Das Strafverfahrensrecht kennt kein grundsätzliches Verbot der Heimlichkeit und der kriminalistischen List. Dennoch ist gerade der Einsatz verdeckter Ermittler, um Beschuldigte in Untersuchungshaft auszuhorchen, sowohl in rechtsstaatlicher als auch menschenrechtlicher Hinsicht höchst bedenklich.
Weder die Strafprozessordnung (StPO) noch die Menschenrechtskonvention (EMRK) verwehren es dem Staat grundsätzlich, bei Vorliegen einer hinreichend klaren gesetzlichen Grundlage verdeckte Ermittler zur Aufklärung von bestimmten Katalogtaten einzusetzen. Selbst in Haftanstalten.
Selbstbelastungsfreiheit gehört zum fairen Verfahren
Jedoch hat sich jede Ermittlung innerhalb rechtsstaatlicher Bahnen zu halten. Die Wahrheitssuche darf nicht um jeden Preis erfolgen. Zu den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen wie den Methodenverboten des Artikel 140 StPO zählt auch das Missbrauchsverbot. Die Durchführung von Untersuchungshaft darf daher nicht zweckentfremdet werden, um einen Häftling polizeilichen Spitzeln auf dem Silbertablett zu servieren. Sie dient allein dazu, eine ordnungsgemässe Verfahrensdurchführung zu gewährleisten. Grenzen setzen der Zulässigkeit von Ermittlungen ferner die Grundrechte. Bundesverfassung und EMRK schützen die Selbstbelastungsfreiheit des Beschuldigten. Dessen Willensentschluss, in Vernehmungen zu schweigen und sich einer Mitwirkung an der Wahrheitsfindung zu verschliessen, ist als Grundvoraussetzung eines fairen Verfahrens hinzunehmen. Diese Selbstbelastungsfreiheit ist elementarer Ausdruck der Prozesssubjektstellung des Beschuldigten und damit eine tragende Säule eines liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Wenige Rechte symbolisieren die Abkehr vom verfemten Inquisitionsprozess so plastisch wie die Nemo-tenetur-Garantie. Nicht selten wird Schweigen die einzig aussichtsreiche Verteidigungstaktik sein. Nimmt man einem Beschuldigten in solcher Lage sein Schweigerecht, nimmt man ihm das Recht auf Verteidigung insgesamt.
Für die Strafverfolgung und wohl auch breite Gesellschaftsschichten ist der schweigende Beschuldigte eine Herausforderung, wenn nicht gar eine Zumutung. Und so überrascht es nicht, dass die Geschichte der Nemo-tenetur-Garantie eine Geschichte der Umgehungs- und Aushöhlungsversuche ist.
Spitzel aus dem gleichen Kulturkreis in der Zelle
Wie schon im Inquisitionsprozess behält der Beschuldigte in der Rechtspraxis seine Rolle als überragend wichtige Informationsquelle. Das gilt vor allem dann, wenn (scheinbar) alle anderen Ermittlungsoptionen ausgeschöpft wurden. So wie im jüngsten Fall einer Einschleusung ins Genfer Untersuchungsgefängnis Champ-Dollon. Die Staatsanwaltschaft hatte ihr Möglichstes getan, um ein Kapitalverbrechen aufzuklären. Sie konnte ihre kriminalistisch geschulte Verdachtshypothese gegen den Tatverdächtigen jedoch nicht entscheidend erhärten. Vor allem war die Leiche nicht auffindbar. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, wurde ein verdeckter Ermittler aus demselben Sprach- und Kulturkreis wie der Häftling in der Zelle untergebracht, wo er durch Aufbau und Ausnutzung einer Vertrauensbeziehung unter den psychisch und physisch massiv belastenden Wirkungen der Freiheitsentziehung Informationen zutage fördern sollte, welche der Verdächtige bis dato beharrlich verweigert hatte. Durfte die Staatsanwaltschaft so handeln?
Auf den ersten Blick ist die Sache eindeutig: Stellt ein verdeckter Ermittler dem schweigewilligen Verdächtigen unter der besonderen Zwangswirkung der Untersuchungshaft Fragen oder drängt er ihn sogar zu Auskünften, liegt darin eine Umgehung des Schweigerechts. Eine solche verdeckte Vernehmung führt zu einem Verwertungsverbot. Es ist daher bereits unzulässig, einen verdeckten Ermittler gezielt mit einem anderen Häftling zum Zweck der Ausforschung zusammenzusperren.
Inhaltlich diffuse Rechtsprechung
Auf den zweiten Blick ist die Antwort indessen alles andere als klar. Dies hat seinen Grund im Fehlen klarer gesetzlicher Regelungen zu den Grenzen von Spitzeleinsätzen und einer stark kasuistischen, inhaltlich diffusen Rechtsprechung. Die Spruchpraxis nationaler und internationaler Gerichte ist geprägt durch eine tendenziell verwertungsfreundliche Abwägung einer Vielzahl angeblich entscheidungserheblicher Faktoren – insbesondere auch die Ausnutzung von gezielt geschaffenen Vertrauensverhältnissen und der Zwangssituation in Haft. Nimmt man die einschlägigen Urteile genau unter die Lupe, stellt man fest, dass offenbar keiner dieser Faktoren allein ausreichen soll, um einen unzulässigen Eingriff zu begründen. Die publizierten Haftfälle zeichnen sich dadurch aus, dass die Zielperson aktiv vom verdeckten Ermittler befragt oder beharrlich bedrängt worden war. Einen Präzedenzfall zu einem passiven Zellengenossen, der sich investigativer Fragen enthält, findet man nicht. Sich ungedrängt entwickelnde Gespräche blieben danach mangels Umgehungs- und Zwangsmoment verwertbar.
Allem Anschein nach hat die Genfer Staatsanwaltschaft versucht, sich haarscharf an dieser Grenze entlang zu hangeln. Man darf angesichts solcher Justizrabulistik freilich hinterfragen, wie es um die zwingend zu schützende kommunikative Autonomie des Beschuldigten bestellt ist, dessen soziale Kontakte und Freiheit in Untersuchungshaft drastisch reduziert sind und der sich mit Ermittlungsbehörden konfrontiert sieht, die diese existenzielle Lage ausnutzen, um durch komplexe Täuschungen Vertrauen erst aufzubauen und dann zu hintergehen. Eine Differenzierung zwischen aktiver Befragung und sich frei entfaltender Kommunikation erscheint unter diesen Verhältnissen lebensfremd und rein praktisch nicht durchführbar.
Dass man überhaupt auf die Idee verfällt, dass ein solches Vorgehen mit der Selbstbelastungsfreiheit vereinbar sein könnte, findet seine Ursache darin, dass die nationale und europäische Rechtsprechung sie primär als Verfahrensgarantie für offene, amtliche Vernehmungen begreift. Heimliches Ausspähen durch den Staat soll ihren Schutzbereich nur berühren, wenn eine vernehmungsähnliche Situation vorliegt und unzulässiger Druck auf die Zielperson ausgeübt wird. Keines der beiden Kriterien ist in praktisch brauchbarer, grundrechtssichernder Weise substanziiert worden. Und so verwundert es nicht, dass die Verfolgungspraxis immer wieder versucht, durch Lücken im case law zu schlüpfen, oder dies vor dem Hintergrund des Legalitätsprinzips und menschenrechtlicher Untersuchungspflichten vielleicht sogar muss.
Darüber gerät freilich der Kern des Rechts aus dem Blick. Das Schweigerecht ist Ausdruck der Verteidigungsautonomie, die einem Beschuldigten gewährt werden muss, damit er Prozesssubjekt und das Strafverfahren gegen ihn fair sein kann. Das Ausspähen von Beschuldigten in U-Haft nimmt ihm dieses elementare Verteidigungsrecht und bereitet rechtsmissbräuchlichen Justizpraktiken den Boden. Es ist Ausdruck eines Prozessverständnisses, das seine Legitimation nur noch über Ergebnisse gewinnt; nicht aber durch die Beachtung schützender Formen und allgemeiner Verfahrensfairness.
Debatte über Verteidigungsrechte nötig
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es heute wieder erklärungsbedürftig geworden ist, warum Verteidigungsrechte und schützende Formen zu wahren sind und deren Anwendung gegebenfalls auch zu einem Freispruch einer hochgradig verdächtigen Person führen kann und können muss – selbst wenn diese womöglich ein abscheuliches Verbrechen begangen hat.
Wenn das alles im Einzelfall und zumindest bei mutmasslich schweren Delikten nicht mehr gelten soll, müssten wir als Gesellschaft eine offene, ehrliche Debatte darüber führen, ob wir ein solches Strafverfahrensrecht wollen und auf dem Boden unserer Verfassung rechtfertigen können. Ein Rechtsstaat trägt seinen Namen nur dann zu Recht, wenn er bereit ist, mit den Konsequenzen effektiv ausgeübter Verfahrensrechte zu leben – ja sie sogar als einen selbstverständlichen Ausdruck von Rechtsstaatlichkeit und damit als Selbstbestätigung anzusehen.