Geschuldet ist immer nur der «gebührende» Unterhalt. Unterhaltsansprüche richten sich nach drei Parametern, die miteinander zusammenhängen, aber jeder für sich alleine den Anspruch nach oben begrenzt: Die Lebensbedürfnisse, das Leistungsvermögen des Unterhaltsgläubigers und die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners.1
Ausgangspunkt bilden die Lebensbedürfnisse der beteiligten Familienmitglieder. Im Zusammenhang mit Unterhaltsforderungen findet aber eine Objektivierung statt, weil Gegenstand von Unterhaltsforderungen immer nur der gebührende Unterhalt sein kann. Dieser richtet sich einerseits nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Ehegatten 2 und andererseits nach dem individuellen Bedarf der Familienmitglieder, der nach Beruf, Gesundheit usw. unterschiedlich ausfallen kann. Das Ausmass der Bedürfnisse richtet sich aber nicht ausschliesslich nach den wirtschaftlichen Verhältnissen der Ehegatten. Entscheidend ist vielmehr die Lebenshaltung, für die sich die Partner einst gemeinsam entschieden.3
Meistens entspricht die Lebenshaltung den wirtschaftlichen Verhältnissen der Ehegatten. Es wird, unter Berücksichtigung einer meist bescheidenen Sparquote, in etwa ausgegeben, was eingenommen wird. Die Lebenshaltung entspricht den wirtschaftlichen Verhältnissen bei intakter Partnerschaft. Dieses Gleichgewicht kommt durcheinander, wenn sich die Partner trennen und dadurch zusätzliche Kosten entstehen. Dann stellt sich regelmässig die Frage, ob diese Zusatzkosten zulasten der Sparquote aufgebracht werden können oder ob beide Parteien wegen dieser zusätzlichen Kosten ihre Lebenshaltung senken müssen.4
Unterschiedliche Lebenshaltungen
Es ist aber auch möglich, dass die Parteien sich gemeinsam für eine Lebenshaltung entschieden, die tiefer ist, als was sie sich eigentlich leisten könnten. Und das kann durchaus vernünftig sein. Diesfalls kann es auch bezüglich Unterhaltsansprüchen nur um die Erhaltung dieser Lebenshaltung gehen. Ein Anspruch auf die in diesen Fällen hohen Sparquoten besteht nicht.5 Hier ist es regelmässig kein Problem, die durch eine Trennung verursachten Zusatzkosten aufzufangen.
Möglich ist aber auch, dass sich die Parteien für eine höhere Lebenshaltung entschieden, die nicht aus dem Einkommen finanziert werden kann. Die Ehegatten betrieben zum Beispiel eine verantwortungsbewusste Vorsorge durch Vermögensbildung und zehren dieses Vermögen für ihren Lebensunterhalt an.6 Es ist aber auch ohne weiteres möglich, dass sie – weniger vernünftig – beschlossen, einen hohen Lebensstandard auf Kosten ihres Vermögens zu führen oder gar mit Schulden zu finanzieren. Auch diese gemeinsame Entscheidung ist grundsätzlich bei der Festsetzung der Unterhaltsansprüche zu respektieren. Fraglich kann dann nur sein, wie lange eine solche Lebenshaltung aufrechterhalten werden kann. Im Eheschutz kann aber in der Regel an dieser Lebenshaltung festgehalten werden.
Die familienrechtlichen Unterhaltsansprüche berechnen sich grundsätzlich sowohl gläubiger- wie auch schuldnerseitig aufgrund des tatsächlich erzielten Einkommens. Reicht es zur Deckung des Lebensbedarfs nicht aus, ist dem Schuldner bei der Festsetzung des Unterhalts das Existenzminimum zu belassen.7
Wie bereits ausgeführt, kann ausnahmsweise für die Beurteilung der Leistungsfähigkeit auch auf das Vermögen zurückgegriffen werden. Neben dem bereits erwähnten Fall des Verbrauchs des dafür bestimmten Vorsorgevermögens ist ein Rückgriff auf Vermögen namentlich zumutbar, wenn dies für eine befristete Zeit notwendig ist, weil sich die Parteien auf neue Lebensumstände umstellen müssen. Das wird bei der Festsetzung im Eheschutzverfahren besonders häufig vorkommen. Mit der Regelung des Getrenntlebens im Eheschutz werden zwei unterschiedliche Zwecke verfolgt:
Zum einen geht es um die Regelung der familiären Verhältnisse in einer Krisensituation. Das Getrenntleben soll die Situation beruhigen, es ist vollständig offen, wie es später weitergehen soll.8
Namentlich mit der Scheidungsrechtsrevision hat der Eheschutz auch die Aufgabe erhalten, die Scheidung vorzubereiten. Weil eine Scheidung gegen den Willen des andern Partners von engen Ausnahmen abgesehen 9 nur nach zwei Jahren Trennungszeit möglich ist, dient Art. 176 ZGB der Regelung des Getrenntlebens für die Zeit, in der ein Ehegatte zur Scheidung fest entschlossen ist und es bereits feststeht, dass es zur Scheidung kommen wird. Es geht um die Frist, welche dem scheidungsunwilligen Ehegatten gewährt wird, um sich auf die neue Lage einzustellen. Es handelt sich praktisch um eine (relativ lange) Kündigungsfrist.10
Der erste Zweck gebietet, die Lebenssituationen beider Parteien so unverändert wie möglich zu belassen. Das bedeutet Mehrausgaben, weil zwei Haushaltungen teurer sind als eine und Einsparungen nicht opportun sind, weil keine bleibenden Veränderungen erfolgen sollen. Oft können die Kosten beim Partner, der das gemeinsame Domizil verlässt, nur sehr provisorisch berechnet werden. Seine Wohnsituation ist unangemessen, es musste schnell eine Lösung gefunden werden, die Wohnung ist zu klein oder viel zu teuer, da auf dem Markt kurzfristig nichts anderes zu finden war. Nötigenfalls ist auf das Vermögen zurückzugreifen oder es sind gar Schulden zu begründen.
Der zweite Zweck gebietet es, die anstehenden Veränderungen vorzubereiten. Veränderung ist zwar angezeigt, häufig aber nicht von einem Tag auf den anderen möglich. Auch hier ist ein zeitlich befristetes Zurückgreifen auf Vermögen ohne weiteres möglich. Im Gegensatz zur anderen Konstellation kann eine Befristung vorgesehen werden, und das wirtschaftliche Ziel ist festzulegen.
Meines Erachtens sind auch freiwillige Leistungen Dritter zum tatsächlichen Einkommen zu rechnen.11 Solche Zuwendungen erfolgen zweifellos, um die betroffene Person zu unterstützen – und nicht die andere Partei. Sie erhöhen jedoch zugleich die wirtschaftliche Leistungskraft der entsprechenden Partei. Damit sinkt die Notwendigkeit einer familiären Solidarität, namentlich auch nach einer Scheidung. Sind die Zahlungen erheblich, entstünde u.U. ein mit einer nachehelichen Solidarität nicht mehr zu vereinbarendes wirtschaftliches Ungleichgewicht, wenn diese Beträge bei den Unterhaltszahlungen unberücksichtigt blieben.
Häufig wird ausser Acht gelassen, dass freiwillige Zuwendungen sowohl zugunsten des Unterhaltspflichtigen als auch des -berechtigten erfolgen können. Die von der Rechtsprechung aufgestellte Regel muss jedoch für beide Fälle gleichermassen gelten. Daher ist es m.E. angebracht, solche Zuwendungen bei der Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen. Die Einstellung der Zahlungen ist selbstverständlich ein Grund für eine Anpassung der Unterhaltsleistungen, sofern sie auf Dauer erfolgt. Beweispflichtig ist jener Ehegatte, der die Einstellung der Zahlungen geltend macht. Gegebenenfalls ist der Dritte, der die Zahlungen geleistet hat, als Zeuge zu befragen, wie er es mit diesen Zahlungen künftig halten will. Wenn er das noch nicht weiss, ist die Dauerhaftigkeit der Änderung nicht erstellt.
Tatsächliches Einkommen
Bei der Festsetzung des Unterhalts ist immer vom tatsächlichen Einkommen der Parteien auszugehen.12 Massgeblich ist grundsätzlich das Nettoeinkommen. Darunter ist in erster Linie der Arbeitserwerb abzüglich der vom Arbeitnehmer zu entrichtenden Beiträge an die Sozialversicherungen zu verstehen. Abzuziehen sind gegebenenfalls auch obligatorische Sozialbeiträge aufgrund eines Gesamtarbeitsvertrages.
Unklarheiten können sich bei den Sozialabzügen ergeben, soweit diese freiwillig geleistet werden oder bei beiden Parteien stark ungleich ausgestaltet sind. Einzelne Unternehmen bieten ihren Angestellten zusätzliche Privatversicherungen im Bereich Unfall und Krankheit an. Zudem fragt sich, wie weit die Beiträge des Arbeitnehmers an Kollektivtaggeldversicherungen zu berücksichtigen sind. M. E. sollten all diese Beiträge immer und uneingeschränkt zum Abzug zugelassen werden, wenn sie mit der Arbeitgeberin vertraglich vereinbart und damit vom Arbeitnehmer nicht ohne Zustimmung der Arbeitgeberin aufgegeben werden können. Liegt es demgegenüber in der freien Entscheidung des Arbeitnehmers, diese Versicherungen aufzugeben, sind sie m.E. nicht zwingend abzugsberechtigt, jedoch gegebenenfalls beim Bedarf aufzurechnen.
Zum tatsächlichen Erwerbseinkommen gehören unregelmässig anfallende Gegenleistungen für die Arbeit. Das können – namentlich im Gastgewerbe – Trinkgelder 13 sein, variable Lohnbestandteile wie Umsatz- oder Gewinnbeteiligungen etc.14 oder sogenannte Boni.15 Zu berücksichtigen sind auch Gratifikationen.16 Zur Berechnung dieser Beträge ist jeweils eine Durchschnittsrechnung, nach Möglichkeit der letzten zwölf Monate, vorzunehmen. Dem unregelmässigen Anfall solcher Beträge kann gegebenenfalls bei der Fälligkeit der entsprechenden Unterhaltsbeträge Rechnung getragen werden. Es ist nicht einzusehen, warum der Unterhaltsbetrag zwölfmal geschuldet sein soll, wenn der Jahreslohn in 13 Raten ausbezahlt wird.
Übt ein Ehegatte eine selbständige Erwerbstätigkeit aus, ist das Einkommen regelmässig schwankend. Überdies muss das Reineinkommen errechnet werden. Als Einkommen gilt grundsätzlich der tatsächliche Reingewinn, der entweder als Vermögensstandsgewinn (Differenz zwischen dem Eigenkapital am Ende des laufenden und am Ende des vorangegangenen Geschäftsjahres) oder als Gewinn in einer ordnungsgemässen Gewinn- und Verlustrechnung ausgewiesen wird.17 Dieser Betrag kann von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich ausfallen. Da der Unterhalt für die Zukunft und regelmässig für längere Zeit festzusetzen ist, kann nicht einfach auf die aktuellen Ergebnisse des letzten Jahres abgestellt werden. Die Betrachtung mehrerer Perioden rechtfertigt sich auch deshalb, weil die Verflechtung zwischen dem Unternehmen und dem Privaten bei Selbständigerwerbenden meist eng ist. Zuverlässige Berechnungen sind nur möglich, wenn mehrere Jahresabschlüsse analysiert und verglichen werden. Sinnvollerweise wird auf das Durchschnittseinkommen der letzten drei Jahresabschlüsse abgestellt, wobei auffällige – besonders schlechte oder besonders gute – Abschlüsse unter Umständen wegzulassen sind.18 Zu prüfen ist immer, ob die Sozialleistungen bei diesen Abschlüssen schon berücksichtigt sind.
Zeigt sich ein klarer Veränderungstrend nach oben oder nach unten, sollte dieser Entwicklung Rechnung getragen werden. In welchem Ausmass darauf Rücksicht zu nehmen ist, hängt allerdings vom rechtlichen Zusammenhang ab, in dem der Unterhalt festgesetzt wird. Zudem gestaltet sich die Rechtslage nicht gleich, ob es um Veränderungen bei der pflichtigen oder bei der berechtigten Partei geht.
Handelt es sich um den Scheidungsunterhalt nach Art. 125 ff. ZGB, ist zu beachten, dass eine nachträgliche Erhöhung nur in ganz engem Rahmen möglich ist,19 während einer Herabsetzung wegen veränderten Verhältnissen nichts entgegensteht.20 Das spricht für eine grosszügige Berücksichtigung von mutmasslich künftigen Verbesserungen des Einkommens des Pflichtigen. Demgegenüber ist auf der Gläubigerseite grundsätzlich Zurückhaltung am Platz, weil eine spätere Herabsetzung der Rente ohne weiteres erfolgen kann, wenn sich beim Berechtigten eine dauernde Verbesserung des Einkommens einstellt. In jedem Fall sollte festgehalten werden, ob mögliche zukünftige Veränderungen schon bei der Festsetzung berücksichtigt worden sind oder nicht.
Demgegenüber kann beim Eheschutz und bei vorsorglichen Massnahmen im Scheidungsverfahren sehr wohl auf beiden Seiten auf das aktuelle Einkommen abgestellt werden, weil jederzeit eine Anpassung sowohl nach unten wie auch nach oben möglich ist.21 Das gilt auch für den Kinderunterhalt.
Einzubeziehen ist selbstverständlich auch der Vermögensertrag. Was darunter zu verstehen ist, ist allerdings nicht immer klar. Schon bei Liegenschaften kann streitig sein, was an Unterhalt vom Rohertrag abzuziehen ist. Bei Unternehmen führt die Berechnung des Gewinns regelmässig zu Streitigkeiten. Aber auch bei einer Anlage in Wertpapieren ist unklar, ob es auf die Performance oder ausschliesslich auf den Dividendenertrag ankommt. Bei Letzterem ist zusätzlich neu die Frage aufgetaucht, wie es sich mit Ausschüttung von Agio und Kapitalrückzahlungen verhält.
Soweit Veränderungen – namentlich Aufnahme oder Ausbau einer Erwerbstätigkeit – vorgesehen sind, geht es immer um ein hypothetisches Einkommen: Das Einkommen ist also noch nicht erzielt. Vielmehr wird es mutmasslich nach Eintritt der entsprechenden Veränderung erzielt. Bloss hypothetisch sind in diesen Fällen häufig auch die Unkosten. Wenn ein Ehegatte die Wohnung verlassen und sich eine neue Wohnung suchen muss, kann nur eine mutmassliche Miete eingesetzt werden, nicht die wirklich bezahlte.
Beim Eheschutz und den vorsorglichen Massnahmen im Scheidungsverfahren ist das kein Problem, weil eine Anpassung jederzeit möglich ist, wenn sich die Annahmen als unrealistisch erweisen. Wird von hypothetischem Einkommen gesprochen, geht es regelmässig nicht um diese Fälle.
Hypothetisches Einkommen
Reichen die tatsächlichen Einkommen nicht aus, um den gebührenden Unterhalt zu decken, ist bei beiden Parteien zu prüfen, ob es sich allenfalls rechtfertigt, auf ein höheres als das tatsächlich vorhandene Einkommen abzustellen. Es stellt sich die Frage nach einem hypothetischen Einkommen. Selbstverständlich ist immer auch zu prüfen, ob auf der Ausgabenseite Reduktionen möglich sind. Das ist aber hier nicht das Thema.
Damit ein hypothetisches Einkommen angerechnet werden kann, müssen grundsätzlich zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die zur Erzielung dieses Einkommens notwendigen Anstrengungen müssen zumutbar und möglich sein.22 Beide Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.23
Ob bestimmte zusätzliche Anstrengungen zumutbar sind, ist eine Rechtsfrage.24 Es geht um eine Wertung, welche aufgrund der gesamten Umstände vorzunehmen ist. Ausgangspunkt bildet der Entscheid, ob bezüglich der bisherigen Lebensumstände Vertrauensschutz zu gewähren ist oder eine Veränderung zuzumuten ist. Die Interessen des Abänderungswilligen sind gegen jene des von der Abänderung Betroffenen nach Treu und Glauben abzuwägen.25
Den heutigen Verhältnissen entspricht es wohl nicht mehr, von einem geschützten Vertrauen auf eine einmal gemeinsam festgelegte Aufgabenteilung auszugehen. Insofern erscheint die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit einem im Erwerbsleben stehenden Ehegatten grundsätzlich immer als zumutbar, soweit ihn nicht Betreuungsaufgaben oder besondere persönliche Umstände wie Krankheit oder Invalidität daran hindern.
Heikler ist jeweils die Frage des Umfangs und der Art der Tätigkeit. Dabei geht es weniger um die Frage, ob eine Vollzeit- oder Teilzeitstelle zumutbar ist, sondern vielmehr um die Intensität der Arbeit. Das Recht definiert ohnehin nicht, was eine Vollzeit- und was eine Teilzeitstelle ist. Entscheidender ist die Frage, ob unregelmässige Arbeitszeiten, Nacht- und Sonntagsarbeit, lange Arbeitswege etc. zumutbar sind. Zudem muss geprüft werden, ob ein Wechsel der Arbeit zumutbar ist. Kann beispielsweise einem wenig verdienenden Künstler oder einer Lehrerin mit einer schlecht bezahlten Stelle in einer Privatschule zugemutet werden, die Stelle oder gar die Tätigkeit zu wechseln, um mehr zu verdienen? Das lässt sich regelmässig nur im Einzelfall bestimmen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass einer Erwerbstätigkeit nur bis zum Rentenalter nachzugehen ist. Allerdings können konkrete Umstände im Einzelfall eine andere Entscheidung rechtfertigen. Überdies geht in den letzten Jahren die politische Diskussion in Richtung flexibles
Rentenalter. Das muss sich konsequenterweise auf die Unterhaltsregelungen sowohl schuldner- wie auch gläubigerseitig auswirken.
Ob ein höheres Einkommen tatsächlich erzielt werden könnte, ist keine Rechts-, sondern eine Tatfrage. Insoweit können kantonale Entscheide nur auf Willkür hin vom Bundesgericht überprüft werden.26 Allerdings hängt die Möglichkeit teilweise von Erkenntnissen aus der allgemeinen Lebenserfahrung ab. Schlussfolgerungen tatsächlicher Natur, die unabhängig von den Besonderheiten des konkreten Falls auf allgemeiner Lebenserfahrung beruhen, sind jedoch Rechtsfragen, und das Bundesgericht kann die Folgerung überprüfen.27 Namentlich können Lohnstatistiken verwendet werden. Diese müssen dann allerdings auf den konkreten Fall angepasst werden, was dann aber nicht mehr Rechts-, sondern Tatfrage ist.
Bis anhin hat das Bundesgericht das Erfordernis, ein entsprechendes Einkommen erreichen zu können, streng angewandt, auch wenn der Schuldner seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit rechtsmissbräuchlich verminderte. Es verweigerte den Unterhalt, soweit der Schuldner die dafür notwendigen Mittel nicht aufbringen konnte, selbst wenn er die Unmöglichkeit rechtsmissbräuchlich verschuldet hatte. Das Bundesgericht hielt fest: «Selbst bei Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit in Schädigungsabsicht darf dem rechtsmissbräuchlich handelnden Ehegatten ein hypothetisches Einkommen nur angerechnet werden, wenn er die Verminderung seiner Leistungskraft rückgängig machen kann.» 28 Ein Teil der Lehre hatte diese Haltung schon lange kritisiert, ein anderer Teil der Lehre begrüsste den Entscheid.29 In nachfolgenden Entscheiden deutete das Bundesgericht an, jedenfalls bei Abänderungsbegehren diese Rechtsprechung eventuell zu ändern.30
Nun ist das Bundesgericht in einem neusten Entscheid von seiner bisherigen Rechtsprechung ausdrücklich abgerückt. Im konkreten Fall hat es im Rahmen des Eheschutzes einen Ehegatten, der rechtsmissbräuchlich seine Arbeitslosigkeit in einer Situation erwirkt hatte, in der keinerlei Aussicht auf eine neue Stelle mit entsprechendem Verdienst bestand, zur Zahlung von Unterhalt aufgrund eines hypothetischen Einkommens verpflichtet.31 Damit begibt sich die Rechtsprechung allerdings auf einen gefährlichen Pfad. Eine Pfändung von hypothetischem Einkommen ist nicht möglich.
Grundlage der Rentenberechnung
Wird beim Schuldner oder beim Unterhaltsgläubiger ein hypothetisches Einkommen zugerechnet, gibt es mehr oder weniger Unterhaltsleistungen. Auch wenn die Grundregeln in beiden Fällen die gleichen sein sollten, sind die Wirkungen unterschiedlich. Wird dem Gläubiger ein hypothetisches Einkommen angerechnet und werden deshalb die Unterhaltsleistungen gekürzt, ist die Sache rechtlich erledigt. Eine weitergehende Umsetzung bzw. Durchsetzung ist nicht notwendig. Erfolgt die Herabsetzung nicht rückwirkend, was bei einem hypothetischen Einkommen selten sein wird, bestehen auch keine Rückforderungen bereits erbrachter Leistungen.
Wird dem Pflichtigen ein hypothetisches Einkommen angerechnet und deshalb die Unterhaltspflicht höher angesetzt, stellt sich die Frage der Durchsetzung. Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf diese Sachverhaltsvariante.
Der Unterhalt kann immer nur mit tatsächlich vorhandenen Mitteln bezahlt werden, nicht mit hypothetischen. Dient die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens auf Seiten des Schuldners nur dazu, die Aufteilung des tatsächlichen Einkommens zu beeinflussen, bereitet die Erfüllung keine Schwierigkeiten. Der Gläubiger erhält einen grösseren Anteil des vorhandenen Einkommens und dem Schuldner bleibt weniger von seinem Einkommen. Reicht das vorhandene Einkommen dafür nicht aus, ist aber Vermögen vorhanden, so kann der Unterhalt aus dem Vermögen bezahlt werden. Auch da ergeben sich für die Erfüllung keine besonderen Probleme. Allenfalls können Verzögerungen entstehen, wenn das Vermögen nicht liquid ist.
Werden Unterhaltsleistungen nicht bezahlt, kann der Gläubiger den Schuldner betreiben. Gepfändet werden können immer nur tatsächlich vorhandene Vermögenswerte. Ein hypothetisches Einkommen kann nicht gepfändet werden. Die Pfändung bezieht sich folglich immer nur auf das Vermögen und das tatsächlich vorhandene Einkommen.
Während dem Schuldner bei der Festsetzung des Unterhalts das Existenzminimum zu belassen ist, kann bei der Durchsetzung des festgelegten Unterhaltsanspruchs ins Existenzminimum eingegriffen werden.32 Gemäss Art. 93 Abs. 1 SchKG kann das Einkommen so weit gepfändet werden, als es «nach dem Ermessen des Betreibungsbeamten für den Schuldner und seine Familie nicht unbedingt notwendig» ist. Da der Unterhaltsgläubiger im Sinne dieser Bestimmung zur Familie gehört, sind seine Existenzbedürfnisse mitzuberücksichtigen. Damit wird der Eingriff ins Existenzminimum des Schuldners möglich. Dieser Eingriff ist aber nur proportional zum Existenzminimum des Gläubigers und damit nur beschränkt möglich.
Soll ins Existenzminimum eingegriffen werden, muss das Betreibungsamt somit nicht nur die wirtschaftliche Situation des Schuldners, sondern auch jene des Unterhaltsgläubigers klären. Der Eingriff ins Existenzminimum trifft dann immer beide Parteien. Kann der Unterhaltsgläubiger sein Existenzminimum auch ohne diese Unterhaltszahlungen selber decken, ist der Eingriff ins Existenzminimum bei der Betreibung nicht möglich.
Fraglich kann in diesen Fällen erscheinen, ob nicht geprüft werden sollte, ob der Unterhaltsgläubiger weitere Anstrengungen anstellen kann, um seinen eigenen Notbedarf zu decken, und ihm insofern ein hypothetisches Einkommen anzurechnen wäre. Das ist aber keinesfalls Aufgabe des Betreibungsamtes. Vielmehr müsste dies dann in einem Zivilprozess auf Abänderung der Unterhaltsverpflichtung erfolgen.
Reichen die Mittel nicht aus, um die Schuld zu decken, sind Verlustscheine auszustellen. Die entsprechende Forderung kann jederzeit wieder geltend gemacht werden. Erklärt der Schuldner seine Insolvenz, sodass ein Privatkonkurs durchgeführt wird, läuft die Unterhaltsschuld weiter, weil sie immer neu entsteht. Das Stammrecht wird – im Gegensatz zu allen anderen Forderungen – nicht in den Konkurs einbezogen. Für die aufgelaufenen Unterhaltsschulden ist aber ein Konkursverlustschein auszustellen. Die entsprechenden Forderungen können erst wieder geltend gemacht werden, wenn der Schuldner zu neuem Vermögen kommt.33
Für die Bevorschussung von nicht bezahlten Unterhaltsverpflichtungen verweist das ZGB auf das kantonale öffentliche Recht.34 Die Kantone regeln, bis zu welchem Betrag und unter welchen Umständen eine Bevorschussung zu erfolgen hat. Entsprechend bestimmt auch der Kanton, ob Vorschüsse weiter bezahlt werden, wenn die Beträge beim Schuldner mangels genügender Aktiven gar nicht eingebracht werden können.
Soweit der Kanton eine Bevorschussung unabhängig von der Einbringbarkeit der Beträge auf Dauer gewährt, führt die Erhöhung der Unterhaltsbeiträge aufgrund eines nicht erreichbaren hypothetischen Einkommens zu einer eigentlichen staatlichen Kinderrente. Zu beachten ist, dass das Gemeinwesen bei einer Herabsetzung des Unterhaltsbeitrags mitwirken muss, wenn es die Bevorschussung der Rente beschlossen hat.35 Begründet wird dies mit der Legalzession des Unterhaltsanspruchs, wenn das Gemeinwesen für den Unterhalt aufgekommen ist.
Die Argumentation des Bundesgerichts ist allerdings nicht ganz nachvollziehbar. Soweit die Herabsetzung rückwirkend verlangt wird, sodass bereits vom Gemeinwesen ausgerichtete Unterhaltsleistungen betroffen sind, ist dem Bundesgericht ohne weiteres zu folgen. Wenn es aber um künftige Unterhaltsleistungen geht, kann das Gemeinwesen unter dem Gesichtswinkel der Bevorschussung nur ein Interesse an der Herabsetzung der Unterhaltsbeträge haben, da es sie höchstens bis zum Betrag der festgesetzten Unterhaltsleistung bevorschussen kann. Je tiefer dieser ist, desto weniger muss bevorschusst werden. Warum sich das Gemeinwesen unter diesem Gesichtspunkt gegen eine Herabsetzung wehren soll, ist damit nicht ersichtlich.
Zahlungsunfähiger Schuldner
Kann der Schuldner den Unterhalt nicht bezahlen, weil dieser aufgrund eines hypothetischen Einkommens festgesetzt worden ist, welches der über kein weiteres Vermögen verfügende Schuldner gar nicht erzielen kann, führt die Unterhaltsregelung zur Anhäufung von Schulden. Gleichzeitig sammelt sich beim Gläubiger eine offene Forderung an, die zu seinem Vermögen gehört und grundsätzlich von Dritten gepfändet werden könnte.
Strafrechtlich kann der Schuldner wegen der Nichtbezahlung der Unterhaltsforderungen nicht belangt werden, da er nachweislich nicht «über die Mittel dazu verfügt oder verfügen könnte», was Tatbestandsvoraussetzung ist.36
Unterhaltsforderungen können – soweit nicht vertraglich anders vereinbart – 37 grundsätzlich immer abgeändert werden, wenn sich die Verhältnisse geändert haben. Die Änderung muss erheblich und grundsätzlich dauernd sein. Das gilt sowohl für den ehelichen Unterhalt 38 als auch für eine Scheidungsrente 39 und den Kinderunterhalt.40 Zu beachten ist, dass der Eheschutzentscheid und die Anordnung vorsorglicher Massnahmen bezüglich des Unterhalts nur beschränkt in materielle Rechtskraft erwachsen. Eine Abänderung ist auch möglich, wenn sich nachträglich die tatsächlichen Umstände, die dem Eheschutz- oder Massnahmenentscheid zugrunde lagen, als unrichtig erwiesen oder sich der Entscheid im Ergebnis als nicht gerechtfertigt herausstellt, weil dem Gericht die Tatsachen nicht zuverlässig bekannt waren.41 Demgegenüber besteht sehr wohl eine Bindung an den Entscheid, wenn sich das Gericht auf zutreffende Tatsachen abgestützt, aber eine unangemessene oder falsche Würdigung vorgenommen hat.42
Nicht zu berücksichtigen sind Veränderungen, welche bereits im Zeitpunkt des ersten Entscheids vorauszusehen waren und darin berücksichtigt worden sind.43 Da es sich dabei um zwei unterschiedliche Voraussetzungen handelt, sollte im Entscheid bezüglich vorhersehbarer Änderungen immer festgehalten werden, ob sie berücksichtigt worden sind oder nicht. Soweit ein hypothetisches Einkommen aufgerechnet worden ist, ergibt sich die Berücksichtigung aus der Natur der Sache. Fraglich kann allerdings erscheinen, ob eine wirtschaftliche Verbesserung auch dann als bereits mit der Aufrechnung eines hypothetischen Einkommens erfasst angesehen werden kann, wenn sie auf einen vollständig anderen Tatbestand zurückzuführen ist.44 M.E. sollte dies bejaht werden. Es kommt auf das wirtschaftliche Ergebnis an, nicht auf den Grund.
Soweit die Veränderungen das tatsächliche Einkommen betreffen, ist der Nachweis der Veränderung relativ einfach. Schwieriger ist der Nachweis beim hypothetischen Einkommen. Die persönlichen oder die wirtschaftlichen Grundlagen, aufgrund deren das hypothetische Einkommen berechnet worden ist, können sich verändern. Wurde beispielsweise aufgrund der Lohnstatistik für einen bestimmten Beruf von einem bestimmten hypothetischen Einkommen ausgegangen, ist es möglich, dass dieser Beruf einige Jahre später nicht mehr nachgefragt wird und damit die entsprechenden Einkommen und Möglichkeiten, eine Stelle zu finden, massiv abgenommen haben. Kann jene Partei, welche die Abänderung beantragt, eine entsprechende Änderung nachweisen, muss auch die Anpassung möglich sein. Dasselbe gilt für eine wesentliche und bleibende Veränderung der Verhältnisse. Zu beachten ist schliesslich, dass nach der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung eine Abänderung ausgeschlossen ist, wenn die Sachlage durch eigenmächtiges, widerrechtliches, mithin rechtsmissbräuchliches Verhalten herbeigeführt worden ist.45
Treten Veränderungen während eines Verfahrens ein, fragt sich, wann und wie sie geltend zu machen sind. Nicht nur in der Scheidung selber, sondern auch im Eheschutzverfahren und bei vorsorglichen Massnahmen während des Scheidungsverfahrens können die Ehegatten den Unterhalt aufgrund einer vom Gericht genehmigten Konvention regeln.46 Damit können die Parteien Ungewissheiten bezüglich der beurteilungsrelevanten Tatsachen oder deren rechtlicher Tragweite bereinigen.47
Soweit in der Vereinbarung die vollständige gerichtliche Beurteilung der Tatsachen und ihrer rechtlichen Tragweite vermieden werden sollte, bleiben die betreffenden Teile der Regelung grundsätzlich unabänderlich.48 Daraus schliesst das Bundesgericht, dass eine solche im Eheschutzverfahren vereinbarte Eheschutzmassnahme nur unter den gleichen Restriktionen, wie sie die Rechtsprechung für die Scheidungskonventionen umschrieben hat, abgeändert werden kann.49 Die Anpassung setzt erhebliche tatsächliche Änderungen des Sachverhalts voraus, die zum Zeitpunkt der Vereinbarung als feststehend angesehen wurden.
Soweit demgegenüber die entsprechenden Sachverhaltsumstände vergleichsweise definiert wurden, um die Unsicherheit über eine Sachlage zu beseitigen,50 hat das Bundesgericht die Anpassung auch bei Veränderungen nunmehr ausgeschlossen. Vorzubehalten sind Veränderungen, mit denen die Parteien nicht rechnen konnten.51
Nicht geklärt ist damit das Verhältnis solcher Vereinbarungen zu Art. 277 ZPO. Nach dieser Bestimmung gilt für die güterrechtliche Auseinandersetzung und den nachehelichen Unterhalt der Verhandlungsgrundsatz. Für die Festsetzung des ehelichen Unterhalts hat das Gericht aber den Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen.52 Das öffnet wohl nicht die Türe zu einer einfacheren Abänderbarkeit des mit einer Vereinbarung festgelegten Unterhalts, schränkt aber die Möglichkeiten ein, diesen zu vereinbaren. Das Gericht hat bei der Prüfung der Konvention mit Bezug auf den ehelichen Unterhalt den Sachverhalt von Amtes wegen zu klären und darf sich nicht bloss auf die übereinstimmenden Sachverhaltsfeststellungen der Parteien stützen. Der Untersuchungsgrundsatz hat mit der nunmehr vom Bundesgericht festgehaltenen Einschränkung der Abänderbarkeit bei der Genehmigung einer entsprechenden Konvention an Bedeutung gewonnen.
Unterhaltsregelungen müssen in der einen oder anderen Weise dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Umstände bei einem auf Dauer angelegten Rechtsverhältnis ändern können. Entsprechend geniessen solche Entscheidungen immer nur eine beschränkte materielle Rechtskraft. Unterhaltsregelungen unterliegen im Gegensatz zur güterrechtlichen Auseinandersetzung und dem Vorsorgeausgleich immer in einem gewissen Umfang dem Abänderungsvorbehalt.53 Da aber schon die Verfahren zur erstmaligen Festsetzung des Unterhalts lange dauern können, muss abgegrenzt werden, welche Veränderungen in den tatsächlichen Verhältnissen noch im hängigen Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen sind und welche zu einer Abänderung des einmal festgesetzten Unterhalts in einem neuen Verfahren führen. Die Antwort auf diese Frage liegt im Zusammenspiel zwischen dem materiellen Recht und dem Prozessrecht. Neue Vorbringen, mit denen in einem Unterhaltsprozess geänderte Verhältnisse behauptet und belegt werden, dürfen nicht einfach in ein Abänderungsverfahren verwiesen werden. Sie sind vielmehr im Scheidungsverfahren zu prüfen und zu berücksichtigen, sofern sie nach den Regeln über das Novenrecht54 noch rechtsgültig vorbringbar sind.55 Entsprechend können veränderte Verhältnisse im Abänderungsprozess nicht geltend gemacht werden, wenn und soweit sie bereits im Prozess zur Festsetzung des Unterhalts hätten geltend gemacht werden können.56
Geht es um eine Veränderung, die vor dem Urteil eingetreten, aber erst nachher bekannt geworden ist, kann sie nur noch im Rahmen einer Revision nach Art. 328 Abs. 1 lit. a ZPO geltend gemacht werden. Damit ist auch in der Revision die Geltendmachung von Tatsachen und Beweismitteln ausgeschlossen, die erst nach Beginn der oberinstanzlichen Beratung entstanden sind. Die in Art. 328 Abs. 1 lit. a Satz 2 ZPO enthaltene Formulierung, wonach Tatsachen und Beweismittel, «die erst nach dem Entscheid entstanden sind», als Revisionsgrund ausgeschlossen sind, bezieht sich, wie das Bundesgericht festgestellt hat,57 nur auf Tatsachen, die nach dem Zeitpunkt entstanden sind, in dem sie nach den anwendbaren Verfahrensregeln im früheren Verfahren zum letzten Mal vorgebracht werden konnten – im Berufungsverfahren also nach Beginn der Beratungsphase. Die Grenze ist damit zwischen Tatsachen zu ziehen, welche im ersten Verfahren selber oder mit einer Revision dieses Verfahrens hätten vorgebracht werden können – und solchen, bei denen das nicht möglich war. Nur Letztere können Gegenstände eines Abänderungsprozesses sein.58 Das heisst umgekehrt, dass die anderen Veränderungen im ursprünglichen Verfahren, gegebenenfalls mit einer Berufung bzw. mit einem Revisionsbegehren vorgebracht werden müssen und vom Gericht nicht in einen Abänderungsprozess verwiesen werden dürfen.59
Gefahren der neuen Rechtsprechung
Verfügt der Schuldner nicht über weiteres Vermögen, wird der Gläubiger, dem aufgrund eines hypothetischen Einkommens des Schuldners Unterhalt zugesprochen worden ist, vom Schuldner nur so weit etwas erhalten, als das tatsächliche Einkommen dafür ausreicht. Aus dem hypothetischen Einkommen erhält er nichts. Allenfalls kann er vom Staat über die Bevorschussung weitere Beträge erhalten.60 Das wird regelmässig die Betreibung des Schuldners und damit weitere Umtriebe voraussetzen.
Soweit die Unterhaltsbeiträge nicht durch den Schuldner oder den Staat geleistet werden, steht dem Gläubiger weiterhin eine Forderung zu. Seinem Vermögen sind folglich Guthaben zuzurechnen, deren Wert von der Wahrscheinlichkeit abhängt, sie jemals eintreiben zu können. Ist der Unterhalt nur befristet geschuldet und wird er teilweise bezahlt, können die Ausstände später mit grosser Wahrscheinlichkeit noch eingetrieben werden. Die Forderungen haben damit einen Wert. Sie sind gegen Entgelt abtretbar. Das Vermögen des Gläubigers nimmt folglich laufend zu. Das hat seine Auswirkungen auf Steuern, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe und weitere Bereiche mit Sozialtarifen. Bei den Steuern stellt sich vorab die Frage, welcher Steuerperiode Unterhaltsleistungen zuzurechnen sind, die nicht periodengerecht ausgerichtet werden. Sinnvollerweise werden sie jener Periode zugerechnet, in der sie tatsächlich bezahlt werden, und es wird nicht auf die Fälligkeit abgestellt.61
Zudem fragt sich, ob die aufgelaufenen Forderungen bei der Vermögenssteuer zu berücksichtigen sind. Und es fragt sich weiter, wie diese Beträge zu versteuern sind. Diesbezüglich sind drei Betrachtungsweisen möglich:62
b In Analogie zu Unterhaltsleistungen in Kapitalform wird die verspätete Zahlung beim Gläubiger nicht besteuert und der Schuldner kann sie nicht von seinem Einkommen abziehen.
b Es wird eine Analogie zu Leistungen und Einkäufen in eine Pensionskasse gemacht und der Gläubiger versteuert die Beträge in der Periode, in der er sie erhält, nur zum Kapitalzinssatz. Der Schuldner kann sie dafür von seinem Einkommen vollständig abziehen.
b Es wird eine Lücke im Gesetz angenommen, welche das Gericht in freier Rechtsfindung ausfüllt. Die Leistungen werden beim Schuldner vollständig zum Einkommen des Jahres gerechnet, in dem die Zahlung erfolgt, und der Schuldner kann sie auch in diesem Jahr vollständig von seinem Einkommen abziehen. Bezüglich Steuersatz werden diese Beträge aber nur annualisiert berücksichtigt, d.h. nur ein Jahresbetreffnis.
Die dritte Variante ist wohl die angemessenste. Wenn Gläubiger und Schuldner nicht im gleichen Kanton leben, ist es möglich, dass die jeweiligen Steuerbehörden unterschiedliche Betrachtungsweisen anwenden. Das kann zu einer doppelten Besteuerung führen oder dazu, dass der Schuldner die Beträge vom Einkommen abzieht und der Gläubiger sie nicht versteuert. Das Doppelbesteuerungsverbot führt hier nicht zu einer Harmonisierung, weil es um zwei verschiedene Steuersubjekte geht und gar keine Doppelbesteuerung vorliegen kann.
Kann der Schuldner nach der Aufrechnung eines nicht erzielbaren hypothetischen Einkommens seinen Verpflichtungen nicht nachkommen, kommt er aus der Betreibung nicht heraus. Es entstehen dauernd neue Forderungen. Damit sind alle sich bei anderen Schulden ergebenden Beschränkungen der Vollstreckbarkeit – Befristung der Pfändung auf ein Jahr, Möglichkeit eines Privatkonkurses – bezüglich des laufenden Unterhalts nicht gegeben. Es wird sich weisen, ob die neue Rechtsprechung nur im Rahmen des Eheschutzes und damit einer noch relativ einfach abänderbaren Regelung gilt oder auch für den nachehelichen und damit unter Umständen lebenslangen Unterhalt gelten soll. Welche Probleme sich bei den Steuern ergeben können, wurde bereits dargelegt.
Bleiben die Unterhaltsschulden unbezahlt, werden sie unter Umständen von den Erben zu begleichen sein. Häufig werden die Ansprüche dann aber verjährt sein, was inzwischen auch bei Verlustscheinen möglich ist.63
Die neue Rechtsprechung, die es erlaubt, bei mutwilliger Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage ein hypothetisches Einkommen auch dann anzurechnen, wenn dieses gar nicht erzielt werden kann, birgt grosse Gefahren und ist nicht wirklich sinnvoll. Es geht nicht um die Bestrafung einer Partei, sondern um die Lösung eines wirtschaftlichen Problems. Einer Partei Nachteile zuzufügen, welche der anderen keinen wirtschaftlichen Vorteil bringen, ergibt keinen Sinn. Das ist Rache und nicht Problemlösung. Die Praxis wird sinnvollerweise differenzieren müssen, ob eine lang dauernde Rentenverpflichtung oder nur eine zeitlich befristete zur Diskussion stehen. Bei Letzteren kann die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens wirtschaftlich sinnvoll sein, weil später eine Erfüllung möglich erscheint. Von daher lässt sich die neue Rechtsprechung im Bereich des Kinderunterhalts und des Eheschutzes bzw. der vorsorglichen Massnahmen rechtfertigen. Beim nachehelichen Ehegattenunterhalt kommt es darauf an, ob er befristet ist oder lebenslang bezahlt werden soll. Allerdings wird nachehelicher Unterhalt – auch befristet – selten zugesprochen. 2001 wurden letztmals entsprechende Angaben bei den Gerichten erhoben. Es zeigte sich, dass nur in 28 Prozent der Scheidungen nachehelicher Unterhalt zugesprochen wurde! Mit Blick auf den Ausbau des Kinderunterhalts dürfte die Zahl in Zukunft weiter zurückgehen und die Scheidungsrente statistisch bedeutungslos werden.
Es gibt für die Fälle, in denen ein Unterhaltsschuldner absichtlich seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit so vermindert, dass er sie nicht mehr steigern kann, sinnvollere Lösungen als die Aufrechnung eines hypothetischen Einkommens. Richtigerweise wird ein solches Verhalten als Grund angesehen, das vorhandene Einkommen stärker zugunsten der anderen Partei aufzuteilen und gegebenenfalls auch dafür auf das Vermögen zurückzugreifen. Damit wird dem Schuldner wegen seines Fehlverhaltens ein grösseres Opfer auferlegt, was sich ohne weiteres rechtfertigt. Von ihm aber etwas zu verlangen, das nicht möglich ist, nützt dem anderen nichts und beschädigt die Glaubwürdigkeit der Rechtsordnung. Das Recht darf von seinen Bürgern nichts Unmögliches verlangen. Zudem ist der Schuldverhaft seit Erlass der Bundesverfassung von 1874 in der Schweiz abgeschafft.64
Heinz Hausheer / Anette Spycher, Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 2010, Rz. 01.15; Heinz Hausheer / Thomas Geiser / Regina E. Aebi-Müller, Das Familienrecht des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, Bern 2018, Rz. 8.08 ff.
BGE 114 II 393, E.4,
114 III 83, E.3a.
Hausheer / Geiser / Aebi-Müller, a.a.O., Rz. 8.08 ff.; Bernhard Isenring / Martin A. Kessler, «Art. 163 ZGB», in: Heinrich
Honsell / Nedim Peter Vogt /
Thomas Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar, 5. Auflage, Basel 2014, N. 21 ff.; BGE 119 II 314, E.4b/aa; BGE 118 II 376, E.3;
aus dem Entscheid des Obergerichts Zürich: ZR 1992/1993, 81.
BGE 119 II 314, E. 4b/aa.
Hausheer / Geiser / E. Aebi-Müller, a.a.O., Rz. 8.10;
BGE 114 II 26, E. 8.
Heinz Hausheer / Rolf Brunner, «Gerichtliche Festsetzung des ehelichen Unterhalts», in: Heinz Hausheer / Annette Spycher (Hrsg.), Handbuch des Unterhaltsrechts, Bern 2010, Rz. 03.82 und 03.146;
BGE 135 III 66; 141 III 403, E.4.1;
Hausheer / Geiser / Aebi-Müller, a.a.O., Rz. 10.100.
Heinz Hausheer / Ruth Reusser /Thomas Geiser, Berner Kommentar, 1999, Art. 175 ZGB N. 5 f.
Art. 115 ZGB.
Ivo Schwander, «Art. 175 ZGB»,
in: Heinrich Honsell / Nedim Peter Vogt / Thomas Geiser (Hrsg.),
Basler Kommentar, 5. Auflage, Basel 2014, N. 3.
Hausheer / Geiser / Aebi-Müller, a.a.O., Rz. 01.44 ff.
BGE 137 III 118, E. 2.3.
Thomas Geiser / Roland Müller /
Kurt Pärli, Arbeitsrecht in der Schweiz, Bern 2018, Rz. 375; zu beachten ist, dass
Trinkgelder nicht immer aus den Lohnausweisen und den Steuerveranlagungen ersichtlich sind.
Art. 322 ff. OR.
Geiser / Müller / Pärli, a.a.O.,
Rz. 403 ff.
Art. 322d OR.
BGE 143 III 620, E. 5.1.
BGE 143 III 620, E. 5.1.
Art. 129 Abs. 3 ZGB.
Art. 129 Abs. 1 ZGB.
Vgl. BGE 143 III 617 ff.
BGE 137 III 118, E. 2.3.
BGE 143 III 235, E. 3.2.
BGE 143 III 235, E. 3.2;
137 III 118, E. 2.3;
128 III 7;
126 III 12 f.; Isenring / Kessler, a.a.O., Art. 163 ZGB N. 25.
Vgl. Hausheer / Geiser / Aebi-Müller, a.a.O., Rz. 06.13 ff.
BGE 143 III 235, E. 3.2;
137 III 118, E. 2.3;
126 III 12 f.;
Isenring / Kessler, a.a.O., N. 25.
BGE 143 III 235, E. 3.2;
137 III 118, E. 2.3; 130 III 192; 126 III 12; 117 II 258; 112 II 278; 111 II 74; 95 II 124;
Peter Münch / Christian Luczak, in: Thomas Geiser / Peter Münch / Felix Uhlmann / Philipp S. Gelzer, Handbücher für die Anwaltspraxis. Prozessieren vor Bundesgericht, Band I, Basel 2014, Rz. 2.49 f.;
Fabienne Hohl, Procédure civile, Band II, Bern 2010, Rz. 2971 f.; Ueli Meyer / Johanna Dormann, «Art. 105 BGG», in: Marcel Alexander Niggli / Peter Uebersax /
Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2. Auflage, Basel 2011, N. 35a.
BGE 128 III 4, E. 4.
Hausheer / Spycher, a.a.O.,
Rz. 01.62 ff.; zur Begründung vgl. Heinz Hausheer / Ruth Reusser /
Thomas Geiser, Berner Kommentar, 1999, Art. 163 ZGB N. 59f.
BGer 5C.15/2002 vom 27.2.2002; BGE 141 III 376, E. 3.3.1;
BGer 5A_69/2016 vom 14.3.2016, E. 2.3.
BGE 143 III 233 ff.
BGE 106 III 18 ff.,
111 III 15, E. 5; 116 III 12;
137 III 204, E. 3.9.;
137 III 149 f., E. 3.4.3.
Art. 265 Abs. 2 SchKG.
Art. 131a Abs. 1; Art. 176a; Art. 293 Abs. 2 ZGB.
BGE 143 III 177 f.
Art. 217 Abs. 1 StGB.
Zu den Grenzen des vertraglichen Ausschlusses der Abänderbarkeit einer Scheidungsrente vgl. Anette Spycher / Urs Gloor, «Art. 127 ZGB», in: Heinrich Honsell /
Nedim Peter Vogt / Thomas Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar,
5. Auflage, Basel 2014, N. 11 ff.;
Spycher / Hausheer, a.a.O.,
Rz. 09.81 ff. Entgegen der dort vertretenen Meinung verstösst ein Ausschluss der Abänderbarkeit bei einer nicht befristeten Rente m.E. gegen Art. 27 Abs. 2 ZGB.
Art. 163 und 179 Abs. 1 ZGB.
Art. 129 ZGB.
Art. 286 f. ZGB.
BGE 141 III 378, E. 3.3.1; vgl. Hausheer / Reusser / Geiser, a.a.O., Art. 179 ZGB N. 8a;
Isenring / Kessler, a.a.O., Art. 179 ZGB N. 4.
BGE 141 III 378, E. 3.3.1.
BGE 141 III 378, E. 3.3.1;
138 III 292, E. 11.1.1;
131 III 199, E. 2.7.4;
BGer 5A_597/2013 vom 4.3.2014, E. 3.4.
Es wird z.B. ein hypothetisches Einkommen aufgerechnet, weil der Ausbau der Erwerbstätigkeit als zumutbar und möglich erscheint. Die entsprechende Partei baut diese Tätigkeit nicht aus, macht aber eine erhebliche Erbschaft. Rechtfertigt nun die Erbschaft eine Abänderung, sodass das hypothetische Einkommen noch immer aufzurechnen ist oder nicht?
BGE 143 III 233 ff.;
141 III 378, E. 3.3.1.
Art. 176 ZGB und Art. 276 ZPO.
Vgl. BGer 5A_688/2013
vom 14.4.2014, E. 8.2, und
BGer 5A_187/2013
vom 4.10.2013, E. 7.1.
BGE 142 III 519, E. 2.5;
BGer 5A_187/2013
vom 4.10.2013, E. 7.1.
BGer 5A_688/2013 und
BGer 5A_187/2013.
Sog. caput controversum.
BGE 142 III 519 f., E. 2.6.1.
Art. 277 Abs. 3 ZPO; zur Tragweite der Maximen vgl. Thomas Geiser, «Maximen und Prüfungskompetenz des Gerichts in familienrechtlichen Prozessverfahren», in: Franco
Lorandi / Daniel Staehelin (Hrsg.), Innovatives Recht. Festschrift für Ivo Schwander, Zürich / St. Gallen 2011, S. 899 ff.
Vgl. insb. Art. 129, 134 Abs. 2, Art. 179 Abs. 1, Art. 286 und Art. 298d ZGB.
Art. 229 und Art. 317 Abs. 1 ZPO.
Vgl. BGer 5A_121/2016
vom 8.7.2016, E. 4 und 5.
BGE 143 III 44 f., E. 5.3;
BGer 5A_22/2014 vom 13.5.2014, E. 4.3.
BGE 143 III 44, E. 5.1.
BGE 142 III 418 f., E. 2.2.6.
BGE 143 III 44, E. 5.1.
Siehe Abschnitt zur «Bevorschussung» oben.
Silvia Hunziker, «Art. 33 DBG»,
in: Martin Zweifel / Michael Beusch (Hrsg.), Bundesgesetz über
die direkte Bundessteuer (DBG), Basel 2017, N. 21h.
Ich danke Kollege Robert Waldburger für die entsprechenden Hinweise.
Art. 149a SchKG.
Art. 59 Abs. 3 alt BV.