Sie wohnt in Olten und studiert in Luzern. Pendeln gehört für Fabiana Gervasoni zum Alltag. Sie studiert im siebten Semester Rechtswissenschaften. Das Studium bewältigt sie nicht auf die gleiche Art und Weise wie die meisten ihrer Studienkollegen. Die 25-Jährige leidet aneiner Cerebralparese, einer Bewegungsstörung. Sie kann nicht gehen, ungestützt sitzen oder schreiben. «Und an manchen Tagen verspannen sich meine Arm- und Beinmuskeln so sehr, dass ich es nicht schaffe, eine Wasserflasche zu öffnen.»
Trotz ihrer Bewegungsstörung kann Gervasoni studieren. Das verdankt sie nebst ihrem Eifer und ihrer Intelligenz vor allem auch dem Assistenzbeitrag von der IV. Damit kann sie persönliche Unterstützung finanzieren: Gervasoni hat Mitstudentin Zaira Zihlmann als Assistentin angestellt, die sie im Unialltag begleitet.
“Zaira kompensiert meine Hilfsbedürftigkeit”
Fallbearbeitung im Strafrecht, kurz nach acht Uhr. Professor Jürg-Beat Ackermann kommt gleich zur Sache: «Hat der Polizist gezielt geschossen?» Kein Student kann sich seinem fragenden Blick entziehen. Gervasoni und Zihlmann sind ein eingespieltes Team: Zihlmann macht sich auf dem Computer Notizen, schlägt für Gervasoni die Gesetzestexte nach, füllt auf Diktat von ihr Arbeitsblätter aus. Am Abend erhält Gervasoni die Notizen per E-Mail. «So kann ich die Vorlesung daheim nachbereiten», sagt sie.
Die zwei Frauen sind während der Vorlesungszeit von morgens bis abends zusammen unterwegs. «Zaira kompensiert meine Hilfsbedürftigkeit, das heisst, sie schöpft mein ausgewähltes Mittagessen, begleitet mich auf die Toilette, hilft beim Jackenanziehen.» Auch ihren Vorlesungsplan müssen sie aufeinander abstimmen. Das Dekanat sei da sehr entgegenkommend.
Zaira Zihlmann sagt: «Viele Hilfeleistungen sind für mich zur Routine geworden, wie die Türe aufhalten, die Stühle auf die Seite schieben oder manchmal auch eine Flasche aufmachen.»
«Ich brauche für alles einfach etwas mehr Zeit als andere», sagt Gervasoni. So auch für die Prüfungen: Die Fakultät gewährt ihr deshalb einen Nachteilsausgleich in Form von Zeitverlängerung und Assistenz bei der schriftlichen Prüfung. Sie diktiert einem Prüfungsassistenten die Antworten, auf einem Bildschirm sieht sie diese dann niedergeschrieben.
Fabiana Gervasoni will nach dem Studium die Anwaltsprüfung machen, «ob ich dann wirklich als prozessierende Anwältin tätig sein werde, wird sich zeigen».
An der Uni Luzern erhalten Studenten mit einer Behinderung «abgestimmt auf die spezifische Beeinträchtigung einen Nachteilsausgleich», sagt Stefan Bosshart, stellvertretender Fakultätsmanager der Universität Luzern. Mögliche Formen eines Nachteilsausgleichs sind intern in Richtlinien formuliert: Einsatz technischer Hilfsmittel bei Prüfungen, Zeitverlängerung bei Leistungsnachweisen, zusätzliche Pausen, separater Raum bei schriftlichen Prüfungen, Einsatz personeller Hilfen bei Prüfungen, Änderung von Präsenzpflichten oder Möglichkeit zum folgenlosen Rücktritt von Prüfungen bei akuten schwerwiegenden Beschwerden.
Unis Bern und St. Gallen: Individuelle Massnahmen
Nicht alle Universitäten kennen solche internen Richtlinien. An der Universität Bern zum Beispiel gibt es dafür kein spezielles Reglement, sagt Damian Schmid. Er ist für die Zulassung, Immatrikulation und Beratung an der Uni Bern zuständig. Bern orientiere sich am Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes. Schmid: «Nachteilsausgleiche sind sehr individuell. Ich gebrauche gerne den Vergleich Input–Output: Der Output muss der Gleiche sein. Jedoch können beim Input Anpassungen vorgenommen werden, beispielsweise Verlängerung der Prüfungszeit oder Schreiben der Prüfung in einem separaten Raum.»
In Bern sind 154 der 185 Hörsäle rollstuhlgängig. Zudem sind einige Räume mit Induktionsanlagen für Hörbehinderte ausgestattet. Sie ermöglichen es, akustische Signale drahtlos über das Hörgerät zu empfangen.
Auch an der Universität St. Gallen (HSG) ist es für Studenten mit einer Behinderung grundsätzlich möglich, einen Nachteilsausgleich zu erlangen. «Er wird individuell abgestimmt – je nach Ausgangssituation und spezifischen Bedürfnissen – und stellt die Chancengleichheit sicher», sagt Regula Dietsche von der Universität St. Gallen.
Severin Bischof ist von einer Muskelerkrankung betroffen und sitzt im Rollstuhl. Er machte an der HSG kürzlich seinen Doktor. Er erzählt von grossen baulichen Barrieren, die er am Anfang seines Studiums 2005 zu meistern hatte – aber auch von grosser Unterstützung aus seinem Umfeld an der Uni. «Seit den Renovationsarbeiten an der HSG ist das Studieren für Leute mit einer Behinderung viel einfacher geworden.» Früher habe sein Rollstuhl nicht in den Lift des Hauptgebäudes gepasst.
Die meisten Türen bringt er aber auch heute noch nicht selbst auf. Und die meisten Gebäude rund um die Universität, in denen die Professoren und ihre Assistenten untergebracht seien, sind noch nicht rollstuhlgängig. Ein Nachteil für Bischof: Als Assistent beim Lehrstuhl von Rainer J. Schweizer blieb ihm das Büro des Professors und das seiner Assistenzkollegen im Altbaugebäude verwehrt. «Wir trafen uns in Restaurants, um über die Arbeit zu sprechen», sagt Bischof.
Während des Studiums war er so auf den «Goodwill» seiner Mitstudenten und Professoren angewiesen. «Diese Bittstellerposition war mir manchmal sehr unangenehm.» Kommunikation sei deshalb sehr wichtig. «Man darf nicht zurückhaltend sein, man muss auf die Leute zugehen, dann klappt es viel einfacher.»
Uni Zürich: Kontaktnahme vor Studienbeginn
An der Universität Zürich ist die «Beratungsstelle Studium und Behinderung» für Studenten mit einer Behinderung zuständig. Olga Meier-Popa leitet die Stelle. Sie nimmt mit jedem Studenten, der mit einer Behinderung lebt, schon vor Studienbeginn Kontakt auf und erarbeitet im Voraus spezifische Hilfsangebote, damit eine Chancengleichheit entstehe. «Wir beraten, begleiten, coachen und vermitteln Informationen.» Ausserdem organisiere sie Unterstützung wie zum Beispiel Assistenzdienste. Die Fachstelle Studium und Behinderung war bei der Gründung 2006 die erste ihrer Art in der Schweiz.
Marino Rasera ist querschnittgelähmt und arbeitet heute als Auditor am Zürcher Bezirksgericht. Rasera hat in Zürich mit dem Lizentiat abgeschlossen. Fragt man ihn nach seinen Erfahrungen während des Studiums, lobt er die Universität. «Die Professoren waren sehr unkompliziert und stellten mir ihre Skripts als Datei zur Verfügung.» Ausserdem durfte er die Vorlesungen aufnehmen. Aus der Bibliothek konnte er manchmal die Bücher auch mit nach Hause nehmen.
Der 43-Jährige steuert seinen PC per Kopf. So schreibt er auch. Dafür hat er einen Computer, der zusätzlich mit einer speziellen Steuerung ausgerüstet ist. Für die Abschlussprüfungen brauchte Rasera statt fünf Stunden das Doppelte. Egal, wie gut die Universitäten für Studenten mit einer Behinderung ausgerüstet seien – letztendlich zähle die menschliche Komponente: «Studierende, die mich wahrnehmen und Hilfsbereitschaft zeigen.»