Überschuldete Privatpersonen erhalten in der Schweiz keine zweite Chance. Denn im Unterschied zum Unternehmenskonkurs befreit der Privatkonkurs nicht von allen Schulden. Sie bleiben mindestens 20 Jahre lang in Form von Verlustscheinen bestehen. Sie können jederzeit von den Gläubigern mit einer Betreibung wieder eingefordert werden. Stellt sich heraus, dass der Schuldner zu neuem Vermögen gekommen ist, muss er zahlen (siehe Unten).
Anders im Ausland. Beinahe überall in Europa können sich Privatpersonen von Schulden befreien. «Nur in wenigen Balkanländern sowie in Moldawien, Weissrussland und in der Ukraine fehlt ein solches Verfahren», sagt Jan-Ocko Heuer, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität in Berlin. Heuer befasst sich in seiner Forschung seit vielen Jahren mit Entschuldungsverfahren in Europa.
Die Entschuldungsverfahren sind sehr verschieden:
Am schnellsten ermöglicht England eine Restschuldbefreiung, nämlich innerhalb eines Jahres, sofern der Schuldner wenig Einkommen und Vermögen hat. Nach Verwertung von Vermögenswerten wie Auto oder Haus wird man hier von den noch offenen Forderungen befreit. Das Verfahren kostet nur 680 Pfund (rund 870 Franken). Vergleichbare Regeln zur englischen Schuldenbefreiung gibt es in Wales, Schottland und Nordirland.
In Österreich muss sich der Schuldner fünf Jahre lang «wohl verhalten». Das bedeutet arbeiten – oder sich um einen Job bemühen, wenn er arbeitslos ist. Während dieser Zeit hat er mit dem Existenzminimum zu leben. Beispiel: Bei einem Nettolohn von 2000 Euro beträgt das Existenzminiuzm 1200 Euro. Den Rest des Einkommens muss er einem Treuhänder abliefern, der es an die Gläubiger verteilt. Nach fünf Jahren ist er von allen Schulden befreit. 20 Jahre lang kann er dann keine neue Schuldenbefreiung beantragen.
Deutschland kennt eine vergleichbare Regel wie Österreich. Dort ist die Restschuldbefreiung schon ab drei Jahren möglich, falls der Schuldner 35 Prozent der Schulden bezahlt hat.
In Schweden ist eine Schuldenbefreiung nur einmal im Leben möglich, und zwar nur, wenn es für die Überschuldung Gründe gibt, wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Der Schuldner muss während fünf Jahren – mit Ausnahme von Juni und Dezember – jeden Monat einen Betrag zahlen. Die Verfahrenskosten sind mit 500 Schwedischen Kronen (aktuell 55 Franken) pro Jahr sehr tief. Vergleichbare Regeln kennen die anderen skandinavischen Länder sowie Frankreich, Belgien und die Niederlande.
Anfang März publizierte der Bundesrat einen Bericht mit Vorschlägen für ein neues Sanierungsverfahren bei Privatpersonen: Schuldner mit regelmässigem Einkommen sollen ihren aussergerichtlichen Nachlassvertrag vom Gericht auf unkomplizierte Art genehmigen lassen können.
Bundesrat: Eine Perspektive für die Ärmsten der Armen
Und für die hoffnungslos Verschuldeten soll es ein neues Restschuldbefreiungsverfahren geben, ähnlich wie in Österreich. Denn: «Auch die Ärmsten der Armen brauchen eine Perspektive», so der Bundesrat. Gegen seine Vorschläge gibt es allerdings Widerstand – und zwar von den Schuldenberatern. «Es bringt nichts, Leute zu entschulden, die unter dem Existenzminimum leben und daher wieder neue Schulden machen werden», sagt etwa Sébastien Mercier vom Verband Schuldenberatung Schweiz. Er hält eine Revision des Privatkonkurses für sinnvoller. Sein Vorschlag: Die Verjährungsfristen der Verlustscheine könnten etwa von zwanzig Jahren auf fünf bis zehn Jahre verkürzt werden.
«Auch ich bin kein Fan der Restschuldbefreiung», sagt Mario Roncoroni von der Berner Schuldenberatung. «Wenn der Gesetzgeber jetzt ein Verfahren mit einer starren Laufzeit definiert, befürchte ich, dass dann konventionelle Lösungen, wie sie heute ein Sachwalter erarbeiten kann, nicht mehr möglich sind.» Roncoroni schlägt daher eine Vereinfachung des Nachlassverfahrens vor (siehe Unten).
Im Parlament sind zurzeit verschiedene Vorstösse hängig: Der jurassische SP-Ständerat Claude Hêche verlangt mit einer Motion, dass der Bundesrat die Einführung einer Restschuldbefreiung prüft. Und der Aargauer Grünliberale Beat Flach fordert im Nationalrat, dass der Bundesrat verschiedene Varianten des Sanierungsverfahrens für Privatpersonen untersucht und dann einen konkreten Vorschlag unterbreitet. Beide Motionen wurden im September vom Erstrat angenommen. Der Zweitrat muss darüber noch entscheiden. Anschliessend geht der Auftrag an den Bundesrat, eine Gesetzesänderung ausarbeiten.
“Hohe Anforderung an Schuldner”
plädoyer: In der Schweiz gibt es kein Entschuldungsverfahren. Überrascht Sie das?
Jan-Ocko Heuer: Ja und nein. Ja, da mittlerweile fast jedes Land in Europa ein Entschuldungsverfahren eingeführt hat. Nein, wenn man bedenkt, dass es in fast allen Ländern zunächst Bedenken und Widerstände gegen ein Entschuldungsverfahren gab.
plädoyer: Was hat ein Armer davon, der weniger als das Existenzminimum hat?
Er ist nicht mehr den Betreibungen der Gläubiger ausgesetzt. Da er zu wenig zum Leben hat, können natürlich nach dem Verfahren neue Schulden auflaufen. Es kommt deshalb vor, dass armen Haushalten das Entschuldungsverfahren wenig nützt, da sich ihre Situation längerfristig nicht verbessern würde. Ein Entschuldungsverfahren ersetzt eben nicht den Sozialstaat.
plädoyer: Animiert ein Entschuldungsverfahren nicht dazu, gleich wieder Schulden zu machen?
Nein, auch wenn diese Meinung weitverbreitet ist. Ein Entschuldungsverfahren stellt hohe Anforderungen an den Schuldner. In Deutschland etwa wird er von einem Treuhänder beaufsichtigt. Er muss arbeiten oder sich eine Arbeit suchen. Überdies gibt es Wartezeiten, bis man ein zweites Entschuldungsverfahren beantragen kann. In Deutschland beträgt die Frist 10 Jahre. In den skandinavischen Ländern kann man eine Entschuldung nur einmal im Leben beantragen.
plädoyer: Gibt es Zahlen, die belegen, dass Leute dank Entschuldungsverfahren langfristig schuldenfrei bleiben?
Nein, die gibt es nicht. Falls die Schweiz ein solches Verfahren einführt, wäre es wichtig, die entschuldeten Personen mit einer Studie zu begleiten. Nur so kann der Nutzen eines neuen Entschuldungsverfahrens evaluiert werden.
plädoyer: Was sollte bei einem Entschuldungsverfahren beachtet werden?
Das Verfahren sollte nicht länger als drei Jahre dauern, damit der Schuldner eine Perspektive hat. Es sollten alle Schulden erlassen werden – also nicht nur die Kreditschulden wie in den USA. Weiter müsste das Verfahren für den Schuldner kostenlos sein, und er sollte bei der Vorbereitung des Entschuldungsgesuchs von einer Fachperson unterstützt werden.
Über 1000 Privatkonkurse pro Jahr
Kann ein Schuldner seinen Gläubigern keine Dividende anbieten, ist eine Sanierung nicht möglich. Dann bleibt ihm in der Schweiz nur der Privatkonkurs, den er beim Gericht an seinem Wohnort beantragen kann. Die Verfahrenskosten betragen bis zu 5000 Franken. Nach dem Konkursverfahren werden für die verbleibenden Schulden Verlustscheine ausgestellt. Diese verjähren nach 20 Jahren. Die Verjährungsfrist kann der Gläubiger mit einer erneuten Betreibung unterbrechen. Dann beginnt eine neue 20-jährige Frist zu laufen.
Der Schuldner muss die Verlustscheinforderung bezahlen, wenn er zu neuem Vermögen kommt. Was als neues Vermögen gilt, interpretieren die Gerichte sehr unterschiedlich (plädoyer 6/2013). Das kann bereits eine Erbschaft von wenigen Tausend Franken oder ein Einkommen sein, das erlaubt, etwas Geld auf die Seite zu legen. 2017 beantragten in der Schweiz insgesamt 1144 Personen einen Privatkonkurs.
Das bestehende Verfahren verbessern, statt ein neues zu schaffen
Im Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz (SchKG) gibt es vier Verfahren, mit denen Schulden von Privatpersonen abgewickelt werden: Pfändung, einvernehmliche Schuldenbereinigung, gerichtlicher Nachlassvertrag und Privatkonkurs. Die Verfahren weisen für den Schuldner Nachteile auf. So werden bei einer Lohnpfändung die Steuern bei der Berechnung des Existenzminimums nicht berücksichtigt. Das führt dazu, dass sich der Schuldner ständig neu verschuldet. Oder Pfändungs- und Konkursverlustscheine verjähren erst nach 20 Jahren. Die Frist kann jederzeit mit einer Betreibung unterbrochen werden. Und beim Privatkonkurs fehlt eine Definition, was neues Vermögen ist. Diese und weitere Punkte liessen sich durch kleine Retuschen am bestehenden System ändern. So könnte die Situation des Schuldners einfach verbessert werden:
Existenzminimum: Bei einer Lohnpfändung werden die Steuern im Existenzminimum berücksichtigt.
Verjährung: Pfändungs- und Konkursverlustscheine verwirken, und das bereits nach 5 bis 10 Jahren.
Verfahrenskosten: Für die Durchführung eines Privatkonkurses werden keine Kosten erhoben.
Neues Vermögen: Ob ein Schuldner nach dem Konkurs zu neuem Vermögen gekommen ist, muss das Gericht von Amtes wegen prüfen – und nicht nur auf Einrede des Schuldners. Im Gesetz wird definiert, wann neues Vermögen gegeben ist.
Einvernehmliche Schuldenbereinigung: Der Richter kann einen Vergleich genehmigen, auch wenn eine Minderheit der Gläubiger dagegen ist.
Nachlassvertrag: Das Gericht kann einen Vergleich genehmigen, auch wenn eine Mehrheit der Gläubiger dagegen ist – vorausgesetzt, die Ablehnung des Vergleichs würde den Gläubigern keine bessere Aussicht auf Befriedigung bringen.