Ungeschriebene Gesetze für eingeschriebene Briefe
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Plädoyer 05/2015
28.09.2015
Letzte Aktualisierung:
20.05.2016
Gjon David
Rechtsanwälte sind keine gewöhnlichen Leute. Sie haben nicht nur die für alle ihre Mitbürger geltenden Gesetze einzuhalten, sondern auch den Grundsätzen für die Ausübung des Anwaltsberufes nachzuleben, die das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte verbindlich festhält. Und dann hat auch der Schweizerische Anwaltsverband noch verpflichtende Standesregeln für seine Mitglieder erlassen.
Damit nicht g...
Rechtsanwälte sind keine gewöhnlichen Leute. Sie haben nicht nur die für alle ihre Mitbürger geltenden Gesetze einzuhalten, sondern auch den Grundsätzen für die Ausübung des Anwaltsberufes nachzuleben, die das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwälte verbindlich festhält. Und dann hat auch der Schweizerische Anwaltsverband noch verpflichtende Standesregeln für seine Mitglieder erlassen.
Damit nicht genug. Es gibt in der Anwaltschaft zudem ungeschriebene Gebote und Sitten für das Verhalten unter Kollegen. Ihr Ursprung liegt – wie es bei Sitten meistens der Fall ist – im Dunkeln. Eine dieser Sitten besagt: Unter den Herrn Kollegen gilt die eingeschriebene Zustellung eines Briefes als «unanständig». Dieser Meinung ist zum Beispiel der Zürcher Rechtsanwalt Peter Bösch. Denn wer einem andern Anwalt einen Brief mit eingeschriebener Post schickt, unterstellt ihm möglicherweise, dass er den Empfang wider besseres Wissen bestreiten könnte.
Innerhalb der Anwaltschaft sind die Ansichten über die Pflege der Kollegialität am Beispiel der eingeschriebenen Post aber gespalten: Rechtsanwalt Gino Keller aus Brugg AG sagt: «Es gibt heute nur noch die ungeschriebene Regel, dass Anwälte nicht per Einschreiben korrespondieren, ausser es ist zu Beweiszwecken notwendig.» Ihn persönlich störe diese Praxis nicht. Bösch hätte einen Vorschlag zur Güte: «Zustellung eines A-Post-Briefes an den Kollegen mit der Bitte, den Empfang zu bestätigen.»
Für den Winterthurer Rechtsanwalt Stefan Unholz hingegen ist die Regel antiquiert. Er wisse bis heute nicht, was an einem eingeschriebenen Brief verpönt sein könnte. Unholz: «Wo es wichtig ist, eine Zustellung nötigenfalls nachweisen zu können, brauchts halt einen eingeschriebenen Brief, einen A+-Brief oder das entsprechende elektronische Pendant – mag der Empfänger ein lieber Kollege oder ein gewöhnlicher Mensch sein.»
Das Bundesgericht stellte bereits vor 35 Jahren fest: «Die Erfahrung zeigt, dass Postsendungen ab und zu in falsche Briefkästen gelangen und auch auf andere Weise verloren gehen.» Das bewog auch den St. Galler Anwalt Christoph Senti zu einer pragmatischen Lösung: «Originaldokumente gehen bei mir immer per Einschreiben an den Empfänger. Nicht, weil ich dem Empfänger nicht traue – sondern weil sich die Post deutlich mehr Mühe gibt, eingeschriebene Sendungen zuzustellen.» Normale Post sei mehrfach untergegangen – weil die Post das Schreiben verlor. Eingeschriebene Briefe hingegen kommen mitunter später an, aber sie treffen immerhin ein: Eine eingeschriebene Klageantwort, aufgegeben am Bahnhof in Altstätten SG, erreichte das Gericht in Altstätten SG immerhin nach zwei Wochen.