Für die Entscheidung über Kinderbelange wie elterliche Sorge, Obhut oder Betreuung gibt es in den Kantonen unterschiedliche Regelungen: Zum Teil ist eine Kindesschutzbehörde (Kesb) zuständig, zum Teil ein Gericht. Rechtsmittel sind in einigen Kantonen beim oberen kantonalen Zivilgericht einzureichen, in anderen beim Verwaltungsgericht. Und im Verfahren vor Bundesgericht hängt dessen Kognition unter Umständen vom Zivilstand der Eltern ab: Bei verheirateten Eltern sind Kinder betreffende Fragen in der Regel im Rahmen des Eheschutzes oder von vorsorglichen Massnahmen bereits geklärt worden. Die Prüfzuständigkeit des Bundesgerichts ist daher eingeschränkt. Bei ledigen Eltern dagegen prüft das Gericht mit freier Kognition.
Vereinheitlichung der Rechtswege tut not
Diese komplizierte und uneinheitliche Regelung stösst in Lehre und Praxis zunehmend auf Kritik. «Die doppelten Rechtswege der Artikel 315 und 315a ZGB sind problematisch», sagt Alexandra Jungo, Professorin an der Universität Freiburg. Sie fordert die Vereinheitlichung der Rechtswege: «Es kann nicht sein, dass die Kognition der Rechtsmittelbehörde vom Zivilstand der Eltern abhängt.» Thomas Geiser, bis Ende 2017 Professor an der Universität St. Gallen, spricht von einer «desolaten Situation». Dafür sei Lausanne mitverantwortlich: «Das Bundesgericht tritt nur sehr beschränkt auf Beschwerden gegen vorsorgliche Massnahmen ein – unabhängig davon, in welchem Verfahren sie ergangen sind.» Und wenn es darauf eintrete, sei die Kognition auf Verfassungsverletzungen beschränkt. «Das ist insofern problematisch, als vorsorgliche Massnahmen in aller Regel in Kinderbelangen präjudizierend sind.»
Bis zu einem Endentscheid können laut Geiser Jahre verstreichen. «Der Fehler in diesem Konzept: Bei den Kinderbelangen geht es um die Regelung eines Zustands – die provisorische Regelung gilt aber bis zum definitiven Entscheid endgültig. Denn das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.» Auch wenn sich der provisorische Entscheid als komplett falsch erweisen und nach einem Jahr aufgehoben würde, habe die entsprechende Regelung während dieses Jahres endgültig und unwiderruflich bestanden. Geiser: «Wenn es um die Regelung eines Zustands geht und nicht um eine Geldleistung, ist eine provisorische Verfügung in Wirklichkeit endgültig.» Das sei nicht nur in eherechtlichen Verfahren, sondern auch im Verfahren vor einer Kindesschutzbehörde «höchst problematisch und unbefriedigend».
Dazu kommt das Problem, dass Kinderbelange bei verheirateten Paaren im Eheschutz abgehandelt werden – wenn keine Scheidung ansteht. Der Eheschutz wird generell als vorsorgliche Massnahme behandelt, das Bundesgericht beschränkt seine Kognition. Laut Geiser lässt sich das dogmatisch zwar begründen. Aber eine andere Gesetzesauslegung wäre ebenso gut möglich.
Familiengericht soll zuständig sein
Das Bundesgericht regte in seinem Jahresbericht 2018 den Gesetzgeber an, eine einheitliche Lösung zu prüfen. Bereits bei der Revision des Erwachsenenschutzrechts wurde die Frage diskutiert, ob nicht ein Familiengericht vorzusehen wäre, welches alle familienrechtlichen Belange behandelt – unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind oder nicht. Diese Familiengerichte wären gleichzeitig Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde gewesen. Die Kantone wehrten sich vehement und erfolgreich gegen diesen Vorschlag. Sie sahen den Föderalismus und ihre Kompetenz zur Gerichtsorganisation gefährdet.
Einen neuen Anlauf nimmt nun die Motion 19.3478 «Kinder ernst nehmen» des Schwyzer SVP-Nationalrats Pirmin Schwander. Sie verlangt vom Bundesrat, in einem Bericht darzulegen, «wie die Beurteilung von Kinderbelangen schweizweit einheitlich geregelt werden kann und wie erreicht werden kann, dass alle Kinder vor Bundesgericht die gleichen Rechte haben, unabhängig vom Zivilstand der Eltern». Der Bundesrat nahm das Postulat im Juli 2019 an. Auf Anfrage heisst es im Bundesamt für Justiz, die Sache sei in Bearbeitung, man brauche noch etwas Zeit. Ein konkreter Termin sei noch nicht absehbar.
Welche Lösungen wären sinnvoll? Für Alexandra Jungo setzt ein einheitlicher Rechtsweg die Änderung der Artikel 315 und 315a ZGB voraus: «Für eine blosse Regelung von elterlicher Sorge, Obhut, Betreuung ist aus meiner Sicht nicht die Kesb erforderlich, da es nicht um die Gefährdung des Kindeswohls geht.» Hier solle laut Jungo das Zivilrecht, «am besten ein Familiengericht» zuständig sein. In Fällen «echten Kindesschutzes», wo es um eine Gefährdung des Kindeswohls und daher um Kindesschutzmassnahmen geht, solle stets die Kesb zuständig sein – unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet seien.
Yvo Biderbost ist Rechtsdienstleiter bei der Kesb Stadt Zürich. Auch er findet es unbefriedigend, wenn gleiche oder jedenfalls sehr vergleichbare Fälle unterschiedlich behandelt werden: «So ist der Rechtsschutz unterschiedlich.»
Auch Patrick Fassbind, Präsident Kesb Basel-Stadt sieht Handlungsbedarf: «Die sachfremden Differenzierungen zwischen verheirateten und ledigen Eltern sind nicht mehr länger haltbar.» In der Praxis komme es immer wieder zu Missverständnissen, Doppelspurigkeiten, Folge- und Parallelverfahren, Zeitverzögerungen, Ineffizienzen, Ungerechtigkeiten und komplexen Zuständigkeitsstreitigkeiten, die je nach Gerichtskreis, Kanton, Sprachregion und Rechtstradition anders gehandhabt würden.
Aufwertung der Kesb zu einem formalen Gericht
Für Fassbind ist unverständlich, weshalb für den Kindesunterhalt (also für das Geld) und für Vaterschaftsfragen (Statusfragen) nur den Gerichten Entscheidungskompetenzen zukommen, den interdisziplinären Kesb dies aber nicht zugetraut werde. Im Gegenzug habe die Kesb im Bereich von Eingriffen in die Persönlichkeit und das Familienleben (Platzierungen von Kindern) viel Schwerwiegenderes als Unterhaltungsfragen zu entscheiden. «Wo liegt die Konsistenz», fragt Fassbind, «wenn den Kesb im Erwachsenenschutz ungeachtet dessen die Kompetenz umfassende Eingriffe in das Vermögen und in die Handlungsfähigkeit von Personen zugestanden wird?» Unverständlich sei auch, dass Kinder je nach Ehestatus der Eltern unterschiedlich behandelt würden.
Der Basler Kesb-Präsident befürwortet eine einheitliche Zuständigkeit bei einem interdisziplinären Gericht sowie einheitliche Verfahrensbestimmungen bezüglich Kindesbelange und Kindesschutz. Ein solches Gericht wäre kantonal zu organisieren und für die notwendige Legitimation wie die heutigen Zivilgerichte zu bestellen. Die meisten Kesb sind heute Verwaltungsbehörden. Für die bestehenden weitreichenden Entscheidungskompetenzen sollten sie laut Fassbind besser als Gerichte im formellen Sinn ausgestaltet werden.