Sarah Progin-Theuerkauf träumte während ihres Studiums in Bonn (D) von einer Karriere bei den Vereinten Nationen. Heute ist sie an der Universität Freiburg Professorin für Europa- und Migrationsrecht. In ihren Vorlesungen und Publikationen äussert sie sich mutig und zuweilen ziemlich undiplomatisch.
Die aktuell geplante Schengen-Reform zum Beispiel fasst Progin-Theuerkauf in einer kürzlich veröffentlichten Abhandlung prägnant zusammen: «Man schiesst hier mit Kanonen auf Spatzen – beziehungsweise auf Migranten.»
Die Mitgliedstaaten der EU würden mit allen Mitteln versuchen, die Kontrolle über ihre Grenzen wiederzuerlangen und Ausländer am Grenzübertritt zu hindern, meint die 44-jährige Deutsche im Gespräch mit plädoyer. Europa – mit der Schweiz in der Mitte – werde nach und nach zu einer Festung. Progin-Theuerkauf kritisiert, dass mit Ängsten gearbeitet werde: «Zu viele Ausländer! Wir müssen unseren Wohlstand schützen!» Solche Angstkampagnen würden oft funktionieren. Vergangene Abstimmungen und andere Re- formen hätten das Asyl- und Ausländerrecht in der Schweiz «teilweise deformiert».
“Das Migrationsrecht ist sehr politisiert”
«Das Migrationsrecht ist sehr politisiert», beklagt die Professorin. «Aber es gibt im Grunde kein Rechtsgebiet, das unpolitisch ist.» Das Recht werde schliesslich von Politikern gemacht und sei immer im Fluss. Sie konstatiert, dass in der Gesetzgebung Grundrechte und der Grundsatz der Verhältnismässigkeit missachtet werden. So frage sie sich etwa, welches Rechtsgut die Strafnorm von Artikel 115 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG), in dem es um die rechtswidrige Einreise sowie den rechtswidrigen Aufenthalt von Ausländern geht, geschützt werde.
Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen aus dem Strafrecht hätten ergeben, «dass wohl die Migrationskontrolle an sich das geschützte Rechtsgut ist». Hier finde eine Verschmelzung von Migrations- und Strafrecht statt, was immer häufiger vorkomme.
Am Anfang dem Spott von Kollegen ausgesetzt
Auch Artikel 116 AIG, der die Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts unter Strafe stellt, sei ein Druckmittel gegen Personen, die Migranten unterstützen. Dabei seien die irregulären Migranten ein Puffer für die Wirtschaft: «Sie sind billige Arbeitskräfte und in einer Krise die Ersten, die entlassen werden, wie man zu Beginn der Covidpandemie feststellen konnte.»
Progin-Theuerkauf denkt vor allem an die Hausangestellten. Diese Menschen seien da – «mitten unter uns». Sie würden keinen Schaden verursachen. «Hausangestellte verdienen einfach ihr Geld und beanspruchen keine Sozialleistungen.»
Während des Gesprächs spürt man: Progin-Theuerkauf engagiert sich in ihrem Job. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass ihr Fachgebiet in den Anfängen kritisch beäugt wurde. Als Progin-Theuerkauf 2009 als assoziierte Professorin in Freiburg anfing, fand ein älterer Kollege während eines Abendessens, ihr Fachgebiet, das Europa- und Migrationsrecht, sei bloss eine «Modeerscheinung» und müsse nicht unbedingt an der Universität gelehrt werden. «All dieses Migrations- und EU-Zeugs – das interessiert doch eigentlich keinen», spottete der Kollege. «Was für ein schöner Start, dachte ich mir», erinnert sich Progin-Theuerkauf und lacht laut auf.
Wie denkt die Europarechtlerin über das gescheiterte Rahmenabkommen mit der EU? Progin-Theuerkauf zögert nicht lange: «Es war sehr gut verhandelt – und zwar von beiden Seiten.» Es sei schade, dass es einfach so leichtfertig «beerdigt» worden sei. «Hätte man das Volk gefragt, hätte sich vielleicht doch eine Mehrheit dafür ausgesprochen.»
Sarah Progin-Theuerkauf ist mit einem Westschweizer Juristen verheiratet, der bei einer Krankenversicherung tätig ist. Sie leben am Stadtrand von Freiburg. Astrid Epiney, Progins Doktormutter und heute Rektorin der Universität Freiburg, beschreibt ihre Kollegin als «verlässliche und unglaublich engagierte» Dozentin, die ihr Fachgebiet praxistauglich aufarbeite.
Ein Blick auf die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts zeigt, dass Progin-Theuerkauf sehr oft zitiert wird. «Trotzdem bin ich nicht immer mit allem einverstanden, was da entschieden wird», sagt sie mit einem Augenzwinkern.
Als Mutter “permanent im fragilen Gleichgewicht”
In ihrer Freizeit – Sarah Progin-Theuerkauf muss bei diesem Wort laut lachen – unterstützt sie auch einige minderjährige Flüchtlinge. «Unsere Nachbarn haben Patenschaften übernommen und ich helfe gelegentlich bei rechtlichen Fragen.»
Als Mutter von zwei Kindern arbeitet die junge Professorin immer etwas am Limit. Progin-Theuerkauf sagt es so: «Es ist permanent ein fragiles Gleichgewicht. Die Kinder dürfen nicht krank werden, die Tagesmutter nicht – und ich selbst sowieso nicht.»
Die Arbeit an der Universität bringe auch viele Veranstaltungen am Abend mit sich. «Wir haben leider keine Grosseltern in der Nähe, die uns unterstützen könnten.» Bei all diesen Sätzen verliert Sarah Progin-Theuerkauf nicht ein einziges Mal ihr frohes Gemüt. Sie sagt es sogar mit einem Lächeln, so ausgeprägt, dass es zuweilen ansteckend ist.
Letzten Endes seien ihr Mann und sie ein gut organisiertes Team. «Und natürlich übernimmt er zu Hause seinen Anteil.» So bleibe ab und zu auch etwas Zeit für Sport oder zum Malen: «Acryl auf Leinwand» – eine grosse Passion der Juristin und ihrer Kinder, wie sie sagt. Einige ihrer Werke zieren sogar ihr Büro.
Es klopft plötzlich an der Tür: «Maman, c’est trop long», sagt eine Kinderstimme. Es ist ihr elfjähriger Sohn. Er hatte am Nachmittag einen Zahnarzttermin und wartete während des Interviews im Büro nebenan. Jetzt möchte er endlich nach Hause gehen.