Das Basler Strafgericht auf Abwegen», «Basel: Umstrittenes Urteil schlägt hohe Wellen in der Politik», «Was ist los in dieser Stadt?» – das sind einige wenige Medienschlagzeilen zu einer Serie von über vierzig parallelen Strafverfahren. Sie werden zurzeit fast im Wochentakt vor dem Strafgericht Basel-Stadt verhandelt.
Die Verfahren veranlassen einen Strafgerichtspräsidenten, sich in den Medien einen Schlagabtausch mit Verteidigern zu liefern, und sie lösen regelmässige Demonstrationen vor dem Strafgerichtsgebäude aus. Schliesslich hat auch der Geheimdienst seine Finger im Spiel. Anlass genug, sich als Prozessbeobachter vor Ort ein eigenes Bild zu machen.
Anklage lautet auf Landfriedensbruch
Ein Dienstag, Ende Oktober: Schon bei der Ankunft vor dem Gericht wird schnell klar, dass hier kein normaler Verhandlungstag am Strafgericht Basel ansteht. Rund 80 Personen stehen im strömenden Regen vor dem Gerichtsgebäude, halten Transparente in die Höhe und rufen Parolen. Als der Angeklagte A. eintrifft, applaudieren die Versammelten. Später ist im Gerichtssaal von draussen die Parole «Freiheit für alle politischen Gefangenen» zu hören.
Verhandelt werden Ereignisse, die sich am 24. November 2018 in Basel zutrugen. An diesem Tag rief die rechtsextreme Partei national orientierter Schweizer (Pnos) zu einer Kundgebung auf. Dutzende Rechtsextreme kamen. Unweit davon versammelten sich über 2000 Leute zu einer unbewilligten Gegendemonstration. Laut Anklageschrift soll es in der Folge zu Gewalttätigkeiten und Nötigungen zum Nachteil von Rechtsextremen gekommen sein, gegen Ende auch zu Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Teilnehmern der Gegendemonstration. Angeklagt sind im Verfahren gegen A. – wie auch in allen übrigen Verfahren – die Straftatbestände Landfriedensbruch und Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.
Rechtlich heikle Mehrfachbefassungen
Bevor diese Ereignisse verhandelt werden, wirft der Verteidiger von A. die Frage der Befangenheit des Gerichts auf. Denn das Basler Strafgericht hat zehn Präsidenten, welche die Gerichtsverhandlungen leiten. Schon rechnerisch ist damit klar, dass es bei zehn Präsidenten und vierzig parallelen Verfahren zu Mehrfachbefassungen mit den Ereignissen des 24. November 2018 kommen muss.
Derartige Mehrfachbefassungen, bei denen es in Parallelverfahren materiell um die gleiche Sache geht, sind unter dem Gesichtspunkt der Befangenheit grundsätzlich heikel. Denn wenn sich ein Präsident in einem früheren Verfahren bereits festgelegt hat, dass die objektive Strafbarkeitsbedingung des Tatbestandes von Artikel 260 des Strafgesetzbuches (StGB) in Bezug auf eine Demonstration erfüllt ist, wonach «mit vereinten Kräften gegen Menschen oder Sachen Gewalttätigkeiten begangen wurden», kann sich kaum ein Angeklagter in einem nachfolgenden Verfahren realistische Chancen ausrechnen, denselben Präsidenten vom Gegenteil zu überzeugen. Ein Ausweg böte die Vereinigung der Verfahren, was mehrere Verteidiger beantragten. Das Gericht lehnte dies jedoch ab.
Das ist aber nicht das Hauptargument der Verteidigung für die Befangenheit des Straferichts: Zusätzlich nahm René Ernst (SP) – einer der zehn Präsidenten – in einem Zeitungsinterview zu den Ereignissen des 24. November 2018 ausführlich Stellung, obwohl erst ein Bruchteil der Verfahren vor dem Strafgericht verhandelt worden war.
16 Verteidiger publizierten darauf eine öffentliche Replik, in der sie auf die Verletzung der Unschuldsvermutung für die übrigen Angeklagten hinwiesen und darauf, dass die Aussagen im fraglichen Interview die Befangenheit des Gerichts belegen. Gerichtspräsident Ernst verteidigte sich gegen diese Vorwürfe im Schweizer Fernsehen. Dieses berichtete auch, dass das erste Zeitungsinterview des Präsidenten «in Absprache mit seinen Richterkollegen» erfolgt sei. Eine Tatsache, die den Anschein der Befangenheit verstärken würde, falls sie zutrifft. Das Gericht sieht dies an diesem Verhandlungstag aber anders und weist das Gesuch ab.
“Szenekenner” der Polizei werden nicht befragt
Der Angeklagte A. verweigert im Rahmen des Beweisverfahrens die Aussage – wie auch schon in der Strafuntersuchung. Auch in den meisten andern Verfahren schweigen die Angeklagten. Folglich muss sich das Strafgericht zur Beurteilung der Strafbarkeit auf die übrigen Beweismittel stützen.
Zentral sind die über zehn Stunden Videoaufnahmen, welche die Ereignisse rund um die Gegendemonstration aus diversen Blickwinkeln dokumentieren. Auf diesen markierte die Polizei bestimmte Personen und kennzeichnete sie anhand optischer Merkmale wie Kleidung oder Haarfarbe auf den Videosequenzen. Damit waren einzelne Personen auf den Bildern individualisiert, aber nicht identifiziert.
Um die Verdächtigten zu ermitteln, schickten die Basler Strafverfolgungsbehörden in der Folge Bilder der Gesuchten an alle Polizeikorps der Schweiz.
Im Falle des Angeklagten A. antwortete die Kantonspolizei Zürich: «Szenekenner der Kantonspolizei Zürich haben Person 111 als nachstehende Person identifiziert: (es folgen die Personalien des Angeklagten A.).»
Hier offenbart sich neben der Befangenheit des Gerichts eines der grundlegenden Probleme dieser Verfahren: Wer diese «Szenekenner» sind, wie viele sie sind, woher sie ihre «Szenekenntnis» haben und weshalb sie meinen, A. zu erkennen, bleibt unklar.
Um diese Fragen zu klären, beantragt der Verteidiger ihre Befragung. Auch diesen Antrag weist das Gericht ab – unter anderem mit der Begründung, das Gericht mache sich in der Verhandlung selbst ein Bild über die Frage, ob der Angeklagte A. wirklich die gesuchte Person sei. Sinngemäss führt das Gericht damit aus, dass eine Befragung der «Szenekenner» nicht nötig sei, um über die Täterschaft von A. zu befinden. Damit übersieht das Gericht, dass der Verteidiger nicht eine Frage der Beweiswürdigung aufgeworfen hatte, nämlich ob Person 111 identisch sei mit dem Angeklagten. Vielmehr machte er den Anspruch auf Konfrontation geltend und will Fragen an Belastungszeugen stellen – ein garantiertes Recht, das sicherstellt, dass sich eine Verurteilung nicht entscheidend auf Aussagen von anonymen Zeugen abstützt, die von der Verteidigung nie befragt werden konnten. Unabhängig davon betont der Verteidiger, dass die gesuchte Person auf den Fotos teils vermummt war, auf anderen nicht zweifelsfrei identifizierbar sei.
Ein ähnlicher Umgang mit Beschuldigtenrechten von Verfassungsrang zeigte sich in einem anderen, parallelen Verfahren kurz vor Weihnachten. Auch der Angeklagte B. soll sich laut Anklageschrift während der Gegendemonstration des Landfriedensbruchs und der Gewalt und Drohung strafbar gemacht haben. Er verweigert wie A. die Aussage. Auch hier sind die Videoaufnahmen zentrales Beweismittel. B. soll die markierte Person 516 sein. Der Verdacht gegen ihn kommt nicht über die Polizei zustande, sondern durch die «Fachgruppe 9», den kantonalen Nachrichtendienst von Basel-Stadt. Auch hier findet sich in den Akten nur ein Satz: «Gemäss Erkenntnissen unseres Dienstes handelt es sich bei Person 516 um: (es folgen die Personalien des Angeklagten B).» Auch hier finden sich keine weiteren Hinweise dazu, was diese «Erkenntnisse» sind, inwiefern diese rechtskonform zustande kamen, oder wie gesichert sie sind.
Keine Verteidigung gegen geheime Erkenntnisse
Wiederum macht die Verteidigerin den verfassungsmässigen Anspruch auf Konfrontation geltend, doch auch hier lehnt das Gericht ab. Diesmal mit der Begründung, im Tätigkeitsbereich des Nachrichtendienstes bestehe Quellenschutz. Es könne deshalb nicht offengelegt werden, woher der Nachrichtendienst seine Erkenntnisse habe. In der mündlichen Begründung versichert Gerichtspräsident Lucius Hagemann (CVP), die Fachgruppe sei «nahe an den Gruppen und Leuten dran» – vermutlich, um zu erklären, weshalb blindes Vertrauen in den Nachrichtendienst gerechtfertigt sei. Eine Verteidigung gegen derartige geheime «Erkenntnisse», denen das Gericht blind vertraut, ist kaum möglich.
Doch dies ist nicht die einzige Schwierigkeit, mit der sich B. konfrontiert sieht. Er hatte bereits im Untersuchungsverfahren beantragt, es sei ein physiognomisches Gutachten zu erstellen. Damit wollte er den Entlastungsbeweis führen und belegen, dass er andere körperliche Proportionen und Gesichtszüge habe als die gesuchte Person 516. Die Staatsanwaltschaft lehnte den Antrag ab. Sie führte aus, sie habe sich bei der «Fachgruppe 9» erkundigt. Diese sei sich sicher, dass B. die Person 516 sei.
In der Hauptverhandlung thematisiert die Verteidigerin von B. die Erstellung eines physiognomischen Gutachtens erneut: Nur so könnte objektiv festgestellt werden, ob B. die gesuchte Person 516 sei, ohne auf geheime «Erkenntnisse» abzustellen. Das Gericht sieht dafür keinen Anlass und ordnet kein Gutachten an.
Schliesslich werden A. und B. zu bedingten Freiheitsstrafen verurteilt: zu zwölf und sieben Monaten. Damit kamen sie im Vergleich zu einer 28-jährigen Beschuldigten aus derselben Prozessreihe noch glimpflich davon. Das Basler Strafgericht schickte die junge Frau für acht Monate unbedingt ins Gefängnis.
A. und B. verlesen im Gerichtssaal persönliche Erklärungen, in welchen sie auf die Gefahren durch erstarkende rechtsextreme Bewegungen hinweisen und historische Bezüge zum Nationalsozialismus herstellen. A. und B. sind linke politische Aktivisten, das ist klar. Ebenso klar ist: Auch politische Aktivisten haben durch die EMRK und die Bundesverfassung geschützte Verteidigungsrechte und Anspruch auf ein unbefangenes Gericht sowie ein faires Verfahren. Die besuchten Prozesse am Strafgericht Basel lassen nicht den Eindruck zurück, dass dies zurzeit am Basler Strafgericht gewährleistet ist.