Das neue Erwachsenenschutzrecht, das am 1. Januar 2013 in Kraft getreten ist, und erst recht die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) sind in vieler Munde. Sie beschäftigen auch das Bundesgericht. Allerdings gilt dies nicht für alle Neuerungen in gleicher Weise. So nehmen der Vorsorgeauftrag und die Patientenverfügung im neuen Recht einen prominenten Platz ein (Art. 360 ff. ZGB). In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung aber existieren diese Institute praktisch nicht: Aussagen darüber, ob sich der Vorsorgeauftrag und die Patientenverfügung bewährt haben, sind aus der Sicht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung daher nicht möglich.
Orientiert man sich am Quantitativen, haben sich die Fallzahlen im Bereich der Beistandschaften seit Inkrafttreten des neuen Rechts praktisch verdoppelt.
Waren im Jahr 2012 45 Eingänge zu verzeichnen, so waren es im letzten Jahr (2015) 91. Trotzdem würde es zu kurz greifen, diese Zunahme allein dem neuen Erwachsenenschutzrecht anhängen zu wollen. Tatsächlich entspricht die Verdoppelung einem Trend, der schon früher eingesetzt hat und der wohl mehr damit zu tun hat, dass behördliche Entscheide heute vermehrt in Frage gestellt werden, erst recht in einem so sensiblen Bereich wie dem Erwachsenenschutz. Im Übrigen nehmen sich die Fallzahlen gemessen an der Gesamtzahl der beim Bundesgericht eingegangenen Beschwerden – im Jahr 2015 waren dies 7853 – immer noch bescheiden aus. Vor allem aber sagen Fallzahlen kaum etwas darüber aus, wie sich das neue Recht bewährt hat.
Das zentrale Anliegen des neuen Erwachsenenschutzrechts besteht darin, hilfsbedürftigen Personen nach Massgabe ihrer Hilfsbedürftigkeit unter die Arme zu greifen. Zum einen heisst dies, dass der Staat nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen soll: Wo punktuelle Hilfe genügt, soll eine Person nicht umfassend verbeiständet werden (Verhältnismässigkeit). Und zum anderen soll sich der Staat zurückhalten, wenn Private bereit und in der Lage sind zu helfen (Subsidiarität).
Das Bundesgericht hat diese Prinzipien lehrbuchartig in BGE 140 III 49 dargelegt. Konkret ging es um einen 77-jährigen Mann, der in einem Wohnheim lebte und für den im Jahr 2003 auf eigenes Begehren eine Beistandschaft errichtet worden war. Anfang 2013 reichte der Beistand seine Demission ein. Der Verbeiständete beantragte, dies zum Anlass zu nehmen, die Beistandschaft aufzuheben, weil ihm der Leiter des Wohnheims die nötige Unterstützung zukommen lasse. Die Kesb war damit nicht einverstanden, weil sie einen Interessenkonflikt befürchtete, und errichtete für den Mann eine Vertretungsbeistandschaft mit Einkommens- und Vermögensverwaltung nach Art. 394 i.V.m. Art. 395 ZGB. Zu diesem Zweck mandatierte sie einen Berufsbeistand.
Diesen Entscheid, der von der gerichtlichen Beschwerdeinstanz im Wesentlichen bestätigt worden war, hob das Bundesgericht auf. Für das Bundesgericht war klar, dass der Beschwerdeführer nach wie vor Hilfe in administrativen und finanziellen Angelegenheiten brauchte. Der springende Punkt war nun aber, ob diese Hilfe zwingend vom Staat kommen musste. Das Bundesgericht war der Meinung, dass im konkreten Fall die Unterstützung durch den Leiter des Wohnheims genügte. Potenziellen Gefahren könne auch dadurch Rechnung getragen werden, dass der Kesb Veränderungen bei den Ausgaben für Kost und Logis angezeigt würden (Art. 392 Ziff. 1 ZGB).
Diese realistische Sicht auf mögliche Interessenkonflikte ist wichtig, weil andernfalls auch Familienmitglieder in vielen Fällen gar nicht mehr als Helfer in Frage kämen. Namentlich auch die Kinder und der Ehegatte befinden sich nämlich in einem Interessenkonflikt: Als pflichtteilsgeschützte Erben sind sie daran interessiert, dass nicht das ganze Vermögen für die Betreuung und Pflege der hilfsbedürftigen Person aufgebraucht wird.
Dass die Grundsätze der Verhältnismässigkeit und der Subsidiarität dem Bundesgericht keine grösseren Schwierigkeiten bereiten, hat auch damit zu tun, dass das neue Erwachsenenschutzrecht diesbezüglich keine revolutionären Veränderungen mit sich brachte. Eher trifft das Bild vom alten Wein in neuen Schläuchen zu: Schon früher war nämlich keine Behörde darauf erpicht, Menschen zu bevormunden, wenn sie von Verwandten und Freunden umsorgt wurden. Eine behördliche Intervention war meist nur dann nötig, wenn es galt, für die hilfsbedürftige Person die nötigen finanziellen Mittel zu organisieren, oder wenn über das Grundeigentum einer urteilsunfähigen Person verfügt werden musste (öffentliche Beurkundung).
Es kommt hinzu, dass sich das Bundesgericht bei Ermessensentscheiden zurückhält. Gelangt das Bundesgericht zur Auffassung, dass der vorinstanzliche Entscheid vertretbar ist, wird er nicht aufgehoben. Diese Zurückhaltung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Kesb und die Vorinstanzen die Betroffenen zu Gesicht bekommen und deshalb in der Regel viel besser als das Bundesgericht wissen, was diese brauchen. Das Bundesgericht selbst entscheidet ausschliesslich aufgrund der Akten.
Wenn man das Verfahrensrecht mit in den Blick nimmt, fällt die Standortbestimmung deutlich kritischer aus. Bekanntlich ist es so, dass es beim Erlass des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts nicht gelungen ist, neben der Modernisierung des materiellen Rechts auch das Verfahrensrecht zu vereinheitlichen: Zwar bestanden entsprechende Pläne und es gab auch einen ausgearbeiteten Vorentwurf des früheren Zürcher Oberrichters Daniel Steck. Das entsprechende Vorhaben wurde dann aber nach der Vernehmlassung nicht weiterverfolgt. Zu gross war die Angst, das Fuder andernfalls zu überladen und so die ganze Vorlage zu gefährden.
Grundsätzlich sind damit weiterhin die Kantone für das Verfahrensrecht zuständig, es sei denn, das Zivilgesetzbuch, die Verfassung oder das Völkerrecht enthielten diesbezügliche Vorgaben. Ferner erklärt Art. 450f ZGB die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO) für sinngemäss anwendbar, wenn das kantonale Recht keine Lösung enthält. Daraus resultiert ein kaum mehr überblickbares Nebeneinander verschiedenster Rechtsquellen. Dazu kommt, dass das Bundesgericht die korrekte Handhabung des kantonalen Rechts und der subsidiär anwendbaren ZPO nicht frei, sondern nur unter dem eingeschränkten Blickwinkel der Verletzung verfassungsmässiger Rechte, namentlich Willkür (Art. 9 BV), überprüft (BGE 140 III 167 E. 2.3).
Zwei Beispiele mögen die Schwierigkeiten verdeutlichen: Gemäss Art. 450 Abs. 3 ZGB sind Beschwerden gegen Kesb-Entscheide zu begründen (Art. 450 Abs. 3 ZGB); keiner Begründung bedarf die Beschwerde gegen einen Entscheid auf dem Gebiet der fürsorgerischen Unterbringung (Art. 450 Abs. 1 ZGB). Die Begründung wird damit zu einem Begriff des Bundesrechts, dessen korrekte Handhabung das Bundesgericht frei überprüfen kann (Urteil 5A_922/2015 vom 4. Februar 2016 E. 5). Wäre es anders, könnte das Bundesgericht nur im Fall von Willkür beziehungsweise dann einschreiten, wenn allfällige kantonale Begründungsanforderungen den verfassungs- und völkerrechtlichen Zugang zum Recht versperren würden.
Im Fall 5A_724/2015 ging es um einen Obhutsentzug. Dem Bundesgericht stellte sich die Frage, ob die Eltern gestützt auf Art. 6 EMRK einen Anspruch darauf haben, vom Verwaltungsgericht persönlich angehört zu werden, oder ob diese Anhörung auch an den Instruktionsrichter delegiert werden kann. Das Bundesgericht führte am 2. Juni 2016 eine öffentliche Beratung durch und verneinte die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung.
Selbstverständlich bedeutet eine abschliessende bundesrechtliche Regelung nicht, dass diese immer besser oder gar unbestritten wäre. So hat das Bundesgericht im wohl bedeutungsvollsten Entscheid zum neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht die Legitimation der Gemeinde verneint, selbst kostspielige Kindesschutzmassnahmen anzufechten (Art. 450 Abs. 2 ZGB; Urteil 5A_979/2013 vom 28. März 2014). Als Reaktion darauf reichte der Kanton Schaffhausen am 4. Mai 2015 die Standesinitiative 15.309 «Verankerung einer Beschwerdelegitimation des kostenpflichtigen Gemeinwesens gegenüber Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen der Kesb im ZGB» ein. Hier wie überall gilt das Diktum des US-amerikanischen Verfassungsrichters Robert Jackson: «We are not final because we are infallible, but we are infallible only because we are final.» Anders als in den USA sind die Urteile des Bundesgerichts allerdings nie endgültig: Immer bleibt es dem Gesetzgeber vorbehalten, das Gesetz zu ändern und die Gerichte so zu einer Änderung der Rechtsprechung zu zwingen (Art. 190 BV).
Zusammenfassend bleibt die Feststellung, dass Verfahrensfragen heute (zu) viele Ressourcen beanspruchen. Sie fehlen für eine profunde inhaltliche Auseinandersetzung mit dem neuen Erwachsenenschutzrecht.
Wo besteht nun (gesetzgeberischer) Handlungsbedarf? Nach Art. 19 Abs. 2 des Jugendstrafrechts (JStG) fallen sämtliche von der Strafjustiz verhängten Massnahmen dahin, wenn der Täter 25 Jahre alt wird. Dies gilt auch dann, wenn der jugendliche Straftäter weiterhin als gefährlich eingestuft wird. Auch die Jugendstrafe, maximal vier Jahre Freiheitsentzug, hat der jugendliche Straftäter in diesem Alter meist schon längst abgesessen. Entsprechend stellt sich die Frage, was mit dem jugendlichen Straftäter in diesem Fall geschieht.
Das Bundesgericht hatte bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Erwachsenenschutzrechts entschieden, dass ein fürsorgerischer Freiheitsentzug auch dann möglich ist, wenn bei einer psychisch kranken Person zu befürchten ist, dass von ihr wegen dieser Erkrankung weiterhin eine schwere Gefahr für Leib und Leben Dritter ausgeht (BGE 138 III 593 E. 5.2, S. 597). Dieses Urteil führte in akademischen Kreisen zu heftigen Reaktionen; in einer Umfrage der Zeitschrift plädoyer wurde es sogar zum Unurteil des Jahres gekürt.
Es erstaunt daher nicht, dass der gleiche Beschwerdeführer dieselbe Frage nach Inkrafttreten des neuen Rechts dem Bundesgericht erneut unterbreitet hat in der Hoffnung, dass das Bundesgericht die Frage der Rechtmässigkeit der fürsorgerischen Unterbringung (Art. 426 ff. ZGB) neu beurteilt. Das Bundesgericht hat dies nicht getan. Vielmehr hält es an seiner Meinung fest, wonach auch Sicherheitsbedenken eine fürsorgerische Unterbringung rechtfertigen können (Urteil 5A_614/2013 vom 22. November 2013), mangels Alternativen sogar in einem Gefängnis (Urteil 5A_692/2015 vom 11. November 2015). Die fürsorgerische Unterbringung unterscheidet sich damit weder hinsichtlich der Voraussetzungen noch hinsichtlich des Orts der Unterbringung von der Verwahrung, die der Strafrichter im Fall eines psychisch kranken Täters anordnen kann (Art. 59 StGB). Keine Lösung bietet die fürsorgerische Unterbringung, wenn der Betroffene als nicht therapierbar gilt oder die Therapie scheitert.
Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüssen, dass der Ständerat am 2. Juni 2016 der Motion von Andrea Caroni 16.3142 «Sicherheitslücke im Jugendstrafrecht schliessen» zugestimmt hat. Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen das Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft höher zu gewichten ist als die persönliche Freiheit jugendlicher Straftäter, die ihre Strafe abgesessen haben. Nulla poena und auch keine Massnahme sine lege! Das Privatrecht und die Kesb sind mit dieser Aufgabe überfordert.