Recht haben und Recht bekommen sollen nach dem Verständnis des modernen Rechtsstaates nicht davon abhängig sein, ob sich eine Person eine Rechtsverbeiständung leisten kann. Die Bundesverfassung gewährt bedürftigen Personen einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV).1 Die Ansprüche aus Art. 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Art. 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Uno-Pakt II) sind deckungsgleich,2 aber dennoch sind diese Normierungen erwähnenswert. Dieser Anspruch ist nicht nur auf gerichtliche Prozesse beschränkt, sondern gilt auch gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG in allen sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren.3 Damit soll vom Staat gewährleistet werden, dass nebst den wohlhabenden auch den wenig begüterten Personen der Zugang zum Recht ermöglicht wird.4
Die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege im Verwaltungsverfahren sind – wie nachfolgend aufgezeigt werden soll – streng. Dies soll auch in Art. 37 Abs. 4 ATSG und dem Terminus «wo die Verhältnisse es erfordern» zum Ausdruck gebracht werden.5 Im Unterschied zu Art. 29 Abs. 3 BV fokussiert Art. 37 Abs. 4 ATSG auf die Gewährung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, nicht hingegen auf die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.6 Dies ist Folge der Kostenlosigkeit der sozialversicherungsrechtlichen Administrativverfahren.
1. Sachlicher Geltungsbereich
Art. 37 Abs. 4 ATSG zielt darauf ab, Personen, denen ohne anwaltliche Unterstützung die Gefahr droht, eines Rechtes verlustig zu gehen oder die sich gegen einen als unzulässig erachteten Eingriff nicht wehren könnten, den Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zu gewähren.7
2. Zeitlicher Geltungsbereich
Mittels Vorbescheid wird der versicherten Person mitgeteilt, wie die IV gedenkt, über ein Leistungsbegehren zu verfügen (Art. 57a Abs. 1 IVG). Erfahrungsgemäss prallen zu diesem Zeitpunkt im Administrativverfahren unterschiedliche Bewertungen des Sachverhalts und unterschiedliche rechtliche Würdigungen aufeinander, weshalb spätestens dann eine Rechtsverbeiständung erforderlich sein kann.8 Jedoch ist auch eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das vorangehende Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung nicht ausgeschlossen; denn die Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung hängt nicht primär davon ab, ob ein Verfahren streitige Elemente aufweist.9
Dem Wortlaut von Art. 37 Abs. 4 ATSG ist zu entnehmen, dass der «gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt» wird. Daraus folgt, dass grundsätzlich ein Gesuch seitens der gesuchstellenden Person zu erfolgen hat. Kosten, die vor dem Gesuch entstanden sind, werden in aller Regel nicht übernommen.10 Gemäss der herrschenden Lehre und Rechtsprechung hat der Entscheid über die unentgeltliche Rechtsverbeiständung unmittelbar im Anschluss an die Gesuchseinreichung zu erfolgen. Auf jeden Fall hat der Entscheid vor weiteren Handlungen des Rechtsvertreters zu ergehen, damit sich die Parteien über die finanziellen Konsequenzen im Klaren sein können.11
Der Entscheid hat zudem als selbständig anfechtbare verfahrensleitende Verfügung zu ergehen. Werden also seitens einer IV-Stelle Handlungen und Anordnungen vor formellem Entscheid über das Gesuch um Bewilligung zur Ernennung als unentgeltlicher Rechtsbeistand veranlasst, so ist diese Herangehensweise nach unserer Auffassung als implizite Gutheissung des Gesuches zu werten.
3. Drei Voraussetzungen
Der verfassungsmässigen Garantie aus Art. 29 Abs. 3 BV folgend, wird die unentgeltliche Verbeiständung bewilligt, wenn kumulativ die gesuchstellende Partei bedürftig ist, die Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen und die Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten bzw. erforderlich ist.
3.1 Mittellosigkeit, Bedürftigkeit
Von einer Bedürftigkeit einer Person ist dann auszugehen, wenn sie nicht in der Lage ist, für die Anwaltskosten selber aufzukommen, ohne die finanziellen Mittel, welche für die Deckung des Grundbedarfs einer Familie vorgesehen sind, antasten zu müssen. Vereinfacht gesagt, werden auf der einen Seite das gesamte Einkommen und Vermögen der gesuchstellenden Person und auf der anderen Seite deren Aufwand für den Lebensunterhalt ermittelt und dann einander gegenübergestellt.12
Abzugrenzen ist die prozessuale Bedürftigkeit respektive Mittellosigkeit von der sozialhilferechtlichen Bedürftigkeit. Die prozessuale Bedürftigkeit ist beim Sozialhilfebezug immer gegeben, da die Armutsgrenze tiefer liegt als die Schwelle zur prozessualen Bedürftigkeit.13
Im Gegensatz zu Art. 61 lit. f ATSG bestimmt sich die prozessuale Bedürftigkeit ausschliesslich anhand von Bundesrecht (Art. 37 Abs. 4 ATSG i. V. m. Art. 55 Abs. 1 ATSG),14 d. h. kantonale Eigenheiten haben keinen Raum.
Im Sinne einer Faustregel ist vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum auszugehen und dieses um 15 bis 30 Prozent zu erhöhen. Die versicherte Person muss aber nicht alle Ersparnisse für die Anwaltskosten opfern, sondern es ist ihr ein den individuellen Umständen angepasster Freibetrag (Notgroschen) zu belassen. Bei der Bezifferung des «Notgroschens» müssen namentlich die Erwerbsaussichten, das Alter, der Gesundheitszustand sowie familiäre Verpflichtungen Berücksichtigung finden.15
Ergibt eine derart durchgeführte Differenzberechnung von Einnahmen und Vermögen (exkl. Notgroschen) einen ausgeglichenen bzw. negativen Saldo, so ist die prozessuale Bedürftigkeit gegeben. Bei einem Überschuss ist dieser mit den mutmasslichen Anwaltskosten in Beziehung zu setzen. Lassen sich die mutmasslichen Anwaltskosten nicht innerhalb eines Jahres bzw. bei aufwendigen Verfahren innert zweier Jahre begleichen, so ist die prozessuale Bedürftigkeit gegeben. Reicht der Überschuss bloss zur Bestreitung eines Teils der mutmasslichen Anwaltskosten, so ist die prozessuale Bedürftigkeit auch nur teilweise gegeben und wird dementsprechend auch nur teilweise gewährt.
3.2 Keine Aussichtslosigkeit des Rechtsbegehrens
Ein Rechtsbegehren wird dann als aussichtslos betrachtet, wenn «die Gewinnaussichten beträchtlich geringer als die Verlustgefahren» anzusehen sind. Hingegen wird ein Begehren nicht als aussichtslos beurteilt, wenn sich die Gewinnaussichten gegenüber der Verlustgefahr die Waage halten bzw. nur wenig geringer sind.
Eine materielle Aussichtslosigkeit liegt dann vor, wenn der Antragsteller keine glaubwürdigen Beweise für den vertretenen Rechtsstandpunkt erbringen kann, eine formelle Aussichtslosigkeit hingegen, wenn die formellen Voraussetzungen eines Gesuchs nicht gegeben sind. Massgeblich für die Beurteilung der Aussichtslosigkeit ist der Zeitpunkt, in dem das Gesuch eingereicht wird. Ausserdem gilt hier das Beweismass des Glaubhaftmachens.
3.3 Erforderlichkeit, Gebotenheit
Während die vorhergehend geschilderten Kriterien der Mittellosigkeit und der Nicht-Aussichtslosigkeit in der Praxis in aller Regel selten Probleme bereiten, wird die Erforderlichkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung häufig – unter Verweis auf den strengen Prüfungsmassstab – verneint.
Erforderlich ist eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung nur dann, wenn sich schwierige Fragen rechtlicher oder tatsächlicher Natur stellen. Zu berücksichtigen sind dabei die konkreten Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die weiteren Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens.16 Neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts fallen auch bei der versicherten Person liegende Gründe in Betracht, etwa ihre Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden.17
Zielsetzung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung ist letztlich die Herstellung von Waffengleichheit, welche in der Bundesverfassung (Art. 29 und 30 BV) sowie in Art. 6 Ziff. 1 EMRK normiert ist.18 Die Stellen der Invalidenversicherung sind arbeitsteilige Organisationen, die neben der allgemeinen Kundenberatung auch über einen regional ärztlichen Dienst (RAD) und einen Rechtsdienst verfügen. Hinsichtlich der Waffengleichheit müsste dementsprechend der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, sofern die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind, immer gewährt werden.
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung anerkennt zwar, dass innerhalb der Invalidenversicherung Kompetenzen vorhanden sind, über die die versicherte Person gemeinhin nicht verfügt. Trotzdem könne nicht allein deshalb von einer komplexen Fragestellung gesprochen werden. Die gegenteilige Auffassung liefe darauf hinaus, dass die unentgeltliche Rechtsverbeiständung nicht mehr der Ausnahme-, sondern der Regelfall sei.19 Nach unserer Auffassung vermag diese Argumentation nicht zu überzeugen. Wenn das Art. 37 Abs. 4 ATSG übergeordnete Recht den Anspruch auf Waffengleichheit herstellt, so kann dieser Anspruch nicht unter Verweis auf die Konzeption von Art. 37 Abs. 4 ATSG unterlaufen werden, ohne das übergeordnete Recht zu verletzen.
4. Untersuchungsgrundsatz
Das IV-Verwaltungsverfahren wird gemäss Art. 43 Abs. 1 ATSG vom Untersuchungsgrundsatz und der Rechtsanwendung von Amtes wegen beherrscht. Der Versicherungsträger hat also den rechtserheblichen Sachverhalt unter Mitwirkung der Parteien nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Objektivität, Neutralität und Gesetzesgebundenheit zu ermitteln.20 Wie das Bundesgericht schon richtig festgehalten hat, vermag die Untersuchungsmaxime Fehlleistungen von Behörden nicht zu verhindern.21 Auch wenn der Verwaltungskörper gesetzlich angewiesen ist, unfehlbar zu sein, so zeigt die Praxis, dass diesem hehren Ziel nicht entsprochen wird.22
Es ist ein Zirkelschluss, die gesetzlichen Vorgaben als Begründung für eine strenge Praxis im Rahmen der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung heranzuziehen. Die anwaltliche Tätigkeit bezieht sich ja gerade eben auf die Kontrolle der Argumentation der Gegenpartei.
Das Argument der Behörde, wir entscheiden rechtmässig, weil wir gesetzlich dazu verpflichtet sind, ist ein offensichtliches Scheinargument. Auch unterliegt die Invalidenversicherung – wie sich Medienberichten aus jüngerer Zeit entnehmen lässt – nicht nur dem gesetzlichen Auftrag, sondern muss auch noch Zielvorgaben seitens der Aufsichtsbehörde erfüllen.23 Dementsprechend ist erstellt, dass die Entscheidgrundlagen hinsichtlich Gewährung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung nicht nur geltendes Recht sind, weshalb der Verweis auf den Untersuchungsgrundsatz zur Abweisung eines Gesuches zur Bestellung als unentgeltlicher Rechtsvertreter eben nicht stichhaltig ist.
5. Subsidiarität nicht immer gewährleistet
Damit eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung in Frage kommt, muss eine gehörige Interessenwahrung durch Dritte (Verbandsvertreter, Fürsorgestellen oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen) ausser Betracht fallen.24,25
Der pauschale Hinweis, dass möglicherweise Stellen vorhanden sind, die den «Pfeiler des Rechtsstaates der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung»26 eventuell auch übernehmen könnten, nachdem der Staat sich dieser Verpflichtung entledigt hat, ist nicht ausreichend. Im Gegenteil muss die Invalidenversicherung unter Umständen auf solche Einrichtungen hinweisen und darauf aufmerksam machen, bei diesen ein Gesuch zu stellen.27 Dieser Hinweispflicht muss nach unserer Auffassung vorgängig zwingend nachgekommen werden. Ein Hinweis im Rahmen der Abweisung des Gesuchs um Bestellung zur unentgeltlichen Rechtsverbeiständung ist nach unserer Auffassung nicht angängig beziehungsweise verspätet.
Aber auch wenn die Invalidenversicherung auf konkrete Fachstellen hingewiesen hat und angeraten hat, dort ein Gesuch zu stellen, ist damit noch nicht erstellt, dass die Fachstelle das Gesuch bewilligt und die fachkompetente Vertretung auch übernimmt. Der Hinweis auf Dritte für sich allein genommen begründet nach unserer Auffassung eine blosse Möglichkeit.
Auch lässt die Vertretung durch eine geeignete Fachstelle den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege nicht per se untergehen, da auch die Fachstelle beziehungsweise der angestellte Rechtsanwalt unter Umständen den Anspruch auf Bestellung zum unentgeltlichen Rechtsbeistand beanspruchen kann. Sofern es sich bei der Fachstelle um eine Non-Profit-Organisation handelt, die ihre Aufwendungen mittels planmässig zuvor erbrachter Beiträge oder Prämien deckt, die als Gegenleistung den Anspruch auf Rechtsverbeiständung gewährt, hat diese Fachstelle beziehungsweise der bei dieser Fachstelle angestellte Rechtsvertreter – sofern es sich um einen patentierten Anwalt handelt – auch Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.28
Soweit der Hinweis pauschal auf staatliche Fürsorgestellen im Sinne des kantonalen Sozialhilferechts abzielt, ist festzuhalten, dass nach den meisten kantonalen Sozialhilfegesetzen kein justiziabler Anspruch auf persönliche Hilfe besteht.29 In der Praxis ist auch häufig zu verzeichnen, dass die Hilfesuchenden unter Hinweis auf die absolute Subsidiarität der Sozialhilfe auf die unentgeltliche Rechtsverbeiständung gemäss ATSG hingewiesen werden. Schliesslich ist zu erwähnen, dass den jeweiligen Sozialhilfestellen, sofern sie die hilfesuchende Person regelmässig unterstützen oder dauernd betreuen, im IV-Verwaltungsverfahren selbst Parteistellung zukommt.30 Von dieser Parteistellung machen die Sozialhilfebehörden in aller Regel keinen Gebrauch, d. h. sie unterlassen es, ihre eigenen Interessen im Rahmen eines Verfahrens wahrzunehmen, weshalb es mehr als fraglich ist, inwiefern eine fachkompetente Betreuung von Drittinteressen tatsächlich gewährleistet ist.31
6. Fragen des Honorars
Im Rahmen der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im Verwaltungsverfahren umfasst die Gutheissung des Gesuchs lediglich diejenigen Aufwendungen und Kosten, die notwendig und verhältnismässig sind.32 Überflüssige Arbeiten sind nicht mitumfasst, jedoch muss dem unentgeltlichen Rechtsbeistand ein Handlungsspielraum verbleiben, damit er das Mandat wirksam ausüben kann.33
Bei der Frage, wie viele Stunden zu entschädigen sind, sind neben der Wichtigkeit der Streitsache und ihrer Schwierigkeit auch der Umfang der Arbeitsleistung und der Zeitaufwand des Rechtsbeistands zu berücksichtigen. Entsprechend ist eine Bemessung der Entschädigung anhand pauschaler zeitlicher Richtwerte nicht sachgerecht. Liegt eine Honorarrechnung vor, bei der der geltend gemachte Aufwand als nicht gerechtfertigt erscheint, so erlaubt die ermessensweise Festsetzung der Entschädigung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes grundsätzlich auch die Kürzung der Rechnung. Dies ist jedoch ausreichend zu begründen, entspricht es doch allgemeinen rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dass die Entscheidungsgründe dem Betroffenen bekannt sein müssen.34 Die Höhe der Entschädigung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes im Verwaltungsverfahren ist eine Ermessensfrage.35
Gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG i.V.m. Art. 12a ATSV kommen betreffend Kosten und Entschädigungen die Art. 8 bis 13 des Reglements über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE)36 zur Anwendung. Aufgrund dieser bundesrechtlichen Vorgaben sind kantonale Eigenheiten – wie sie immer noch häufig anzutreffen sind – von vorneherein unbeachtlich.
Aufgrund von Art. 10 Abs. 2 VGKE beträgt der Stundensatz für Anwälte mindestens 200 Franken und höchstens 400 Franken. Mit genanntem Artikel wird der Invalidenversicherung Ermessen eingeräumt. Sie ist aufgerufen zu beurteilen, wie der Stundenansatz festzulegen ist. Durch das Ermessen erhalten die Verwaltungsbehörden einen Spielraum für den Entscheid im Einzelfall. Dies bedeutet aber nicht, dass die Behörden in ihrer Entscheidung völlig frei sind. Die Behörden dürfen nicht willkürlich entscheiden. Die Verwaltungsbehörden sind vielmehr an die Verfassung gebunden. Sie müssen insbesondere das Rechtsgleichheitsgebot, das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Pflicht zur Wahrung der öffentlichen Interessen befolgen. Ausserdem sind Sinn und Zweck der gesetzlichen Ordnung auch bei Ermessensentscheiden zu beachten.
7. Aktuelle Praxis zu restriktiv
Im Vergleich zum sonstigen Verwaltungsrecht erscheint die Praxis zur unentgeltlichen Rechtsverbeiständung im IV-Verwaltungsverfahren restriktiver. Dies erstaunt, wenn bedacht wird, dass die bundesrechtlichen Rechtsgrundlagen in allen Bereichen die gleichen sind, nämlich Art. 29 Abs. 3 BV und insbesondere Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Sachliche Gründe für die herrschende restriktive Praxis sind nach unserer Auffassung nicht ersichtlich. Die unentgeltliche Rechtsverbeiständung ist ein tragender Pfeiler des Rechtsstaates, der nicht an Dritte delegiert werden und auch nicht im Rahmen sachlich nicht gerechtfertigter Regel- und Ausnahmeüberlegungen eliminiert werden darf. Aus diesen Gründen ist die aktuell noch restriktiver werdende Praxis der Verwaltung und der Gerichte kritisch zu beurteilen.
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18.4.1999 (BV; SR 101); vgl. m.w.H. Marco Weiss, «Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung im Sozialversicherungsverfahren», in: SZS, 1/2019, S. 39.
Stefan Meichssner, Das Grundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege, Basel 2008, S. 19 f.; Bernhard Waldmann, N 60 f. zu Art. 29, in: Bernhard Waldmann / Eva Maria Belser /Astrid Epiney (Hrsg.), Basler Kommentar Schweizerische Bundesverfassung (BV), Basel 2015.
Schon vor der Einführung des ATSG vgl. BGE 98 V 116.
Das Bundesgericht bezeichnet das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege zu Recht als eigentlichen Pfeiler des Rechtsstaats, vgl. BGE 132 I 201, E. 8.2.
BBl 1999, S. 4595.
Urs Müller, Das Verwaltungsverfahren in der Invalidenversicherung, Bern 2010, § 28 N 1964 f.
BGE 121 I 317, E. 3b.
BGE 117 V 409, E. 5a; BGE 114 V 236, E. 5b.
BGE 125 V 32, E. 4.c; BGer 8C_48/2007 vom 19.7.2007, E. 1.
BGer 8C_377/2018 vom 7.2.2019, E. 3.2. Dennoch erscheint auch die rückwirkende Kostenübernahme nicht völlig ausgeschlossen, vgl. m.w.H. Urs Müller, a.a.O., N 2028.
BGer 8C_911/2011 vom 4.7.2012, E. 6.1; BGer 9C_423/2017 vom 10.7.2017, E. 4.1.
BGer 8C_470/2016 vom 16.12.2016, E. 4.2.
BGer 1C_45/2007 vom 30.11.2007, E. 6.3; BGer 9C_784/2017 vom 12.1.2018, E. 5.1.
BGE 133 V 441, E. 3.
BGer 8C_377/2016 vom 8.8.2016, E. 2.2.
BGer 8C_438/2012 vom 28.6.2012, E. 2.1 mit Hinweis; BGE 132 V 200, E. 4.1.
BGE 125 V 32, E. 4b.
BGE 131 I 350, E. 3.1; BGE
120 Ia 217, E. 1; EGMR-Urteil 68416/01 vom 15.2.2005 Steel und Morris c. Vereinigtes Königreich.
BGer 8C_353/2019 vom 2.9.2019.
BGer 8C_353/2019 vom 2.9.2019, E. 3.1.5.
BGE 130 I 180.
So ähnlich schon: Stéphane Blanc, «La procédure administrative en assurance-invalidité», Diss., Fribourg 1999, S. 270.
Markus Brotschi, «Berset leitet Untersuchung gegen IV ein», in: «Tages-Anzeiger» vom 21.12.2019.
BGE 114 V 228, E. 5b; BGE 125 V 32, E. 4b; SVR 2016 IV Nr. 17, S. 50; BGer 8C_931/2015 vom 23.2.2016, E. 3;
2015 IV Nr. 18, S. 53, BGer 8C_57/2014, vom 14.4.2014, E. 4.2.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau geht mit Urteil vom 20.6.2019 (VBE.2019.2) gar so weit, dass sich die Komplexität des Verfahrens nicht am Wissen eines Laien bemisst, sondern am Horizont der zu erwartenden Fachkenntnisse der kompetenten Dritten (vgl. a.a.O., E. 3.1).
Vgl. Fn. 3: BGE 132 I 201, E. 8.2.
BGer 9C_878/2012 vom 26.11.2012, E. 3.6; BGer 9C_908/2012 vom 22.2.2013, E. 2.2; BGer 9C_52/2015 vom 3.7.2015, E. 4.2.1.
BGE 135 I 1, E. 7.1 (i.c. war es die Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not).
VGer-ZH Urteil VB.2010.00251 vom 19.8.2010.
BGer I 113/05 vom 8.6.2005, E. 2.1; BGer 8C_905/2014 vom 23.7.2015, E. 2.2.
Ähnlich BGer 9C_991/2008 vom 18.5.2009, E. 4.4.2.
BGE 109 la 107, E. 3a f.; BGer 6B_130/2007 vom 11.10.2007 E.3.2.5; BGer 9C_387/2012 vom 26.09.2012, E. 2.2.
BGer 9C_387/2012 vom 26.9.2012, E. 4.
BGer 9C_284/2012 vom 18.5.2012, E. 5.3 und 6.
BGer 8C_676/2010 vom 11.2.2011, E. 3.
SR 173.320.2.