Wenn man Dick Marty begegnet, so begegnet man einem unauffälligen Mann. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass dieser Dick Marty als Staatsanwalt im Tessin 1987 mit dem Aufdecken der «Libanon Connection», eines internationalen Drogen- und Geldwäschereirings, indirekt den Rücktritt der damaligen Bundesrätin und Justizministerin Elisabeth Kopp bewirkt hat. Später hat er mit seinen Berichten über die CIA-Gefängnisse und Gefangenenflüge sowie den Organhandel im Kosovo für Aufsehen gesorgt. Doch was macht der 69-Jährige heute, nach seinem Rücktritt als FDP-Ständerat des Kantons Tessin und als Schweizer Abgeordneter des Europarats? «Ich bin Rentner», antwortet Marty bescheiden, lehnt sich im Sessel des «Café Fédéral» in Bern zurück und lächelt.
Dick Marty ist als Protestant im katholischen Tessin gross geworden. Das hat ihn geprägt. Marty erzählt: Wenn an der Schule Religion unterrichtet wurde, habe er die Klasse verlassen müssen. «Ah, du bist Protestant!» Das sei eine negative Charakterisierung gewesen. Kam hinzu, dass Marty schon damals eine Brille trug. Dazu stellt er trocken fest: «Als ich Kind war, waren Brillen noch richtig hässlich.» Die anderen Kinder hätten sich über ihn lustig gemacht. Er wolle diese Erfahrungen nicht psychologisieren, meint Marty, «aber ich denke: Das hat mich gestärkt, etwas allein zu ertragen.»
Diese Fähigkeit konnte er später gut gebrauchen. Zum Beispiel, als er als Sonderbeauftragter des Europarats wegen seiner Berichte über die geheimen CIA-Flüge und den illegalen Organhandel im Kosovo massiv unter Beschuss geriet. «Es war eine schwierige Zeit», sagt Marty. «Man entdeckt Dinge und niemand glaubt einem.» Die Zeit hat Marty schliesslich recht gegeben: Ein Eulex-Gericht hat fünf Ärzte der Medicus-Klinik in Pristina wegen illegaler Organtransplantationen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Und dass die CIA illegale Gefangenentransporte über die Schweiz führte, bezweifelt niemand mehr.
Verschafft ihm das Genugtuung? Marty denkt nach. Ein Triumph sei es nicht, aber ja, eine gewisse Befriedigung verspüre er schon. Marty: «Ich habe nie daran gezweifelt. Ich wusste, dass es wahr ist, ich hatte zuverlässige Quellen.»
Zum Thema Geheimdienste hat Dick Marty eine abgeklärte Haltung: Es brauche sie. Er stösst sich aber daran, dass die Aufsicht in fast allen Ländern lückenhaft ist. «Im Krieg gegen den Terror haben die Geheimdienste illegal gehandelt – ohne Konsequenzen.»
Die Haltung einiger europäischer Regierungen zum Handeln der CIA findet er skandalös: «Sie haben die Wahrheit vertuscht und gelogen und tun es immer noch.» Diese Entdeckung sei ein richtiger Schock für ihn gewesen und habe sein Vertrauen in die staatlichen Institutionen gebrochen. Die folgenden Worte klingen hart aus dem Mund des so sanft auftretenden Mannes: «Ich habe höchste Verachtung für Personen, denen die Verteidigung der Menschenrechte so leicht von der Zunge geht, die aber, wenn es ums Handeln geht, die ersten sind, die sie mit Füssen treten.» Marty nennt auch gleich einen Namen: den deutschen SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier, dem vorgeworfen wird, er habe sich als willfähriger Gehilfe der CIA inszeniert.
Wo sieht Marty heute die drängendsten Probleme in unserer Gesellschaft? Er beobachtet in der Schweiz mit Besorgnis eine «Kaskade von Volksinitiativen», die gegen internationales Recht verstossen. Bei der Masseneinwanderungsinitiative hätte man seiner Meinung nach dem Stimmvolk die Abstimmungsfrage so stellen müssen: «‹Wollen Sie das Abkommen zur Personenfreizügigkeit mit der EU kündigen? Wenn ja, wollen Sie die SVP-Initiative gegen Masseneinwanderung annehmen?› Das wäre transparente Demokratie gewesen.»
Der rote Faden durch sein ganzes Berufsleben sei die Gerechtigkeit gewesen, sagt Marty. «Auch wenn das vielleicht nicht sehr bescheiden tönt.» In der Justiz habe es ihm am besten gefallen. Dabei hätte er fast eine wissenschaftliche Karriere gemacht. Dank eines Stipendiums der deutschen Regierung konnte er am Max-Planck-Institut für Strafrecht in Freiburg im Breisgau doktorieren, anschliessend wurde er dort wissenschaftlicher Mitarbeiter. «Hätte ich dort eine Habilitation geschrieben, wäre ich irgendwo Professor geworden.» Doch ihm habe in der Wissenschaft der Kontakt zu Menschen gefehlt.
Eines Abends klingelte in Freiburg sein Telefon: Im Tessin wurde ein Staatsanwalt gesucht. Marty wollte sich das überlegen. Der Anrufer aber sagte: «Nein, es bleibt keine Zeit.» Marty setzte sich umgehend in den Zug, um rechtzeitig zur Anhörung durch die Wahlkommission in Bellinzona zu sein. Er wurde gewählt.
«Alle meine beruflichen Wechsel – sei es die Wahl zum Regierungsrat oder später zum Ständerat – haben mit einem unerwarteten Anruf spätabends oder sonntags begonnen», erinnert sich Marty. «Und immer musste ich schnell entscheiden.» Ein Glück, dass Martys Frau und die drei Kinder das immer mitmachten. Das weiss er zu schätzen: «Dass eine Familie hinter einem steht, dass man ein stabiles Hinterland hat, das ist sehr wichtig.» Es wäre schwierig, wenn nebst der Arbeit auch noch das Privatleben immer in Bewegung wäre, sagt er. Völlig unerwartet kam vor zwei Monaten auch Martys Ernennung durch den Radsport-Weltverband zum Präsidenten einer Doping-Untersuchungskommission. Wie das Thema zur Sprache kommt, lebt Dick Marty richtiggehend auf. Er erklärt leidenschaftlich die Aufgaben der Kommission: Sie soll die Rolle des Weltverbands im Dopingskandal um Radrennprofi Lance Armstrong klären. Die Kommission ist aber auch ein Gericht, das Urteile fällen kann. Dieses Jahr gilt noch eine Amnestie: Ärzte, Trainer, Masseure oder Manager können sich schuldig bekennen und erhalten dafür eine tiefere Strafe. Er ist zuversichtlich, dass sich viele Dopingsünder selbst stellen werden. «Die Blutproben werden konserviert.» Er schmunzelt. «Für die Leute stellt sich jetzt also die Frage, ob sie mit der Vergangenheit reinen Tisch machen oder das Risiko eingehen wollen, durch neue Testmöglichkeiten überführt zu werden.»
Dick Marty entschuldigt sich. Er greift zum Mantel und setzt seinen Hut auf. Er müsse los an eine Sitzung in Moutier – als Präsident der interjurassischen Versammlung. «Ich bin Rentner», sagte Marty zu Beginn des Gesprächs. Nun ist klar, warum er dann anfügte: «Meine Frau glaubt das aber nicht!»