der Witwerrente (entsprechend dem Urteil Beeler) nur in Fällen geschützt wurde, welche im Zeitpunkt des Urteils des EMRG noch hängig waren oder noch nicht in Rechtskraft erwachsen sind.
2.3 Weitere Themen
Im Übrigen war die Rechtsprechung des Bundesgerichts im Wesentlichen geprägt von Fragen betreffend die Unterstellung respektive das Beitragsrecht sowie die Haftung nach Artikel 52 AHVG. Bemerkenswert ist ein Urteil des Bundesgerichts im Zusammenhang mit der Abgrenzung zwischen Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit. Es stellte fest, dass dabei auch die Höhe der erzielten Einkommen massgeblich sein kann.15 Geltend gemacht wurde eine Erwerbstätigkeit in erheblichem Ausmass. Anhand der ausbezahlten Löhne wurde jedoch lediglich ein Pensum von weit unter 50 Prozent anerkannt.16
Sodann hat das Bundesgericht an die bisherige Rechtsprechung angeknüpft und festgehalten, dass bei Fotografen dem Merkmal des Unternehmerrisikos selten eine entscheidwesentliche Bedeutung zukomme. Und wer regelmässig für den gleichen Auftraggeber arbeite, sei in der Regel unselbständig erwerbstätig.17 Im zu beurteilenden Fall wurde die wirtschaftliche Abhängigkeit jedoch verneint, da bei der gleichen Agentur lediglich ein Honorarvolumen von 15 Prozent realisiert wurde.18
3. Arbeitslosenversicherung
3.1 Datenschutz im Beweisverfahren
Im Rahmen der Abklärungen der möglichen Ansprüche sind die Datenschutzvorgaben und auch die Persönlichkeitsrechte der involvierten Personen zu beachten. Umstritten war die Frage der Anspruchsberechtigung respektive des Fehlens der Anspruchsberechtigung wegen einer arbeitgeberähnlichen Position. Der Versicherte gab an, die GmbH an seine Mutter verkauft zu haben. Die Arbeitslosenversicherung argumentierte, die Mutter verfüge nicht über das Fachwissen, eine in der Plattenlegerei tätige GmbH zu führen, und sei auch körperlich nicht in der Lage, Plattenlegerarbeiten zu verrichten.
Sie berief sich dabei auf Angaben aus dem Dossier der Mutter des Versicherten, die von Anfang 2017 bis Februar 2020 Arbeitslosenentschädigung bezogen hatte. Die Vorinstanz entschied, die Beweismittel seien rechtswidrig erlangt worden und dürften nicht verwertet werden. Somit sei nicht erstellt, dass der Versicherte in einer arbeitgeberähnlichen Position gestanden habe.
Das Bundesgericht liess die Frage offen, ob die beigezogenen Daten dem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Es erwog, dass unabhängig von der Frage der Verwertbarkeit der genannten Daten weiterer Abklärungsbedarf bestand. Da hinreichende Anhaltspunkte für eine arbeitgeberähnliche Stellung bestanden hätten, hätte die Vorinstanz diesbezüglich weitere Abklärungen vornehmen oder anordnen sollen. Dabei sei der Untersuchungsgrundsatz verletzt worden. In diesem Zusammenhang hätten die Stellung und die Funktion der Mutter in der GmbH mittels Befragung der Mutter zu Stellung, Funktion und konkreten Angaben geklärt werden müssen. Dazu wurde die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückgewiesen.19
3.2 Arbeitsfähigkeit im Homeoffice
Quasi als «Nachwirkung» der Covid-Pandemie war die Frage zu beurteilen, ob eine während längerer Zeit im Homeoffice ausgeübte Tätigkeit die Qualifikation als Heimarbeit begründet und zur Anwendung der Sonderregelungen gemäss Artikel 14 Absatz 2 AVIV bezüglich der Vermittlungsfähigkeit führt. Das hat das Bundesgericht verneint. Im gleichen Urteil hat es festgehalten, dass die Vermittlungsfähigkeit nicht gegeben ist, wenn ein Versicherter aufgrund seiner gesundheitlichen Situation nur im Homeoffice vollständig belastungs- und arbeitsfähig und eine ausserhäusliche Tätigkeit objektiv nicht möglich ist.
Dies selbst wenn er später eine ausserhäusliche Tätigkeit aufgenommen hat.20 Dieses Urteil steht in einem gewissen Widerspruch zur Praxis der Invalidenversicherung, dass bei der Bemessung des Invalideneinkommens unter Umständen eben auch Homeofficetätigkeiten zu berücksichtigen sind. Die Umstände werden deshalb in solchen Konstellationen sehr genau zu prüfen sein.
Bestätigt hat das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Anrechnung der Arbeitsunfähigkeit als Beitragszeit respektive bei Bezug von Nachleistungen der Krankentaggeldversicherung.21
Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Beschwerdeführer die Beitragszeit nach Artikel 8 Absatz 1 litera e AVIG in Verbindung mit Artikel 13 Absatz 1 und 2 litera c AVIG erfüllt hatte. Er machte eine echte Lücke im Gesetz geltend, da die Regelung im AVIG den Bezug von Krankentaggeldern nicht berücksichtige. Das Bundesgericht verwies auf die konstante Praxis, dass die Beitragszeit gemäss Artikel 13 Absatz 2 AVIG erfüllt sein kann mit Zeiten, in denen die versicherte Person zwar in einem Arbeitsverhältnis steht, aber wegen Krankheit oder Unfall keinen Lohn erhält und keine Beiträge entrichtet (Artikel 13 Absatz 1 litera c AVIG).
Sodann wies das Bundesgericht darauf hin, dass die Befreiungstatbestände von Artikel 14 Absatz 1 AVIG im Verhältnis zur Beitragszeit nur subsidiär zur Anwendung kommen. Das Bundesgericht stellt fest, dass bei dieser Regelung Personen, denen das Arbeitsverhältnis erst nach Ausschöpfung des Krankentaggelds gekündigt wird, arbeitsversicherungsrechtlich bessergestellt werden als solche, bei denen das Arbeitsverhältnis schon früher aufgelöst wird. Es führt jedoch aus, dass keine Gründe ersichtlich sind, dass der Gesetzgeber dies nicht so gewollt hätte – mit dem Hinweis darauf, dass jede andere Lösung Personen schlechterstellen würde, die keine Krankentaggeldversicherung haben.
3.3 Kurzarbeit
Ein Urteil, das beim Autor ungläubiges Kopfschütteln auslöst, betrifft den Entscheid über den Kurzarbeitsentschädigungsanspruch für Verkäufer eines Strassenmagazins. Beschäftigt werden sie durch einen Verein. Das Verhältnis wurde als Arbeitsverhältnis qualifiziert. Das Einkommen hängt nicht von der geleisteten Stundenanzahl ab, sondern von der Anzahl der verkauften Hefte. Die Vorinstanz schloss – gemäss Bundesgericht ohne Willkür –, dass die Angestellten bis zu einem gewissen Grad ihr Einkommen selbst beeinflussen können und sie auch keine Kündigung zu befürchten haben.22
Weiter wurde ausgeführt, dass dieses Arbeitsverhältnis nicht dem Modell der Arbeitszeit auf Abruf entspreche, da bei der Arbeit auf Abruf die Arbeitsleistung nach dem Bedarf des Arbeitgebers erfolgt, unabhängig davon, ob die Person im Stundenlohn oder im Fixum für die geleistete Arbeit entschädigt wird. Weil die Strassenverkäufer keine Arbeitszeit zu leisten hätten und keine für die Bestimmung der Kontrollierbarkeit des Arbeitsausfalls notwendige betriebliche Arbeitszeit erfasst werde, sei der Arbeitsausfall nicht bestimmbar oder ausreichend kontrollierbar.
Daher bestehe nach Artikel 31 Absatz 1 litera a AVIG keine Berechtigung, Kurzarbeitsentschädigung zu erhalten. Eine Abweichung von diesen gesetzlichen Vorgaben sei auch in den Sonderregelungen aufgrund der Pandemie (Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung) nicht ersichtlich oder gewollt.23 Das Bundesgericht setzte sich alsdann damit auseinander, ob in analoger Anwendung von Artikel 8 f Absatz 1 Covid-19-Verordnung oder aufgrund einer echten Gesetzeslücke ein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung begründet werden konnte. Das wurde verneint, da der Bundesrat und das Parlament bewusst keine Ausdehnung der Anspruchsberechtigung vorgenommen hätten.
4. Invalidenversicherung
4.1 Umstrittene Tabellenlöhne
Die vergangenen zwei Jahre waren im Invalidenversicherungsrecht stark geprägt von Diskussionen über die Anwendbarkeit von Tabellenlöhnen respektive die Ermittlung des Invalideneinkommens anhand von Tabellenlöhnen. Massgeblich geprägt haben diese Diskussionen einerseits die Studie des Weissenstein-Symposiums und die Arbeitsgruppe Riemer-Kafka.
Beide sind zum Schluss gekommen, dass die Bemessung des Invalideneinkommens anhand der Tabellenlöhne unrealistisch hohe Lohnwerte ergibt. Die Invalidenversicherung hat per 1. Januar 2022 mit der Neuformulierung der IVV die Rechtsprechung des leidensbedingten Abzugs vom Tabellenlohn für das Invalidenversicherungsrecht ausgeklammert. Das Bundesgericht hat sich bis anhin dazu noch nicht geäussert. Zwischenzeitlich wurde von Seiten der Invalidenversicherung die ursprünglich getroffene Regelung nachgebessert.
Per 1. Januar 2024 ist in Artikel 26bis Absatz 2 IVV vorgesehen, dass bei der Ermittlung des Invalideneinkommens anhand der Tabellenlöhne pauschal ein Abzug von 10 Prozent vorgenommen wird. Beträgt die Leistungsfähigkeit weniger als 50 Prozent, so werden pauschal 20 Prozent abgezogen. Diese Abzüge kommen nicht nur bei neu zugesprochenen Renten zur Anwendung, sondern auch laufende Renten sind innerhalb von drei Jahren von Amtes wegen zu revidieren. Keine Revision ist vorzunehmen bei versicherten Personen, die am 1. Januar 2024 bereits 55-jährig sind.
Die Pauschalisierung der Abzüge vom Tabellenlohn sowie der Ausschluss des leidensbedingten Abzuges wurden in der Lehre bezüglich der Vereinbarkeit mit dem IVG (Artikel 28 IVG) und dem ATSG in Frage gestellt.24 Es bestehen kantonale Gerichtsurteile, in welchen die Gesetzeskonformität dieser Regelung verneint wurde. Eine Klärung des Bundesgerichts ist für die nächsten Monate zu erwarten.
Das Bundesgericht hat sich verschiedentlich mit Urteilen zu den Vergleichseinkommen befasst. Es hat bestätigt, dass Überstunden beim Valideneinkommen zu berücksichtigen sind, sofern davon ausgegangen werden kann, dass die Überstunden ohne gesundheitliche Beeinträchtigung weiterhin erbracht würden.25
Bezogen auf das Invalideneinkommen ist ein Urteil vom 21. Dezember 2023 besonders hervorzuheben. Es befasst sich mit der Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit infolge vollständig fehlender Integration sowie massiver krankheitsbedingter Divergenz zwischen den Tätigkeiten, welche die versicherte Person als ihrem intellektuellen Niveau als angepasst empfindet, sowie der objektiven Betrachtungsweise der Zumutbarkeit von Hilfstätigkeiten.26 An diesem Urteil ist insbesondere beachtlich, dass im Endeffekt die krankheitsbedingte subjektive Überzeugung, keine Hilfstätigkeiten mehr verrichten zu können, zur Annahme der objektiven Unverwertbarkeit geführt hat.
Ebenfalls als unverwertbar erachtete das Bundesgericht die Restarbeitsfähigkeit eines 63-jährigen Restaurateurs von Möbelstücken, der eine Handverletzung erlitten hatte. Zugemutet werden sollten ihm Computerarbeiten sowie Überwachung. Eine konkretere Beschreibung der Verweistätigkeit erfolgte nicht. Aufgrund des Umstands, dass an die Bezeichnung der entsprechenden Arbeitsgelegenheiten umso höhere Anforderungen gestellt werden, je enger das umschriebene Anforderungsprofil ist und je näher das Ende der Aktivitätsdauer liegt, sowie des Umstands, dass auch beim Bedienen einer PC-Tastatur aufgrund der Handverletzung Einschränkungen bestehen, wurde die Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit verneint.27
Im Rahmen der Beurteilung des Invalideneinkommens eines selbständigen Zahnarztes nach Rotatorenmanschettenruptur stellten die Invalidenversicherung und die Vorinstanz zur Ermittlung des Invalideneinkommens auf die Tabelle TA11 des Bundesamts für Statistik ab. Der Versicherte machte geltend, es sei die Tabelle TA1_Tirage_skill_level anzuwenden, da er seine Restarbeitsfähigkeit im Rahmen von Medizinalberufen vielfältig verwerten könne, wozu TA11 nicht repräsentativ sei.
Zudem sei Kompetenzniveau 3 anzunehmen, da der Zahnarzt seinen wirtschaftlichen Erfolg nicht mit unternehmerischem Denken, sondern mit seiner Arbeitsleistung als Zahnarzt erzielt habe.28 Das Bundesgericht stimmte dem Beschwerdeführer teilweise zu. Es erwog, dass die TA11 weniger aussagekräftig erscheine, da sie schwergewichtig die berufliche Stellung und die Ausbildung berücksichtige.29 Hingegen erachtete es den Einwand nicht als stichhaltig, dass nur der private Sektor und das Kompetenzniveau 3 anzuwenden seien, da der Beschwerdeführer seine langjährige Erfahrung im Rahmen von Medizinalberufen im Bereich der Versicherungsmedizin unmittelbar verwerten könne.
4.2 Einschränkungen im Aufgabenbereich
Neben der Bemessung des Invaliditätsgrades aufgrund des Einkommensvergleichs geben auch die Einschränkungen im Aufgabenbereich immer wieder Anlass zu gerichtlichen Beurteilungen. Im Rahmen der Abklärung des Rentenanspruches bei einer Teilerwerbstätigen wurde sowohl ein medizinisches Gutachten als auch ein Abklärungsbericht vor Ort vorgenommen. Ersteres wies eine Haushaltsunfähigkeit von 30 Prozent aus. Im Abklärungsbericht wurde eine Einschränkung – unter Berücksichtigung der Schadenminderungspflicht – von 70 Prozent angenommen. Dies jedoch mit dem Hinweis, dass eine Beschlussfassung zurzeit nicht möglich sei, da weitere medizinische Abklärungen angezeigt seien.
Ärztliche Beurteilungen bilden notwendige Grundlagen für den Betätigungsvergleich und sind von Abklärungspersonen zu berücksichtigen. Auf einen Abklärungsbericht kann lediglich in besonderen Fällen direkt abgestellt werden, etwa wenn versicherte Personen unglaubwürdige Angaben machen, die im Widerspruch zu ärztlichen Befunden stehen. Diesfalls ist ein Arzt beizuziehen, welcher sich zu den einzelnen Positionen der Haushaltsführung unter dem Gesichtswinkel der Zumutbarkeit zu äussern hat.30
Stimmen jedoch Ergebnisse der Abklärung vor Ort bei psychischen Gesundheitsschäden nicht mit den ärztlichen Feststellungen überein, so haben Letztere in der Regel mehr Gewicht. Vorliegend hat das Bundesgericht ohne vertiefte Begründung der finalen gesamthaften Beurteilung des Gesundheitszustands und der Arbeitsunfähigkeit aufgrund der interdisziplinären Konsensdiskussion des Gutachtens zugestimmt, da dieser «grosses Gewicht» zukomm».
4.3 Hilflosenentschädigung
Bezogen auf die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung hat das Bundesgericht am 6. Dezember 2023 ein Urteil gefällt, das Unverständnis auslöst.31 Unter Hinweis auf BGE 106 V 153 verneinte das Bundesgericht den Anspruch auf Hilflosenentschädigung im Falle eines Tetraplegikers bezogen auf die Verrichtung der Notdurft. Es hat ausgeführt, dass die vom Versicherten notwendig praktizierte Verrichtung der Notdurft durchaus als mit erheblichem Aufwand verbunden und unüblich sei.
Er habe jedoch nicht dargelegt, inwieweit es ihm durch die Hilfe Dritter möglich wäre, seine Notdurft in einer weniger aufwendigen oder belastenden Weise zu verrichten, weshalb die Notwendigkeit der dauernden Dritthilfe verneint wurde. Die eingangs erwähnte Rechtsprechung zum Essen mit Fingern, welche als nicht würdige Art und Weise der Nahrungseinnahme erachtet wird und deshalb bei der Bemessung der Hilflosenentschädigung mitzuberücksichtigen ist, wurde als nicht übertragbar auf den vorliegenden Fall erachtet.
Immerhin hat das Bundesgericht zum Zeitpunkt des Beginns der Hilflosenentschädigung festgestellt, dass bereits bei der ersten Anmeldung bei der Invalidenversicherung im Jahr 2017 für die IV erkennbar gewesen sei, dass der Versicherte infolge einer inkompletten Paraplegie dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen war, in welchen Fällen praxisgemäss ohne eine Abklärung eine Hilflosenentschädigung leichten Grads auszurichten sei.32
Es hätten zudem bereits bei der Anmeldung 2017 hinreichende Anhaltspunkte für eine Hilfsbedürftigkeit zumindest in der Fortbewegung (Aufstehen, Absitzen und Abliegen) bestanden. Deshalb gilt die grundsätzliche Anmeldung von 2017 auch für die Hilflosenentschädigung (wofür sich der Versicherte erst im Jahr 2021 spezifisch anmeldete).
In einem anderen Urteil war umstritten, inwieweit die Versicherte für regelmässige Wahrnehmung von Terminen ausser Haus auf Dritthilfe angewiesen war.33 Das Bundesgericht wies darauf hin, dass die lebenspraktische Begleitung nicht nur auf Menschen mit psychischen Beschwerden beschränkt ist, sondern auch körperlich Behinderte grundsätzlich lebenspraktische Begleitung beanspruchen können. Massgeblich sei, ob eine versicherte Person, wenn sie auf sich allein gestellt ist, sich nicht aus dem Haus begeben würde und ihre ausserhäuslichen Verrichtungen nicht ohne Begleitung tätigen könnte.34
Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Versicherte im Haus und im Freien auf Krücken angewiesen war, nahm das Bundesgericht einen Mehraufwand von 30 Minuten an. Dieser reichte aus, um die Mindestunterstützungsdauer von zwei Stunden pro Woche zu erreichen, zumal es sich dabei nur um einen Mehraufwand von drei bis vier Minuten pro Tag handelte.
4.4 Integrationsmassnahmen
Einen Fall einer schwierigen Reintegration zu beurteilen hatte das Bundesgericht am 6. März 2024.35 Nachdem eine erste Ausbildung als Uhrenmacher bei einem an ADHS erkrankten Versicherten mit Lese- und Rechtschreibstörung, Verhaltensauffälligkeiten, sozialen Interaktionsschwierigkeiten, einer tiefen Impulsstörung und Autismus-Spektrum-Störung gescheitert war, erteilte die Invalidenversicherung Kostengutsprache für weitere Integrationsmassnahmen bei einer Stiftung.
Der Versicherte trat dann in eigener Regie bei einer anderen Stiftung ein, weil er die erste Stiftung als nicht geeignet erachtet hatte. Das Bundesgericht stellte Überlegungen betreffend die «Gezieltheit einer Massnahme» an. Es vertrat die Auffassung, dass das kantonale Gericht überhöhte Anforderungen an die Gezieltheit einer Integrationsmassnahme gestellt hatte.
Die Beschwerde wurde jedoch mit der Begründung abgewiesen, dass der Versicherte durch seine eigenmächtige Nichtantretung der angeordneten Massnahme verhinderte, dass die Fallführung nach Artikel 41a IVV hätte wahrgenommen werden können, insbesondere hätte die Überwachung der Einhaltung der Zielvereinbarung nicht gewährleistet werden können. Zudem sei es nicht offensichtlich unrichtig, dass die Vorinstanz die subjektive Eingliederungswilligkeit verneint habe.
4.5 Verfahren
Bezogen auf das Verfahren stellte das Bundesgericht fest, dass der Erlass einer Verfügung während laufender Einwandfrist eine krasse Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt, die keiner Heilung zugänglich ist. Sinn und Zweck des Vorbescheidverfahrens bestehe darin, eine unkomplizierte Diskussion des Sachverhalts zu ermöglichen und dadurch die Akzeptanz des Entscheids bei Versicherten zu verbessern.
Das Vorbescheidverfahren diene zwar auch der Ausübung des rechtlichen Gehörs. Es gehe aber über den verfassungsrechtlichen Mindestanspruch von Artikel 29 Absatz 1 BV hinaus. Deshalb ist es unabdingbar, dass den Versicherten die Möglichkeit gegeben wird, sich zum beabsichtigten Entscheid zu äussern.
5. Obligatorische Unfallversicherung
5.1 Lohn bei Mehrfachbeschäftigung
Gesetzgeberisch ergaben sich im Bereich des Unfallversicherungsrechts keine Neuerungen. Hingegen sind einige spannende respektive klärende Urteile ergangen. So hat das Bundesgericht im Zusammenhang mit Artikel 15 UVG (versicherter Verdienst für Taggelder) festgehalten, dass der versicherte Verdienst bei Mehrfachbeschäftigung lediglich für die Taggeldbemessung (Artikel 23 Absatz 5 UVV), nicht aber für den Rentenanspruch speziell geregelt ist. Die Nichtberücksichtigung von Einkommen aus Nebenbeschäftigungen bei der Berechnung des versicherten Verdienstes für die Invalidenrente stelle keine unzulässige Ungleichbehandlung dar, sofern diese Einkommen mangels wöchentlicher Arbeitszeit von mehr als acht Stunden nicht obligatorisch versichert sind.36
5.2 Invalidenrente nach Referenzalter
In BGE 149 V 203 hat das Bundesgericht die Grenzen der freiwilligen Unfallversicherung geschärft. Die Suva bot einem weit über dem AHV-Rücktrittsalter stehenden Ehepaar eine freiwillige Unfallversicherung an mit dem ausdrücklichen Wortlaut, dass der Versicherungsvertrag den Anspruch auf eine Invalidenrente eines «Grades von 90 Prozent mit der AHV/IV-Rente» enthält. Die Ehefrau stürzte im 73. Altersjahr und zog sich eine Kompressionsfraktur des instabilen Wirbels T 11 und ein Schädel-Hirn-Trauma zu.
Es stellt sich die Frage nach einem Rentenanspruch, welchen die Suva unter Hinweis auf Artikel 18 Absatz 1 UVG verweigerte. Dagegen wurde Beschwerde geführt. Das Bundesgericht legte vorab den Versicherungsvertrag nach den Grundsätzen von verwaltungsrechtlichen Verträgen aus und stellte fest, dass der Versicherungsvertrag eine von der gesetzlichen Vorschrift zum Artikel 18 Absatz 1 in fine UVG abweichende Klausel enthält.
Es kam zum Schluss, dass in Anwendung des Vertrauensprinzips der Vertrag zwischen den Parteien den Anspruch auf eine Invalidenrente zugunsten der Versicherten vorsieht. Es führte zudem aus, dass jedoch aufgrund der zwingenden Regelung von Artikel 18 Absatz 1 in fine UVG ein vertragliches Abweichen von den gesetzlichen Bestimmungen nicht zulässig war und somit auch nicht gültiger Gegenstand des Versicherungsvertrages werden konnte.
Zu prüfen war sodann der Rentenanspruch aufgrund der Verletzung der Informations- und Beratungspflicht nach Artikel 27 ATSG. In diesem Zusammenhang verwies das Bundesgericht auf den Sinn und Zweck der lebenslangen Rente in der Unfallversicherung. Verunfallte invalide Personen können keinen Schutz in der beruflichen Vorsorge aufbauen. Hierzu führte es aus, die Beschwerdeführerin habe nur sehr vage behauptet, sie habe im Vertrauen auf den Bestand des Versicherungsvertrags keinen Schutz der beruflichen Vorsorge aufgebaut.
Auch sei unwahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin nach dem Rentenalter eine private Versicherungsgesellschaft gefunden hätte, die einen Rentenversicherungsvertrag für das Unfallrisiko abgeschlossen hätte. Die Beschwerdeführerin kritisierte die diesbezügliche vorinstanzliche Argumentation mit dem Hinweis, für die Beurteilung des Schadens seien nur «aktive» Vorkehren geprüft worden. Aufgrund der Zusicherung der Invalidenrente habe überhaupt kein Anlass für ein solches aktives Verhalten bestanden. Das Bundesgericht wies diesen Einwand ab mit der Begründung, dass gar kein Schaden entstanden sei. Die Beschwerdeführerin habe selbst mitgeteilt, dass sie nicht am Aufbau einer Altersvorsorge weitergearbeitet habe, und es sei auch nicht plausibel, dass sie noch einen privaten Versicherungsvertrag abgeschlossen hätte.
5.3 Unfallbegriff
Unter den zahlreichen Urteilen zum Unfallbegriff sticht dasjenige einer jungen Frau hervor, die mit K.-o.-Tropfen betäubt und nachweislich geschändet wurde. Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem fremden Mann neben sich im Bett. Aufgrund von Resten eines Kondoms in der Scheide war klar, dass sie geschändet wurde. Das Bundesgericht verneinte jedoch das Vorliegen eines Schock- oder Schreckereignisses mit dem Hinweis darauf, dass sie die Schändung erst Stunden danach realisiert habe.
Zwar sei durchaus nachvollziehbar, dass sie dabei einen psychischen Schock erlitten habe. Nur die Vorstellung, was geschehen sein könnte, vermöge indessen die Qualifizierung der als Schreckereignis nötige Voraussetzungen der unmittelbaren Gegenwart im Sinne der bewussten Wahrnehmung eines gewaltsamen Vorfalls nicht zu erfüllen.37
Das Urteil stösst nicht nur im Ergebnis auf Unverständnis, sondern auch bezogen auf die Begründung. Das Bundesgericht hat sich zwar ausführlich mit vielen Urteilen zum Schock- und Schreckereignis auseinandergesetzt und dabei an die frühere Rechtsprechung angeknüpft, dass ein Schock- und Schreckereignis nur bejaht wird, wenn die ausserordentliche schreckliche Tat auch miterlebt wird.
Es wies in diesem Zusammenhang auf verschiedene Fälle hin: die Mutter, die ihren Sohn tot auffand, aber am Tötungsdelikt nicht dabei war, der Lokomotivführer, der ein längliches graues Objekt überfuhr und in diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass es sich dabei um einen Menschen handelte, sowie die Gruppe von Menschen, die sich während des Attentats in Nizza vor einem Beach Club aufgehalten hatte. In all diesen Fällen hatte das Bundesgericht einen Unfall mangels «unmittelbaren Erlebens» verneint.
Bezeichnenderweise finden sich bei der Auflistung der Urteile keine Hinweise auf Urteile zu Tsunami-Opfern. In diesen Fällen bejahte das Bundesgericht nämlich Schock- und Schreckereignisse auch bei Personen, die den Tsunami nicht unmittelbar und selbst erlebt hatten, sondern von einem Bootsausflug zurückgekehrt waren und nur die schreckliche Zerstörung gesehen hatten.
5.4 Heilbehandlung nach AHV-Referenzalter
Lange ungeklärt war die Frage des Anspruchs auf Erstattung von Heilbehandlungen bei Teilrentnern nach Erreichen des AHV-Alters. Insbesondere private Unfallversicherer haben in solchen Konstellationen regelmässig ihre weitere Leistungspflicht verneint. Dieser Standpunkt wurde nun in BGE 149 V 91 widerlegt.
5.5 Teilkausalität
Ein Entscheid aus der Militärversicherung kann auch in der Unfallversicherung durchaus Tragweite haben.38 Es geht um die Frage, mit welcher Teilkausalität der Nachweis einer Spätfolge ausgewiesen sein muss. Im Rahmen eines medizinischen Gutachtens wurde lediglich noch von einer Teilkausalität des versicherten Ereignisses ausgegangen. Die Gutachterin betonte mehrfach, es sei schwierig, den Kausalitätsanteil der während des Militärdienstes erlittenen Verletzung an den aktuell bestehenden Beschwerden zu beziffern.
Sie stellte den Kausalzusammenhang als solchen nie in Abrede, obwohl sie von einem vernachlässigbaren Anteil ausging. Es wurde ein Teilkausalzusammenhang von 10 Prozent attestiert. Nachdem die Vorinstanz die Militärversicherung verpflichtete, auf dieser Grundlage weitere Abklärungen im Hinblick auf eine Integritätsschadensrente vorzunehmen, wies das Bundesgericht die dagegen erhobene Beschwerde ab mit dem Hinweis, dass der Zusammenhang zwischen der Spätfolge und dienstlicher Gesundheitsschädigung aufgrund der schlüssigen gutachterlichen Ausführungen wahrscheinlicher ist als das Fehlen eines solchen. Daher bestehe eine (Teil-)Haftung der Militärversicherung nach Artikel 6 MVG.39
5.6 Betriebsunterstellung unter UVG
Im Zusammenhang mit der Abgrenzung des Tätigkeitsbereichs der Suva hat sich das Bundesgericht sodann mit der Schärfung des Begriffs des gemischten Betriebs beschäftigt. Zu beurteilen war die Frage, ob für einen im Bereich der Mobilität tätigen Verein, welcher neben verschiedenen Angeboten und Dienstleistungen auch freiwillige und amtliche Fahrzeugprüfungen in Service Centern durchführt, die Suva nach Artikel 66 UVG zuständig ist oder sich der Verein den anderen Versicherern nach Artikel 69 UVG anschliessen kann.
Das Bundesgericht verneinte das Vorliegen eines gemischten Betriebs im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 UVV, weil keine vollständige räumliche oder personelle Verselbständigung der Betriebsteile Administration, Beratung und Fahrzeugprüfungen bestand. Aufgrund der grossen Anzahl der durchgeführten Fahrzeugprüfungen (jährlich 5500 bis 6000) wurde dieser Bereich als charakteristisch und damit als Hauptbetrieb qualifiziert. Das Bundesgericht bejahte mit Hinweis auf Urteil 8C_45/2020 vom 8. April 2020 (Artikel 66 Absatz 1 litera m in Verbindung mit litera f) die Unterstellung unter die Suva bejaht.40
6. Krankenversicherung
6.1 Post-Covid-Leiden
Die teilweise etwas in Vergessenheit geratene Pflichtleistung hob das Bundesgericht im viel beachteten Urteil 9C_702/2023 vom 15. Februar 2024 hervor. Gegenstand des Verfahrens war die Kostenübernahme für eine Help-Apherese zur Behandlung der Folgen einer Post-Covid-Erkrankung. Die Helsana stellte sich gestützt auf einen vertrauensärztlichen Bericht auf den Standpunkt, dass keine Studie zur Wirksamkeit der Behandlung bestehe. Gemäss Bundesgericht reicht es nicht aus, die Wirksamkeit einer Behandlung in Zweifel zu ziehen.
Bei Beweislosigkeit komme die Vermutung zu tragen, wonach die von einem Arzt durchgeführte Behandlung als wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich gilt, wenn sie nicht auf der Negativliste gemäss Anhang 1 KLV steht und damit von der Leistungspflicht ausgenommen wurde (Pflichtleistungsvermutung). Mit dem vertrauensärztlichen Bericht erachtet das Bundesgericht nicht als ausgewiesen und wies die Angelegenheit an die Helsana zurück.
Das Urteil ist in der Begründung zutreffend und nachvollziehbar.
Die Schlussfolgerung, dass die Angelegenheit an die Krankenversicherung zurückgewiesen und dieser nun erneut die Möglichkeit gegeben wird, die «Unwirksamkeit» nachzuweisen, befremdet allerdings. Wenn Versicherte die notwendigen Beweismassnahmen nicht rechtzeitig vornehmen und in die Verfahren einbringen, führt das regelmässig zur Abweisung von Leistungsanträgen. Im umgekehrten Fall wird den Versicherungen jedoch häufig die Möglichkeit zu weiteren Abklärungen eingeräumt. Hier stellt sich die Frage nach der Gleichbehandlung.
6.2. Keine Behandlung im Ausland
Sodann hat das Bundesgericht mit Urteil vom 20. Juli 2023 entschieden, dass vom Markt genommene Medikamente nicht mehr von der obligatorischen Grundversicherung übernommen werden dürfen.41 Nach einer befristeten Zulassung eines Medikaments wurde dieses Ende 2020 vom Markt genommen, war jedoch in Österreich noch erhältlich. Anstelle des Medikaments wurde in der Schweiz eine Operation empfohlen. Der Beschwerdeführer argumentierte, eine solche Operation sei mit Risiken verbunden (Gewebeverlust und Infektionsrisiko), weshalb auch die Medikation aus dem Ausland übernommen werden müsse.
Das Bundesgericht erinnerte an das Territorialitätsprinzip und verneinte eine Versorgungslücke. Die Nachteile der Operation würden nicht derart stark ins Gewicht fallen, dass der Ausnahmefall einer Versorgungslücke angenommen werden könnte. Auch die Voraussetzungen der Artikel 71a ff. der Verordnung über die Krankenversicherung wurden verneint.
6.3 Parteientschädigung an Krankenkasse
Am 18. September 2023 änderte das Bundesgericht sodann die bisherige Rechtsprechung, dass entgegen Artikel 68 Absatz 3 BGG Krankenversicherern im Rahmen von Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung für die Vertretung vor Bundesgericht eine Parteientschädigung zugesprochen werden konnte (Artikel 56 Absatz 2 KVG).42 Massgeblich dafür wurde der Umstand erachtet, dass sich seit Inkrafttreten dieser Bestimmung zu vielen Fragen zur Wirtschaftlichkeitsprüfung eine feststehende Praxis entwickelt hat und deshalb keine Ausnahme von der Bestimmung mehr gerechtfertigt ist.
Fussnoten siehe PDF.