Rabea Eghbariah schlägt im Artikel «Toward Nakba as a Legal Concept» in der «Columbia Law Review» (4/2024) vor, den Begriff der Nakba als eigenständiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuführen. Damit würde es einfacher, eine Vision von Freiheit und Würde für alle betroffenen Menschen zu artikulieren, so die Schlussfolgerung des in Haifa (Israel) geborenen und zurzeit in den USA lebenden palästinensischen Juristen. Darüber hinaus könne sich das Konzept auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen als nützlich erweisen.
Rabea Eghbariah beschreibt die Nakba (arabisch für Katastrophe) als Ergebnis des praktizierten Zionismus. Um Platz für einen jüdischen Staat zu schaffen, mussten die Palästinenser zu einer Minderheit gemacht, ihnen die territoriale Souveränität entzogen und die Selbstbestimmung verweigert werden.
Dies sind nie nur Folgen des Kriegs, wie in den gängigen Beschreibungen von 1948 dargestellt wird, sondern eine Reihe von katastrophalen Veränderungen, die Palästina, dem palästinensischen Volk und der arabischen Welt im Allgemeinen mit Gewalt aufgezwungen wurden. Die damit verbundene Massenvertreibung begann bereits vor dem Eingreifen arabischer Staaten im Mai 1948 und definierte den Prozess der Nakba, der weit über 1948 hinausging und bis heute die Existenz der Palästinenser bestimmt.
Kollektive Unterwerfung der Palästinenser
Wie jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist auch die Nakba durch grundlegende Gewaltereignisse gekennzeichnet, die sich von jenen anderer Verbrechen unterscheiden. Während Völkermord sich darin zeigt, dass eine Gruppe ausgelöscht oder erheblich reduziert wird, und Apartheid als Segregation einer Gruppe charakterisiert werden kann, bedeutet die Nakba die Vertreibung einer Gruppe.
Im Unterschied zum Holocaust, der auf der Nazi-Ideologie basierte, und der Apartheid, die auf der Ideologie des Afrikaander-Nationalismus fusste, gründet die Nakba auf der Ideologie des Zionismus. Sie zerstört die territoriale Integrität des Heimatlands der Palästinenser mit dem Ziel, eine jüdische Bevölkerung anzusiedeln und ein neues Heimatland für sie zu schaffen.
Die der Nakba zugrunde liegenden Gewaltereignisse und die dazugehörende Ideologie schufen Bedingungen, die die individuelle und kollektive Unterwerfung und Disziplinierung des palästinensischen Volkes bezwecken. Während die Sie dlungs- und Kolonialstruktur auf Auslöschung und die Apartheidstruktur auf Rassentrennung basieren, lässt sich die Nakba als Fragmentierung beschreiben, die durch Ausgrenzung und das Ziehen und Durchsetzen von Grenzen zwischen Gebieten und Menschen herbeigeführt wird.
Die sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und rechtlichen Grenzen teilen die palästinensische Bevölkerung in Untergruppen mit unterschiedlichem Status, namentlich: Bürger Israels, die gegenüber jüdischen Bürgern diskriminiert werden, Einwohner Jerusalems, Bewohner des Westjordanlands, Bewohner des Gazastreifens und palästinensische Flüchtlinge – alles Kategorien, die selbst verschiedene Fragmente enthalten.
Recht auf Selbstbestimmung verwehrt
Die Vertreibung von 1948 und die Gründung Israels schufen eine Realität, die es dem palästinensischen Volk verunmöglicht, seinen politischen Willen als Gruppe zu äussern. Dabei verweigert der israelische Staat das Recht auf Selbstbestimmung nicht nur innerhalb der Waffenstillstandsgrenzen von 1949, sondern auch in den 1967 von Israel besetzten Gebieten. Der Zweck der Nakba muss daher laut Eghbariah als Verweigerung des unveräusserlichen Rechts einer Gruppe auf Selbstbestimmung verstanden werden – in diesem Fall der palästinensischen Bevölkerung.
Eghbariah beschreibt die Nakba nicht nur als eigenständige Modalität von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sich von der Apartheid und dem Völkermord unterscheiden. Vielmehr bilden Völkermord, Apartheid und Nakba ein Dreieck von Gruppenverbrechen, die mit unterscheidbaren Modalitäten der Eliminierungslogik des Siedlerkolonialismus korrespondieren und sich dabei auch überschneiden.
Neue Arten von Gewalt werden benannt
Eine zentrale Frage, die der Vorschlag von Eghbariah stellt, betrifft die Rechtfertigung der Einführung einer weiteren konzeptuellen Unterkategorie, die aufgrund eines konkreten Falles hergeleitet wird, obwohl dieser im Rahmen völkerrechtlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit beurteilt werden kann.
Für den Autor sind eine kohärente Rechtssprache sowie eine entsprechende Konzeption und Dogmatik für die Forderung nach Gerechtigkeit und deren Umsetzung entscheidend. Im Völkerrecht wurden immer wieder neue, spezifische Arten von Gewalt und Herrschaft gegen Gruppen anerkannt, selbst wenn diese bereits nach bestehenden Rechtskonzepten juristisch klassifiziert werden konnten.
So wurde etwa die Apartheidkonvention im Jahr 1973 nicht aus dem Grund geschaffen, weil Verbrechen gegen die Menschlichkeit an sich nicht schlimm genug sind, sondern weil der allgemeine Begriff dem Verbrechen an den Schwarzen Menschen in Südafrika nicht gerecht wird. Sie ist das Ergebnis einer intensiven Diskussion innerhalb der internationalen Gemeinschaft, das Verbrechen der Apartheid angemessen sichtbar zu machen. Dadurch wurde ein politischer Prozess in Gang gebracht, der das Leid der Greueltaten anerkennt und die Gesellschaft sensibilisiert. Er bot Raum, Lehren daraus zu ziehen, und unterstützte einen Prozess der Transformation.
In seiner Konklusion zeichnet Eghbariah ein vorsichtig hoffnungsvolles Bild. Es gibt eine lange und reiche Geschichte der jüdischen Existenz in Palästina, die nicht auf systemischer Gewalt, Herrschaft und ethnonationaler Vorherrschaft beruht. Sich auf diese Tradition zu beziehen, könne inspirierend sein, auch wenn die Manifestation des Zionismus in der anhaltenden Nakba die Realität aller Menschen in Palästina und Israel auf vielfältige Weise zerrissen und umstrukturiert habe.
Vision von Freiheit und Würde für alle
Sobald die Nakba als Verbrechenskategorie anerkannt und ins Zentrum der Debatte gerückt wird, werde es einfacher, eine Vision von Freiheit und Würde für alle betroffenen Menschen zu artikulieren. Dazu gehören Anerkennung des Unrechts, Rückkehr der Geflüchteten, Entschädigung und Wiedergutmachung. Dies sind die Voraussetzungen für die gemeinsame Entwicklung einer neuen demokratischen Staatsordnung für alle Menschen in der Region.