«Urteile sind zur Kenntnisnahme bereitzuhalten»
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Plädoyer 05/2016
26.09.2016
Dominique Strebel
Gemäss einem neuen Leitentscheid des Bundesgerichts müssen Gerichte auch Einsicht in nicht rechtskräftige Urteile gewähren. Das Urteil hat Konsequenzen – unter anderem für die Staatsanwaltschaften.
Gestützt auf Artikel 30 Absatz 3 der Bundesverfassung hat das Bundesgericht in den letzten Jahren eine Praxis entwickelt, die konsequent der Transparenz verpflichtet ist:
- Nicht nur Urteile, sondern auch Strafbefehle...
Gemäss einem neuen Leitentscheid des Bundesgerichts müssen Gerichte auch Einsicht in nicht rechtskräftige Urteile gewähren. Das Urteil hat Konsequenzen – unter anderem für die Staatsanwaltschaften.
Gestützt auf Artikel 30 Absatz 3 der Bundesverfassung hat das Bundesgericht in den letzten Jahren eine Praxis entwickelt, die konsequent der Transparenz verpflichtet ist:
- Nicht nur Urteile, sondern auch Strafbefehle und Einstellungsverfügungen sind öffentlich zu machen (124 IV 234; 134 I 286).
- Der Zugang zu Urteilen ist zeitlich nicht befristet.
- Einsicht in Urteile ist bereits vor Rechtskraft zu gewähren.
Die beiden letzten Punkte hat das Bundesgericht mit seinem Entscheid 1C_123/2016 vom 21. Juni 2016 noch verdeutlicht. Es hält darin fest, dass «die Vorinstanz die Kontrollfunktion der Medien» untergräbt, wenn sie Einsicht nur in rechtskräftige Urteile gewährt. Bei Verfahren ohne mündliche Urteilsverkündung werde eine «zeitnahe Gerichtsberichterstattung ausgeschlossen». Und bei von der Rechtsmittelinstanz aufgehobenen Urteilen werde «den Medien eine Kenntnisnahme sogar gänzlich verunmöglicht, obwohl sich die Justizkritik auch auf aufgehobene Urteile beziehen kann». Zusammenfassend sei festzuhalten, «dass Urteile grundsätzlich generell bekanntzugeben oder zur Kenntnisnahme bereitzuhalten sind».
Schriftliche Urteile sind also im Internet oder auf Gesuch hin zugänglich zu machen, auch wenn sie in öffentlicher Verhandlung gefällt oder vor Ort aufgelegt wurden.
Nach diesem Entscheid müssen auch all jene Staatsanwaltschaften sowie die Bundesanwaltschaft ihre Praxis überdenken, die nur rechtskräftige Strafbefehle öffentlich auflegen.
Grundsätzlich ist bedenklich, dass jedes Detail der Justizöffentlichkeit in jahrelangen Verfahren erstritten werden muss. Es macht den Anschein, als wollten Justizbehörden ihr ureigenes Produkt – das Urteil, den Strafbefehl – vor der Öffentlichkeit möglichst verstecken. (Weitere Anmerkungen des Autors zu Urteil 1C_123/2016 in Medialex 7–8/2016.)