Für die Auflösung des gemeinsamen Haushalts gilt in der Praxis für Verheiratete eine 10/16-Regel. Sie besagt: Jener Elternteil, der eines oder mehrere Kinder unter 10 Jahren betreut, muss keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Diesem Elternteil ist aber eine Erwerbstätigkeit von 50 Prozent (bei mehreren Kindern eventuell weniger) zuzumuten, wenn das jüngste Kind 10-jährig ist, ab vollendetem 16. Altersjahr eine Erwerbstätigkeit von 100 Prozent.
Gemäss der Rechtsprechung handelt es sich nicht um eine starre Regel, sondern um eine Richtlinie oder Tatsachenvermutung, von der im Einzelfall abgewichen werden kann. Insbesondere dann, wenn die gelebte Aufgabenteilung vor der Auflösung des gemeinsamen Haushalts eine andere war.
Diese 10/16-Regel geht auf ein Urteil aus dem Jahr 1989 zurück. In BGE 115 II 6 erwog das Bundesgericht, dass die Kinderbetreuungspflicht nicht nur einen Beitrag an den Kinderunterhalt darstelle, sondern grundsätzlich eine Behinderung des betroffenen Ehegatten in der Wiedererlangung der wirtschaftlichen Selbständigkeit bedeute. Diese Überlegung bewirke, dass das Bundesgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung daran festhalte, dass der Unterhaltsbeitrag für den die Kinder betreuenden Elternteil im Rahmen von Art. 151 Abs. 1 ZGB so lange zu erbringen sei, bis das jüngste aus der Ehe hervorgegangene Kind das 16. Altersjahr vollendet habe (unter Verweis auf BGE 109 II 286). Die Rechtsprechung habe aber nicht von vornherein weitere Unterscheidungen ausschliessen wollen, die sich daraus ergeben, dass Kinder schon vor dem 16. Altersjahr einen Elternteil nicht mehr dauernd beanspruchen.
Dieser allgemein gehaltenen Bemerkung des Bundesgerichts folgt dann die entscheidende Erwägung: «Einem betreuenden Elternteil kann daher die Aufnahme einer gewissen Teilzeitarbeit an sich schon zugemutet werden, wenn das jüngste Kind mit zehn Jahren dem Kleinkindalter entwachsen ist.» Dabei zitierte das Bundesgericht einen Aufsatz von Heinz Hausheer 1 sowie BGE 114 II 303, wo der Mutter eines 11-Jährigen zugemutet worden war, einer Teilzeiterwerbstätigkeit nachzugehen.
Weder in diesem noch in anderen einschlägigen Entscheiden fand jedoch eine Auseinandersetzung darüber statt, weshalb die Grenze des beruflichen Wiedereinstiegs bei einem Kindesalter von 10 Jahren gesetzt wurde.
1. Eheliche Aufgabenteilung massgebend
Die Botschaft des Bundesrats zur Revision des Scheidungsrechts vom 15. November 1995 verwies in Bezug auf den neuen, den nachehelichen Unterhalt betreffenden Art. 125 ZGB auf die «durch Lehre und Rechtsprechung entwickelten Kriterien, u. a. auf den Umfang und die Dauer der von den Ehegatten noch zu leistenden Betreuung der gemeinsamen Kinder».2 In der Botschaft findet sich jedoch keinerlei konkrete Auseinandersetzung mit der Frage, ob und ab welchem Alter eine Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils besteht. Es findet sich auch keine Stellungnahme zur Frage, ob und in welchem Ausmass der Eigenbetreuung Vorrang vor familienexternen Betreuungsmöglichkeiten zukommen soll.
Ausgangspunkt der Erläuterungen in der Botschaft des Bundesrats war Art. 163 ZGB. Er bestimmt, dass sich die Ehegatten über den Beitrag zum Familienunterhalt verständigen, den jeder von ihnen leistet, namentlich durch Geldzahlungen, Besorgen des Haushaltes, Betreuen der Kinder oder durch Mithilfe im Beruf oder Gewerbe des andern.3 Je nach der gewählten Aufgabenteilung habe die Scheidung unterschiedliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Ehegatten. Es entspreche dem Gebot der nachehelichen Solidarität, dass die Folgen der in der Ehe gewählten Aufgabenteilung gemeinsam getragen werden.
Bei der Frage, ob und wie lange Alimente zu bezahlen sind, seien nicht nur die Bedürfnisse der Kinder bestimmend. Vielmehr seien die Auswirkungen einer oft über lange Jahre eingespielten Aufgabenteilung auf die Erwerbsfähigkeit und -chancen zu berücksichtigen.
Die Botschaft äusserte sich allerdings nicht dazu, welches die Bedürfnisse der Kinder konkret sind und wie deren unterhaltsrechtliche Auswirkungen aussehen. Es finden sich lediglich allgemein gehaltene Ausführungen. Zum Beispiel: Zu beurteilen sei «die tatsächliche Arbeitsbelastung, welche die Pflege und Erziehung der Kinder nach der Scheidung darstellt und die einen Elternteil an der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit hindert». Und: «Ob einem Ehegatten, dem bei der Scheidung die Obhut über die Kinder zugeteilt wird, eine Erwerbstätigkeit zugemutet werden kann, hängt schliesslich auch davon ab, ob genügend Kinderbetreuungsstätten und Tagesschulen zur Verfügung stehen und ob der Arbeitsmarkt den Bedürfnissen alleinerziehender Eltern nach flexiblen Arbeitszeiten Rechnung trägt.»
Abschliessend wird darauf verwiesen, dass in der Schweiz Ehepaare, die Kinder betreuen, noch häufig «die 1907 gesetzlich vorgeschriebene und damals auch als Schutz gegen die Frauen- und Kinderarbeit in der Folge der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts gedachte Aufgabenteilung, indem die Frau die Kinder betreut und der Mann einer Erwerbstätigkeit nachgeht», wählten.4
Die Gesetzgebung orientierte sich demnach in erster Linie an der von den Ehegatten gewählten Aufgabenteilung und deren Folgen nach der Scheidung. Diese Argumentation nahm das Bundesgericht in seinen ersten Urteilen zum revidierten Scheidungsrecht auf. Illustrativ ist ein Urteil vom 4. April 2001.5 Darin erwog das Bundesgericht: «Die Scheidung der Ehe hat je nach gewählter Aufgabenteilung (…) unterschiedliche Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage der Ehegatten. Für die von ihnen gewählte Aufgabenteilung während der Ehe und infolgedessen für allfällige scheidungsbedingte Anpassungen der Aufgabenteilung und damit verbunden der Unterhaltsbeiträge sind beide verantwortlich (…).» Das Gericht kam zum Schluss, dass – bei lebensprägenden Ehen der ansprechende Ehegatte in seinem Vertrauen auf den Weiterbestand der bisherigen, frei vereinbarten Aufgabenteilung zu schützen sei. Bezugspunkt für die Zumutbarkeit der Eigenversorgung im Sinne von Art. 125 Abs. 1 ZGB sei die während der Ehe einvernehmlich gelebte Aufgabenteilung. Die Praxis zur Frage, ob die Geburt von Kindern für den Unterhalt des ansprechenden Ehegatten dieselben Folgen habe wie eine Ehe von langer Dauer, sei unter dem bisherigen Scheidungsrecht schwankend gewesen. Sofern Hinweise für eine gegenteilige Annahme bestünden, entbinde «diese Tatsachenvermutung das Gericht aber nicht von der wertenden Gesamtbeurteilung, ob die Geburt des Kindes und die nachfolgende Betreuungspflicht die Lebensgewohnheiten des ansprechenden Ehegatten wirklich einschneidend verändert und insoweit nachhaltig geprägt» habe. Im konkreten Fall (einer kurz dauernden Ehe) verneinte das Bundesgericht dies bei einer Mutter, deren Kind seit zwei Jahren eine private Tagesschule besuchte.
2. Wahlrecht statt Folge einer gelebten Aufgabenteilung
Die Gerichtspraxis hat den Schwerpunkt jedoch nach und nach verlagert: Weniger die in der Ehe frei gewählte Aufgabenteilung als vielmehr das (angebliche) Wohl des Kindes, das die (ausschliessliche) Eigenbetreuung durch einen Elternteil gebiete, wurde zum ausschlaggebenden Kriterium. Daraus entwickelte sich praktisch ein Recht des betreuenden Elternteils, bis zur Vollendung des 10. Altersjahrs des Kinds keiner Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen. Ein Recht, das unabhängig von den konkreten Betreuungsmöglichkeiten besteht und höchstens durch den Nachweis einer vor Aufhebung des gemeinsamen Haushalts bereits ausgeübten Erwerbstätigkeit eingeschränkt wird. In einem Urteil vom 6. August 2007 6 bezeichnete das Bundesgericht ein tatsächlich ausgeübtes Pensum von 70 Prozent bei Kindern im Alter von 13 und 17 Jahren als «überobligatorisch».
Die frei gewählte Aufgabenteilung wird zudem meistens so interpretiert, dass nicht Abmachungen oder Zukunftspläne zählen, sondern nur das reine Faktum einer vor der Trennung ausgeübten Erwerbstätigkeit. Solche Fakten können von einem Ehegatten aber einseitig geschaffen werden. Bei einer Trennung von Eltern kleiner oder sehr kleiner Kinder führt dies praktisch immer zum Wahlrecht des hauptsächlich betreuenden Elternteils, eine Erwerbstätigkeit auszuüben oder bis zum 10. Altersjahr des Kindes darauf zu verzichten.
Dieses Wahlrecht besteht bloss dann nicht, wenn eine gegenteilige Aufgabenteilung über eine längere Zeit vor der Trennung nachgewiesen werden kann. Das ist bei sehr kleinen und oft auch bei kleinen Kindern in vielen Fällen ein Ding der Unmöglichkeit, weil hier zwar ein einverständlicher Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit des hauptsächlich betreuenden Elternteils für den Moment vorliegt. Ein solcher Verzicht sagt aber noch nichts darüber aus, wie die angedachte Aufgabenteilung bei Kindergarten- oder Schuleintritt aussieht. In diesen Fällen kommt dann fast immer die 10/16-Regel zur Anwendung. Und selbst bei einer vor der Trennung ausgeübten Erwerbstätigkeit kann der ansprechende Elternteil mitunter mit Erfolg geltend machen, die Trennung führe zu einer neuen Situation, die eine weitere Erwerbstätigkeit unzumutbar mache.
In einem Urteil vom 14. November 2008 hat das Bundesgericht die 10/16-Regel bestätigt und Folgendes ausgeführt: «Der Beschwerdeführer hält die Praxis für wenig zeitgemäss, weil heute eine weitgehende Fremdbetreuung der Kinder üblich sei und viele Mütter trotz der Kinder erwerbstätig seien. Die oftmals von den finanziellen Gegebenheiten diktierte Lebenswirklichkeit ändert nichts an der Tatsache, dass die unmittelbare persönliche Betreuung und Pflege vor allem kleiner und im obligatorischen Schulalter stehender Kinder deren Interessen dient und ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Zuteilung der elterlichen Sorge ist (…). An dieser rechtstatsächlichen Erkenntnis aus der Familienpsychologie hat die ZGB-Revision von 1998/2000 nichts ändern können, sodass die bisherige Rechtsprechung weiterzuführen war. Sie zu überdenken, können die Vorbringen des Beschwerdeführers keinen Anlass geben.»7
Dass eine vor der Trennung gelebte Aufgabenteilung massgebend wäre, ist diesem Entscheid in keiner Weise mehr zu entnehmen. Vielmehr deklariert das Bundesgericht unmissverständlich den Vorrang der Eigenbetreuung. Eine Auseinandersetzung mit den «familienpsychologischen Erkenntnissen» fand allerdings auch hier nicht statt – es wurde eher ein Dogma proklamiert.
3. Übertragung der 10/16-Regel auf ledige Eltern?
Es kann sein, dass das Bundesgericht seine scheidungsrechtliche Rechtsprechung nun auch auf ledige Eltern übertragen wird, ohne sich grundsätzlich mit der Frage des Vorrangs der Eigenbetreuung auseinanderzusetzen. In der Literatur wird dies teilweise bereits als anzustrebende Lösung befürwortet.8
Das würde bedeuten, dass ein lediger Elternteil seine Erwerbstätigkeit nach der Geburt eines Kindes aufgeben könnte und der unterhaltspflichtige andere Elternteil für den Unterhalt von Kind und Mutter (praktisch seltener: Vater) aufkommen müsste. Der Bezug auf eine gelebte Aufgabenteilung dürfte bei ledigen Eltern noch weit öfter fehlen als bei verheirateten. Er wird nur möglich sein nach längerem Zusammenleben der ledigen Eltern.
Eine solche Ausweitung und Festschreibung der 10/16-Regel wäre bedauerlich. Denn man muss sich fragen, ob dieses Konzept noch zeitgemäss ist. Eine Bezugnahme auf das Eherecht von 1907 dürfte heute obsolet sein. Die familienexternen Betreuungsmöglichkeiten (Horte, Krippen, Tagesschulen) haben sich an vielen Orten stark verbessert. Es werden weiterhin grosse Anstrengungen unternommen, um dieses Angebot noch weiter auszubauen. Das Bundesgesetz über Finanzhilfen für familienergänzende Kinderbetreuung ist bereits seit dem 1. Februar 2003 in Kraft. Es handelt sich um ein befristetes Impulsprogramm, das die Schaffung zusätzlicher Plätze für die Tagesbetreuung von Kindern fördern soll, damit die Eltern Erwerbsarbeit (oder Ausbildung) und Familie besser vereinbaren können. Das Parlament beschloss am 26. September 2014 bereits die zweite Verlängerung dieses Programms bis 2019.
In einer Stellungnahme zuhanden der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats vom 3. September 2014 äusserte sich die Landesregierung wie folgt: «Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass die familienergänzende Kinderbetreuung nicht nur zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beiträgt, sondern generell volkswirtschaftlich von grossem Nutzen ist. So haben verschiedene Studien gezeigt, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Kinderbetreuung für die Gesamtgesellschaft positiv ist.» Der Bundesrat betonte die «hohe Dringlichkeit, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern».9
Gleichzeitig sind auch die Anforderungen der Wirtschaft betreffend Qualifikationen und Leistungsvermögen der Angestellten gestiegen. Hoch sind auch die Investitionen von Bund und Kantonen in die Bildung und Ausbildung. In vielen Branchen besteht ein Mangel an Fachkräften, der nur durch den Zufluss ausländischer Arbeitskräfte aufgefangen werden kann. Sprich: Es müssten schon sehr gute «familienpsychologische Gründe» vorhanden sein, um die Anreize so zu setzen, dass kinderbetreuende Eltern sich vom Arbeitsmarkt zurückziehen.
Die aktuelle Rechtsprechung im Scheidungsrecht und möglicherweise die künftige im Kinderunterhaltsrecht setzen jedoch genau solche Anreize. Hoch qualifizierte Mütter geben ihre Erwerbstätigkeit auf, um sich ausschliesslich der Kinderbetreuung zu widmen. Mit der Folge, dass sie beim Wiedereinstieg nach zehn Jahren – oder später, wenn mehrere Kinder zu betreuen sind – dequalifiziert sind und eine neue, möglicherweise wiederum teure Weiterbildung oder Ausbildung benötigen. Dafür müssen oft auch wieder Mittel der öffentlichen Hand in Anspruch genommen werden. Auch wenn die externen Betreuungsangebote viel Geld kosten, dürfte das Primat der Eigenbetreuung nicht billiger sein, wenn man eine Vollkostenrechnung anstellt.
Kinderbetreuende Eltern in Niedriglohnbranchen werden sich noch so gerne aus der Erwerbstätigkeit zurückziehen, wenn der andere Elternteil für ihren Bedarf aufkommen muss. Denn eine unattraktive und schlecht bezahlte Arbeit verrichtet im Allgemeinen nur, wer nicht anders kann. Häufig scheitert die Eigenbetreuung allerdings daran, dass auch der andere Elternteil finanziell nicht genügend leistungsfähig ist. Man muss deshalb konstatieren, dass das Modell Eigenbetreuung nur für die sozial bessergestellten Schichten anwendbar ist.
4. 10/16-Regel als Hindernis für Zweitfamilien
Eine weitere oft nicht beachtete Folge des Modells Eigenbetreuung ist, dass Zweitfamilien kaum mehr finanzierbar sind. Eine Scheidung oder Trennung führt heute bei Ehepaaren und künftig auch bei ledigen Eltern sehr oft dazu, dass für eine neue Partnerschaft und vor allem für Kinder aus einer neuen Partnerschaft nicht mehr genügend Mittel vorhanden sind. Dies wird verstärkt durch die ausserordentlich strenge Praxis des Bundesgerichts in Abänderungsverfahren, wo oft für Kinder und den Unterhaltspflichtigen nur der Notbedarf verbleibt und für den andern Elternteil der neuen Partnerschaft gar nichts, da dessen Lebenshaltungskosten ungeachtet des Alters der Kinder im Notbedarf des Unterhaltspflichtigen nicht berücksichtigt werden dürfen.10 In einem Urteil vom 9. November 2010 11 führte das Bundesgericht aus: «Unter Umständen kann die Beistandspflicht zur Folge haben, dass der neue Ehegatte im Rahmen des Zumutbaren eine Erwerbstätigkeit aufnimmt bzw. ausdehnt. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit ist die Situation der neuen Ehefrau – die den Ehegatten in Kenntnis von dessen Unterhaltspflicht heiratet – mit der geschiedenen Partnerin selbst dann nicht vergleichbar, wenn beide Kinder in einem ähnlichen Alter zu betreuen haben. Die neue Ehegattin kann sich deshalb auch nicht auf die Rechtsprechung berufen, wonach die Aufnahme einer Teilzeiterwerbstätigkeit grundsätzlich nach Vollendung des 10. Altersjahr des jüngsten Kindes und die Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit nach Vollendung von dessen 16. Altersjahr zumutbar ist.» Hier gilt der Vorrang der Eigenbetreuung höchstens noch für ganz kleine Kinder (im beurteilten Fall wurde die Aufnahme einer Teilzeitarbeit von 40 Prozent im zweiten Lebensjahr des Kindes als noch nicht zumutbar erachtet).
Dies ist jedoch widersprüchlich und inkonsequent. Wenn es so sein sollte, dass das Kindswohl die (ausschliessliche) Eigenbetreuung gebietet, müsste dies ja für alle Eltern gleichermassen gelten. Dies ist jedoch nach der bundesgerichtlichen Praxis nicht so. In Zweitfamilien besteht für den hauptsächlich betreuenden Elternteil kein Recht auf Eigenbetreuung. Der Einwand, man habe ja Kenntnis von den bestehenden Unterhaltspflichten gehabt, ist eine Argumentation, die mit dem Kindeswohl nichts zu tun hat.
Ein Widerspruch der Wertungen besteht auch zu den SKOS-Richtlinien, gemäss denen eine berufliche Wiederintegration so früh wie möglich, spätestens aber im Kindsalter von drei Jahren, vorgesehen ist. Offenbar ist es auch in diesem Zusammenhang nicht so, dass das Kindeswohl die Eigenbetreuung verlangt.
Selbstverständlich kann nicht behauptet werden, dass mit einer Aufgabe der 10/16-Praxis diese Probleme einfach gelöst würden. Sie könnten aber immerhin reduziert werden, weil ein zusätzliches Einkommen vorhanden wäre, auch wenn es durch zusätzliche Betreuungskosten wieder vermindert wird.
Man darf gespannt sein, wie das Bundesgericht den Betreuungsunterhalt des neuen Kindesunterhaltsrechts in derartigen Konstellationen gestalten wird. Der Betreuungsunterhalt gilt auch für Mütter oder Väter in Zweitfamilien. Konsequenterweise müsste auch ihnen erlaubt sein, auf eine Erwerbstätigkeit zu verzichten, bis ihr Kind zehn Jahre alt ist. Das hätte zur Folge, dass der andere Elternteil für den Unterhalt aufkommen müsste.
Dies wiederum würde aber die Ansprüche der Unterhaltsberechtigten der Erstfamilie massiv tangieren. Zudem gehen nach neuem Recht die Unterhaltsansprüche der Kinder (inklusive Betreuungsunterhalt) denjenigen der Geschiedenen vor. Da würde für die geschiedenen Ehegatten bei Festhalten an der 10/16-Praxis in sehr vielen Fällen nichts übrig bleiben.
Kein Nachbarland der Schweiz kennt eine ähnlich weit gehende Unzumutbarkeitsregel bei kinderbetreuenden Eltern. Deutschland mutet eine Erwerbstätigkeit in der Regel ab dem vollendeten dritten Altersjahr zu, Österreich ab dem sechsten Altersjahr, Frankreich kennt ein sehr grosszügiges staatliches Betreuungsangebot und geht als Regelfall von einer Erwerbstätigkeit beider Ehegatten aus.12
5. Richterrecht statt gesetzgeberische Weichenstellungen
Der erläuternde Bericht zum Vernehmlassungsentwurf zum revidierten Kindesunterhaltsrecht des Bundesamts für Justiz vom Juli 2012 enthielt noch folgende Überlegungen: «Die vom Bundesgericht angegebenen Altersgrenzen sind bereits nach geltendem Recht nicht als strikte Regeln zu betrachten, sondern als Richtlinien, die von Fall zu Fall zu beurteilen sind. Im Übrigen erscheinen diese Grundsätze auch deshalb problematisch, weil sie der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit der obhutsberechtigten Person im Wege stehen. Die vorliegende Revision soll deshalb Anlass bieten, diese Rechtsprechung zu überdenken, indem bewusst darauf verzichtet wird, starre Grundsätze zur Bestimmung von Umfang und Dauer der Betreuung ins Gesetz zu schreiben. Vielmehr soll auch die berufliche Wiedereingliederung möglichst gefördert werden, jedenfalls soweit dies faktisch möglich und zumutbar ist. Es liegt nahe, sich hier an die deutsche Praxis anzulehnen, gemäss welcher während der ersten drei Lebensjahre des Kindes ein Anspruch auf Betreuungsunterhalt besteht.»13
Der Bericht verwies auf eine Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2008, wonach auch in Familien mit kleinen Kindern heute eine teilzeiterwerbstätige Mutter neben einem vollzeiterwerbstätigen Vater das vorherrschende Erwerbsmodell sei.14 Der Bericht wies auch darauf hin, dass eine Reduktion oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit während der Kindererziehungsphase den späteren Wiedereintrittt ins Berufsleben erschwere und die Karrierechancen mindere.15
Die Botschaft des Bundesrates fiel dann weniger konkret aus. Es hiess bloss noch, dass bei einer Aufhebung des gemeinsamen Haushalts jedes Kind weiterhin so lange von der Pflege und Erziehung durch einen Elternteil profitieren können soll, als es zu seinem Wohl erforderlich sei.16 Weiter wurde ausgeführt: «Gleichzeitig soll mit dieser Revision jedem Kind die Gewährleistung der bestmöglichen Betreuungsverhältnisse ermöglicht werden. Die Möglichkeit der Eltern, eine persönliche Betreuung weiterzuführen, soll dabei nicht gegenüber der Drittbetreuung bevorzugt werden. Sie soll einzig im Interesse des Kindes im Einzelfall statusunabhängig möglich sein.»17 Beigefügt wurde noch, dass der betreuende Elternteil mit der Einführung des Betreuungsunterhalts «keineswegs dazu angehalten werden soll, keine Erwerbstätigkeit auszuüben oder eine solche nicht aufzunehmen». Die vor der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts gelebte Familienorganisation sei für die Entscheidung über die Betreuungsverhältnisse nach der Aufhebung massgeblich.18
Zur Dauer des Betreuungsunterhalts ist in der Botschaft Folgendes zu lesen: «Dieser dauert grundsätzlich so lange an, wie das Kind die persönliche Betreuung im konkreten Fall tatsächlich benötigt.» Es wird auf die bundesgerichtliche 10/16-Regel hingewiesen, um dann anzumerken, dass die Revision Anlass gebe, diese Rechtsprechung zu überdenken. Es werde jedoch bewusst darauf verzichtet, starre Grundsätze zur Bestimmung der Dauer ins Gesetz zu schreiben.19
Die Anwender des neuen Rechts stehen vor einem Rätsel: Die Rechtsprechung soll überdacht werden, doch die Gesetzgebung gibt keinerlei Hinweise, wie dies geschehen soll. Es fehlt jetzt auch der Hinweis auf die deutsche Gesetzgebung, was immerhin ein Indiz wäre.
Die Rechtsprechung setzt somit nicht einen gesetzgeberischen Wertungsentscheid um. Einen solchen Entscheid seitens des Gesetzgebers gab es weder bei der Revision des Scheidungsrechts noch bei jener des Kindesunterhaltsrechts.
Ein solches gesetzgeberisches Vorgehen ist unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten äusserst fragwürdig. Die entscheidenden Weichenstellungen werden nicht vom Gesetzgeber vorgenommen, sondern auf das Bundesgericht abgeschoben. Am Schluss werden die persönlichen Wertungsentscheide der Richter der zweiten zivilrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts ausschlaggebend sein. Solches Richterrecht entspricht nicht den in der Schweiz sonst stets hochgehaltenen direktdemokratischen Prinzipien.
Als Kollateralschaden wird eine mehr oder minder lange Periode der Orientierungslosigkeit in Kauf genommen, welche die Beratungstätigkeit, aber auch die erst- und zweitinstanzlichen Gerichte vor unlösbare Probleme stellt.
6. Die 10/16-Regel ist revisionsbedürftig
Eine stringente familienpsychologische Begründung dafür, dass das Kindswohl die (vollständige) Eigenbetreuung durch die Eltern erfordert, ist dem Verfasser nicht bekannt. Im Gegenteil werden oft die Vorzüge einer (teilweisen) externen Betreuung in Krippen, Horten, Tagesschulen usw. für die Entwicklung des Kindes hervorgehoben. Jedenfalls hat das Bundesgericht seine Praxis nicht auf der Grundlage solcher Studien begründet. Sie beruht allein auf einem Wertentscheid der zuständigen Bundesrichter – eine etwas schmale Basis für eine Praxis, die derart weitreichende Folgen hat.
Damit soll nicht einer exklusiven Fremdbetreuung das Wort geredet werden. Die Zukunft dürfte einer Kombination von familienexterner und -interner Betreuung gehören. Jedoch wäre es an der Zeit, die 10/16-Regel aufzugeben und vor allem die Kindesalterslimite von 10 Jahren für den Wiedereintritt ins Erwerbsleben zu senken. Ein Wiedereinstieg in einem Teilzeitpensum (zunächst auch unter 50 Prozent) müsste ab dem Kindergartenalter möglich sein. Gegen die Altersgrenze 16 für die Wiederaufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit ist nichts einzuwenden.
Dabei muss man im Auge behalten, dass das Regelalter nur eine Tatsachenvermutung begründet. Stets muss der Nachweis möglich sein, dass die Eltern im konkreten Fall eine andere Aufgabenteilung gewählt haben. Es soll ja eine freie Entscheidung sein, welches Rollenmodell eine Familie wählt. Das kann bedeuten, dass der hauptsächlich betreuende Elternteil bereits nach dem Mutterschaftsurlaub die Erwerbstätigkeit wieder aufnimmt, aber auch, dass dieser Elternteil auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet oder dass die Betreuung gleichmässig aufgeteilt wird.
Das Regelalter soll bloss verhindern, dass das Recht einseitige Entscheide eines Elternteils sanktioniert. Neben dem Nachweis der Folgen einer gewählten Aufgabenteilung muss auch stets der Nachweis möglich sein, dass die konkreten Verhältnisse eine Fremdbetreuung nicht erlauben – zum Beispiel weil etwa in ländlichen Verhältnissen kein Angebot existiert. Wesentlich ist jedoch, dass die Tatsachenvermutung ab einem tieferen Alter (zum Beispiel Eintritt ins Kindergartenalter) für und nicht gegen eine Erwerbstätigkeit spricht. Die Nichterwerbstätigkeit sollte die zu begründende Ausnahme (anders gewählte Aufgabenteilung, fehlendes Angebot vor Ort usw.) darstellen.
7.Kein Anlass für Änderung bei Methodenwahl
Allemann schlägt vor, beim Betreuungsunterhalt gemäss neuem Kindesunterhaltsrecht nur noch die zweistufige Methode anzuwenden, da sich der Betreuungsunterhalt im Rahmen der einstufig-konkreten Methode nicht kalkulieren lasse.20 Dies hätte jedoch eine Umkehr der Beweislast zur Folge und ist abzulehnen. Der Nachweis der bisher gelebten Lebenshaltung obliegt bereits seit BGE 115 II 424 der unterhaltsberechtigten Partei. Bei Anwendung der zweistufigen Methode dagegen ist es die unterhaltsverpflichtete Partei, die eine Sparquote bzw. eine im Vergleich zum Einkommen zu niedrige Lebenshaltung nachzuweisen hat.
Angesichts der häufigen Beweisschwierigkeiten ist es von beträchtlicher praktischer Bedeutung, wer die Folgen der Beweislosigkeit zu tragen hat. Bei niedrigen und mittleren Einkommen erscheint es gerechtfertigt, von der Tatsachenvermutung auszugehen, dass sämtliches Einkommen für die Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet wird. Bei hohen Familieneinkommen gibt es für eine solche Tatsachenvermutung keine Rechtfertigung. Denn bei solchen Einkommen ist eine Spartätigkeit die Regel und nicht die Ausnahme. Die Folge wäre eine vom Gesetz nicht vorgesehene Beweislastumkehr.
Klar ist demgegenüber, dass die in gewissen Kantonen noch immer angewandte Prozentmethode ausgedient hat.