Die Worte aus Bern klingen vernünftig: Ein mittels «gezielter Massnahmen» modernisiertes Urheberrecht soll sicherstellen, dass Rechte und Pflichten von Konsumenten, Kulturschaffenden und Providern an «die Realität des Internets» angepasst werden. Dabei soll die Position der Kulturindustrie gestärkt werden, ohne dass Film- und Musikliebhaber auf das erlaubte Herunterladen geschützter Werke zum Privatgebrauch verzichten müssen.
Der Bundesrat beauftragte Anfang Juni das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), bis Ende 2015 einen entsprechenden Entwurf auszuarbeiten. Orientieren soll sich das EJPD an den Empfehlungen der «Agur12». Dabei handelt es sich um eine informelle Arbeitsgruppe, die Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Jahr 2012 aus Kulturschaffenden, Repräsentanten der Produzenten und Nutzern urheberrechtlich geschützter Inhalte sowie der Verwaltung zusammensetzte.
Die Ende 2013 von der Arbeitsgruppe in einem Schlussbericht veröffentlichten Empfehlungen sehen auch diverse repressive Massnahmen vor. So sollen Internetseiten mit «offensichtlich illegalen Inhalten» künftig auf behördliche Anweisung durch die Provider gesperrt werden. Im Agur12-Bericht wird zudem vorgeschlagen, fehlbare Konsumenten mittels Warnhinweisen auf Rechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Reagieren sie nicht wie gewünscht, sollen die Rechteinhaber die Identität der Nutzer zur Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche direkt in Erfahrung bringen dürfen.
Schwarze Liste für Länder mit liberaler Regelung
Diese repressiven Ansätze sind selbst innerhalb der Agur12 umstritten. Auch der Zürcher Rechtsanwalt und Immaterialgüterrechtsexperte Martin Steiger kritisiert: «Die Unterhaltungsindustrie will die Auskunft über Bestandesdaten, damit Massenabmahnungen direkt ohne den Umweg über Strafverfahren möglich werden. Die Vorschläge der Agur12 zielen klar in diese Richtung.» Durch den vereinfachten Zugriff Privater auf IP-Adressen werde ein weiterer Ziegelstein aus dem Gebäude der Rechtsstaatlichkeit entfernt: Das Fernmeldegeheimnis werde ausgehebelt und das Prinzip der Unschuldsvermutung durch die präventive Überwachung gefährdet.
Ein solches Vorgehen weckt zudem laut Steiger auch weitere Begehrlichkeiten – etwa hinsichtlich der Bekanntgabe der Namen von Verfassern ehrverletzender Onlinekommentare ohne Strafverfahren. Der Bundesrat verspricht zwar, dem Datenschutz und den Rechtsweggarantien werde bei der Revision des Urheberrechts «grosse Beachtung geschenkt». Dieses Versprechen vermag die kritischen Stimmen jedoch nicht zum Schweigen zu bringen.
Bemerkenswert: Die Ergebnisse der Agur12 sind von Seiten der US-Behörden wohlwollend zur Kenntnis genommen worden. So wurde die Schweiz entgegen der Forderung der International Intellectual Property Alliance (IIPA), die für die amerikanische Unterhaltungsindustrie lobbyiert, nicht auf die schwarze Liste des «Special 301 Report» gesetzt. Dieser jeweils im Mai von US-Handelsvertreter Michael Froman publizierte Bericht befasst sich mit der Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte seitens der US-Handelspartner. Länder auf der sogenannten «Watch List» stehen unter verschärfter Beobachtung durch die für die internationale Handelspolitik der USA zuständige Stelle. Im neusten Bericht wird auch das geltende Schweizer Immaterialgüterrecht kritisiert. Lob erntete dagegen das im Schlussbericht der Agur12 präsentierte Massnahmenpaket. Das passt laut Steiger ins Bild: «Der Bericht dient als politisches Druckmittel. Wer wie Israel oder Italien Gesetzesänderungen im Sinne der USA vornimmt, verschwindet von der schwarzen Liste.»
Unter kritischer Beobachtung der US-Behörden dürfte auch der Ausgang des Musterstrafverfahrens stehen, das die International Federation of the Phonographic Industry Schweiz (Ifpi Schweiz) gegen einen mutmasslichen Filesharer in Zürich führt. Der Testprozess wurde vom «runden Tisch zum Urheberrecht im Internet» angeregt, den Vertreter der Rechteinhaber und des Bundes 2012 auf Initiative der US-Botschaft in Bern abhielten. Der Musterprozess soll Aufschluss geben, unter welchen Voraussetzungen Privaten die Bearbeitung von persönlichen Daten, namentlich von IP-Adressen, zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen im Internet gestattet ist. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob die in allfälliger Verletzung des Datenschutzgesetzes von Privaten gesammelten IP-Adressen im Prozess als Beweise verwertet werden dürfen.
Namentlich seit dem Logistep-Urteil des Bundesgerichts vom September 2010 (BGE 136 II 508) besteht in diesem Punkt eine Rechtsunsicherheit. Bis zu diesem Urteil bildete das private Sammeln und Überwachen von IP-Adressen die Ausgangslage für das zivilrechtliche Vorgehen der Urheberrechtsindustrie gegen potenzielle Urheberrechtsverletzer. Nach dem Überwachen verdächtiger IP-Adressen wurde jeweils Strafanzeige gegen unbekannt eingereicht. Im Strafverfahren bestand dank der Vorratsdatenspeicherung der Internetprovider die Möglichkeit, den Inhaber des fraglichen Anschlusses zu identifizieren. Diese Identifikation bildete die Basis für die angestrebten Zivilprozesse.
Sachgericht soll Interessen abwägen
Das Bundesgericht bezeichnete die Datenbearbeitung im Fall «Logistep» aber als rechtswidrig. Strafverfahren wegen Filesharing werden seither mit Verweis auf die Erwägungen des Logistep-Urteils von den Strafverfolgungsbehörden vielfach gar nicht an die Hand genommen.
Im Musterstrafverfahren der Ifpi Schweiz gegen einen Filesharer hat das Zücher Obergericht die Staatsanwaltschaft kürzlich angewiesen, die Untersuchung durchzuführen, nachdem sie eingestellt worden war. Das Obergericht führte aus, der Entscheid über die Verwertbarkeit der Beweise und die Interessenabwägung zwischen Persönlichkeitsschutz und Strafverfolgung seien dem Sachgericht zu überlassen. Das Bundesgericht habe diese Frage im Logistep-Urteil ausdrücklich offengelassen. Im Sinne des Grundsatzes im Zweifel für die Anklageerhebung habe die Staatsanwaltschaft das Verfahren fortzuführen.