Der österreichische Verband für Konsumenteninformation hatte im Oktober Grund zur Freude. Vor sechs Jahren hatte er gegen die Volkswagen AG mehrere Sammelklagen für 10'000 Kläger eingereicht. Der Autohersteller hatte von 2008 bis 2015 die Software in seinen Dieselfahrzeugen so manipuliert, dass die Autos in Tests weniger Schadstoffe ausstiessen als auf der Strasse. Als die Manipulation bekannt wurde, sank der Wert der Fahrzeuge.
Nach längeren Verhandlungen kam es zu einem Vergleich: Die Volkswagen AG zahlt 23 Millionen Euro an die 10'000 Käufer von VW-Dieselautos mit manipulierter Software. Im Gegenzug zieht der Verband für Konsumenteninformation seine Sammelklagen zurück.
In der Schweiz wäre ein solcher Erfolg aktuell nicht möglich. Sammelklagen kennt das schweizerische Recht bis jetzt nicht. Und geht es nach dem Willen der Rechtskommission des Nationalrats, wird es auch in Zukunft keine kollektive Klagemöglichkeiten geben. Denn die Kommission beschloss Mitte Oktober, nicht auf die Vorlage des Bundesrats zum kollektiven Rechtsschutz einzutreten.
Die Rechtskommission verschob ihren Entscheid in den letzten zweieinhalb Jahren drei Mal. Immer wieder forderte sie neue Abklärungen. Und als endlich alle offenen Fragen geklärt waren, trat sie trotzdem nicht auf die Vorlage ein. Hier das Protokoll einer angekündigten Ablehnung:
Fazit: Die Mehrheit der Rechtskommission des Nationalrats will sich nicht die Mühe nehmen, die Vorlage zu prüfen, und bringt das Schreckgespenst der US-amerikanischen Sammelklage ins Spiel. Dieses Argument ist so alt wie falsch. Richtig ist: Die Eigenheiten des Prozessrechts der USA beruhen auf verschiedenen Besonderheiten, mit denen eine Sammelklage als Druckmittel für einen Vergleich missbraucht werden kann.
Dazu gehören die folgenden Punkte: Die Gerichtskosten sind tief. Jede Partei muss ihre Kosten selbst tragen – also auch der Beklagte, wenn er den Prozess gewinnt. Die Anwälte arbeiten auf reiner Erfolgsbasis. Die Verhandlungen finden vor einem Geschworenengericht statt, das aus Laien zusammengesetzt ist, die exorbitante Strafzahlungen zusprechen können.
All diese Besonderheiten existieren jedoch im Schweizer Prozessrecht nicht. Sie sind auch bei der vorgeschlagenen Verbandsklage nicht vorgesehen. Wie in jedem Prozess gelten die Regeln der allgemeinen Zivilprozessordung.
NZZ schürt Angst vor dem «Schreckgespenst Sammelklagen»
Der Wirtschaftsverband Swissholdings, der 65 multinationale Unternehmen wie ABB, Implenia oder Novartis vertritt, «begrüsste» den ablehnenden Beschluss der Rechtskommission.
Die Vorlage sei «unnötig und gefährlich». Erfahrungen aus dem Ausland hätten gezeigt, dass Sammelklagen zur Ansiedlung und Ausweitung einer «professionellen Klageindustrie» führen.
Dabei stützt sich der Verband auf eine Studie, die er gemeinsam mit Economiesuisse im April 2024 veröffentlichte. Das Zürcher Forschungsinstitut Sotomo befragte damals 82 Firmen, darunter mehr als die Hälfte Grossbetriebe.
Zwei Drittel der befragten Unternehmen lehnten laut Studie die Vorlage ab mit der Begründung, dass eine Annahme zu einer markanten Zunahme von Klagen führen würde. Aus der Befragung, die nur mit 82 Firmen durch-geführt wurde, zog Economiesuisse vorschnell den Schluss: «Schweizer Unternehmen wollen keine Sammelklage.» Doch im Sotomo-Bericht steht: «Die in der Studie gemachten Aussagen lassen sich nicht verallgemeinern.» Sie seien statistisch nicht repräsentativ für die gesamte Schweizer Wirtschaft.
Gleichwohl forderte Economiesuisse am 12. April 2024 von der Rechtskommission des Nationalrats: «Die Wirtschaft setzt darauf, dass die Kommission die Vorlage in ihrer nächsten Sitzung als unrettbar erkennt und endgültig zurückweist.»
Die Kommissionsarbeiten rund um die Verbandsklage wurden von der NZZ begleitet – und voreingenommen kommentiert. Im Juni 2023 schrieb die NZZ nach Vorlage der ersten Ecoplan-Studie, das «Schreckgespenst Sammelklagen» sei zurück, obwohl es die Rechtskommission ein Jahr früher geschafft habe, «die Vorlage auf die lange Bank zu schieben». Der Ecoplan-Bericht rund um die «BJ-Beamten» sei «ein heimlicher Werbespot» für die neue Verbandsklage. Im April 2024 schrieb ein NZZ-Redaktor unkritisch über die von Swissholdings und Economiesuisse veröffentlichte nicht repräsentative Sotomo-Studie: «Schreckgespenst Sammelklagen. Schweizer Firmen fürchten sich vor einer Klageindustrie wie in Amerika».
In der Rechtskommission des Nationalrats sitzen 25 Nationalrätinnen und Nationalräte: 16 vertreten bürgerliche (SVP, Mitte, FDP) und 9 linke Parteien (Grüne, SP).
Das letzte Wort hat der Nationalrat. Die Vorlage kommt am 11. Dezember in den Rat. Dieser entscheidet dann, ob er auf die Vorlage eintreten will und sich damit auf eine inhaltliche Diskussion über den kollektiven Rechtsschutz einlässt.