Die Universität Zürich erliess 2007 ein Reglement gegen sexuelle Belästigung. Es geht weiter als das Strafgesetzbuch. Als sexuelle Belästigung gilt laut Reglement jede Verhaltensweise mit sexuellem Bezug, die seitens der betroffenen Person unerwünscht ist. Verboten sind zum Beispiel «unangemessene Körperkontakte», «aufdringliches Verhalten» oder «anzügliche Bemerkungen und Witze». Die Universitäten Basel und Luzern übernahmen das Reglement inhaltlich weitgehend.
Auch andere Universitäten liessen sich inspirieren: So heisst es auf der Website der Uni Freiburg, sexuelle Belästigung könne auch in Form von sexistischen, primitiven oder beschämenden Bemerkungen erfolgen. Und gemäss einem Reglement der Universität St. Gallen über die Schlichtungsverfahren gilt «jeder unerwünschte Annäherungsversuch» als sexuelle Belästigung.
Es drohen Entlassung oder Exmatrikulation
Die Sanktionen für belästigendes Verhalten sind rigoros: Die Reglemente der Universitäten Zürich, Basel und Luzern sehen Unterstützungsmassnahmen (zum Beispiel Gesprächsangebote), Entlassung oder gar Exmatrikulation vor – ohne sachlichen Zusammenhang zur Leistung eines Studenten. Verteidigungsrechte eines Strafverfahrens stehen Beschuldigten nicht zu. Sie haben zwar Anspruch auf rechtliches Gehör und Akteneinsicht, doch können diese eingeschränkt werden, wenn «überwiegende Interessen» der Uni, der angeblich belästigten Person oder Dritter es erfordern.
Keine Auskunft zur Anwendung
Das wirft Fragen auf: Kommen an den Universitäten Zürich, Basel und Luzern Studierende und Mitarbeiter wegen Banalitäten in Teufels Küche? Im Extremfall könnte gemäss Reglement ein Student vom Studium ausgeschlossen werden, weil er einen Blondinenwitz erzählt oder einer Kommilitonin einen unerwünschten Liebesbrief schreibt.
Die Unis beteuern zwar, dass dies dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit widersprechen würde. Wie sie die Reglemente anwenden, ist jedoch unklar: An der Uni Zürich wurden nach eigenen Angaben zwischen 2007 und 2014 rund 90 Fälle untersucht. Wie viele Sanktionen ausgesprochen wurden und wie viele Fälle es vor Einführung des Reglements gab, konnte oder wollte die Uni nicht sagen. In Luzern kam es bisher zu keinen Untersuchungen. Basel gibt keine Zahlen bekannt.
Martino Mona, Professor für Strafrecht und Rechtssoziologie an der Universität Bern, findet die Reglemente «gefährlich für den Rechtsstaat». Erstens werde mit diesen «parastrafrechtlichen Verhaltenssteuerungen» suggeriert, die staatlichen Gesetze, Organe und Verfahren seien wirkungslos und die potenziellen Opfer seien einer Reihe von Gefahren schutzlos ausgeliefert gewesen. «Zweitens wird durch die Aufweichung von traditionellen rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien das Konzept des Rechtsstaates grundlegend unterminiert.»
Dass die Reglemente sexuelle Belästigung breiter definieren als das Strafrecht, ist von den drei Universitäten ausdrücklich gewollt. «Das Strafrecht ist fragmentarisch und schützt nicht gegen alle Arten des Angriffs auf die geschützten Rechtsgüter», behauptet zum Beispiel Beat Müller, Sprecher der Uni Zürich. Das geht so weit, dass die Reglemente Massnahmen unabhängig von der Durchführung eines Strafverfahrens vorsehen. Sprich: Wer von einem Gericht freigesprochen wird, muss dennoch mit Sanktionen der Uni rechnen.
Ein Vokabular, das aufhorchen lässt
Dass die strafrechtlichen Verfahrensgarantien nicht zum Tragen kommen, begründen die Universitäten Luzern und Zürich damit, die Reglemente seien nicht Teil des Strafrechts, sondern des universitätsinternen Disziplinarrechts. Die Universitäten sind der Meinung, dass die Beschuldigten durch die Verfahrensrechte der Reglemente ausreichend geschützt sind.
Die Universitäten sagen, sie wollten mit den Reglementen eine «Atmosphäre der Belästigungsfreiheit», eine «Kultur des Respekts» respektive eine «Vertrauenskultur» schaffen. Dieses Vokabular lässt aufhorchen. Man kennt es aus den USA, wo seit Längerem ein paralleles Sanktionssystem der Hochschulen zum Strafrecht existiert. Dort wird die «Vergewaltigungskultur» und das «feindselige Klima» an Hochschulen mit der «Yes means Yes»-Regel bekämpft. Sprich: Wenn nicht beide Partner ausdrücklich mittels Kopfnicken oder Ja-Sagens in den Geschlechtsverkehr einwilligen, gilt der Akt als Vergewaltigung.
Auffallend: Viele Studentinnen von US-Hochschulen wählen den Weg des Disziplinarrechts statt des ordentlichen Strafverfahrens, um (angebliche) Übergriffe ahnden zu lassen. Der niedrigere Standard der Beweisführung und die schwächeren Verfahrensrechte für den Beschuldigten mögen für das Opfer eine Erleichterung bedeuten, sie schaffen aber auch einen Anreiz für Falschanschuldigungen.
Grotesk ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung der Uni Luzern, wonach gegen eine Person, die eine Falschanschuldigung beging, bloss Massnahmen ergriffen werden können, nicht aber müssen. Auf die Fragen, in wessen Ermessen dieser Entscheid liegt und ob die zu Unrecht beschuldigte Person ein Antrags- oder Mitspracherecht hat, gab die Uni Luzern gegenüber plädoyer keine Antwort.
Legislative und Judikative in einer Person
Ein weiterer rechtsstaatlich heikler Aspekt an der Universität Zürich: Die Strafrechtsprofessorin Brigitte Tag leitete die Expertengruppe, die das Reglement erarbeitete. Seit Inkrafttreten des Reglements ist Tag auch mit der Leitung der Untersuchungen an der Universität Zürich betraut. Damit wird ein grundlegendes Prinzip des Rechtsstaates – nämlich die personelle Trennung von Legislative und Judikative – auf den Kopf gestellt. Auch in diesem Punkt sieht die Universität Zürich kein Problem: «Dass jemand an der Ausarbeitung eines Reglements beteiligt ist und danach in der gleichen Sache eine leitende Funktion übernimmt, ist gängige Praxis», sagt Sprecher Beat Müller. Auch sei es im Personal- und Disziplinarrecht üblich, dass eine verwaltungsinterne Person die Untersuchung leite. Besser macht es die Universität Basel: Gemäss Reglement darf die untersuchende Person nicht der Universität angehören.
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel der Universität Genf: Diese hat ein Mediationsverfahren mit externen Experten und ohne Sanktionsmöglichkeiten eingeführt. In der Weisung steht ausdrücklich, dass die Mediation eine freiwillige Alternative zum Strafrecht und Zivilrecht ist. Wenn bereits ein strafrechtliches oder zivilrechtliches Verfahren läuft, ist eine Mediation ausgeschlossen. Damit werden informelle Lösungsansätze der Universität sauber vom staatlichen Sanktionssystem getrennt.